DAS WESEN DER CHINESISCHEN MUSIK

VON RICHARD WILHELM

Die Auseinandersetzungen der verschiedenen Kulturen zeigen auf der einen Seite immer deutlicher, daß ein gegenseitiges Verständnis der aus so ganz verschiedenen Wurzeln erwachsenen Menschlichkeitskreise längst nicht so einfach ist wie wohlgesinnter Optimismus das oft annimmt. Auf der andern Seite zwingt der Umstand, daß diese früher auf Hemisphären verteilten Kulturen in immer engere und mannigfaltigere Beziehungen zu treten im Begriff sind, dazu, nach Wegen zu suchen, dir dieses Verständnis ermöglichen. In dieser Perspektive soll hier das Problem der chinesischen Musik behandelt werden. Es heißt ja, die Musik sei dir Spraye des Herzens, die Weltsprache, die jeder fühlende Mensch versteht. Das ist sicher der Fall. Aber diese Sprache des Herzens muß dennoch gelernt werden. Sie ist nicht so unmittelbar, daß es genügt, den Laut zu hören, um ihn sofort auch innerlich ganz zu verstehen, sondern es bedarf der Gewöhnung und des Studiums, um durch das Trennende hindurch zu dringen und das aus den Tönen herauszuhören, was ursprünglich in ihnen schwingt, nicht das, was durch scheinbare Ähnlichkeit aus ihnen zu klingen scheint. Es heißt, die Musik sei der reichste und feinste Ausdruck eines Volkstums. Das ist eine Überzeugung,' die Konfuzius ebenso ausgesprochen hat, wie sie in Europa unter den Kennern selbstverständlich ist, denn die Musik geht aus Tiefen der Seele hervor, die nicht getrübt sind durch irgendwelche Vorstellungen. Sie zeigt die Seele in einem Zustand, da Bewußtsein und Unbewußtsein aneinander grenzen, da, wo die eigentlichen schöpferischen Tiefen sind.

Was ist nun die Musik in China? Was bedeutet sie im Leben Chinas? Die Musik ist in China nicht nur so alt wie die Geschichte, sondern sie geht mit der Sage in die graue Vorzeit zurück. Wenn wir den Überlieferungen über die Musik nachgehen, so finden wie eine Kunst, die ganz unmittelbar mit dem Tonschöpfer verbunden ist, die erdgeboren ist im tiefsten Sinn des Wortes. Sie gibt den Gefühlen, die noch nicht ins Bewußtsein getreten sind, einen Ausdruck. Sie gibt diesen Ausdruck in dem scharfen Klang, der unmittelbar erregend auf die Welt der Gefühle wirkt, und der in dieser Erregung den Menschen in eine ihm fremde und unbekannte Gegend der seelischen Sphäre führt. Diese Erregung äußert sich unmittelbar mit übermächtiger Gewalt im Tanz und rhythmischer Bewegung. Das ist die älteste chinesische Musik. Ihre Instrumente sind Trommeln und Pauken, Gong und Becken. Sehr viel Erdgebundenes ist in dieser Musik, von der die chinesischen Sagen berichten, und auch geschichtlich hängt diese Musik mit chthonischen Einflüssen zusammen.

Gegenüber dieser erdgebundenen Musik des Rhythmus entsteht zu einer bestimmten Zeit eine andere Musik, die sich zu jener chthonischen ungefähr so verhält, wie in Griechenland das Apollinische zum Dionysischen. Es wird berichtet, daß der Herrscher Shun die fünfsaitige Zither erfunden habe, die auf ältere Versuche komplizierterer Saiteninstrumente sich aufbaut. Diese fünfsaitige Zither ist ein heiliges Instrument bis auf den heutigen

Tag. Ihre Saiten geben einen Klang, der nicht sehr hörbar ist. Es ist ein ganz zartes Schwingen und die Töne werden dadurch hervorgebracht, daß der Finger die Saiten ganz leicht anschlägt und dadurch zum Tönen bringt. Die alten Saiteninstrumente hatten für jeden Ton eine besondere Saite. Das prinzipiell Neue an der Zither des Shun scheint gewesen zu sein, daß neben den leeren Saiten auch gegriffene Töne gebildet werden.

In dieser Musik, die weder durch Klangstärke noch durch faszinierenden Rhythmus wirkt, tritt eine neue Kunst auf. Ein Fremder hört von dieser Musik kaum etwas, sondern sie setzt voraus, daß ein Kontakt von Herzen zu Herzen schon vorhanden ist. Da, wo dieser Kontakt vorhanden ist, da rühren die Saiten die schlummernden Gefühle. Sie brechen nicht aus in wildem Tanz, sondern sie brechen aus in stillem Schauen. Klarheit, Licht, Würde sind es, die dieser Musik zu eigen sind. Die Sage ist voll von solchen geheimnisvollen Beziehungen von Mensch zu Mensch, da der eine Freund seinem Gefühle Ausdruck gibt in den Klängen und der andere aus diesen Tönen nun die intimsten Ereignisse heraushört. So wird jede feinste Regung der Seele von Freund zu Freund übertragen auf diesem geheimnisvollen Instrument. Die Seele breitet sich wie ein ruhiger See aus, in dem der Morgen sich spiegelt, und die Klänge der Zither dringen durch den Abend, suchen die Seele des Freundes der sie versteht. Rhythmus und Ton sind die Quellen auch der chinesischen Musik. Diese beiden Quellen sind nicht ewig getrennt, sondern sie fließen allmählich zusammen. Mit diesen verschiedenen Quellen der Instrumentalmusik kreuzt sich nun ein anderer Dualismus: der zwischen Volksmusik und Kunstmusik. Die Musik des Volkes gehört zum ursprünglichen Bestand der chinesischen Kultur. Von jeher haben die Vegetationsfeste in den heiligen Hainen bei den Dörfern eine große Rolle gespielt. Da wurden bei den heiligen Festen Tänze aufgeführt und zu diesen Tänzen erklang die Trommel und das Becken. Während es aber bei den Tänzen vorzugsweise die Instrumente sind, die den Rhythmus markieren - oder bei primitiveren Formen das rhythmische Stampfen und Klatschen, so finden wir doch auch bei den Tänzen schon sehr frühe das rhythmisch betonte Tanzlied. Solche gesungenen magischen Formeln, bei denen mehr der Rhythmus als der Sinn der Worte in Betracht kommt, finden wir noch unter den Stücken des Buchs der Lieder. Sie sind zum großen Teil Glücksprüche, die Kindersegen bewirken sollen.

Aber nicht nur zu den Tänzen am Erdaltar im heiligen Hain ertönen solche Gesangsrhythmen. Auch zur Arbeit, zum Spiel erhebt sich die Stimme. Und endlich entsteht auf diese Weise auch das Lied. Es werden Lieder gesungen, durch die der Einzelne dem Gefühl der Masse beim Zusammensein, beim Mahl und Spiel Ausdruck gibt. In diesen Liedern äußert sich die Seele des Volkes. Von altersher war diese Art der Volksmusik eine wichtige Erscheinungsform chinesischer Musik. Chinesische Herrscher des Altertums benützten sie, um die Unterlagen zu schaffen für die Regierungskunst, denn in diesen Liedern lag die Seele des Volkes dem, der zu lesen verstand, offen da wie ein Buch. Wer auf die Töne des Volkes zu horchen versteht, der weiß, ob das Volk im Frieden ist, wenn seine Töne heiter sind und Leben fördernd. Er merkt aber auch schon im Voraus, ob es da und dort in der Tiefe gärt und ab ein Zorn sich zu bilden im Begriff ist, ob Unreinheiten in der Luft liegen, die die Volkssitten verderben. Das alles spricht sich aus im Liede, denn nichts ist so offen wie das Lied, das unbewußte, das man singt, weil man nicht anders kann, in dem man dem Herzen Luft macht und die Gefühle in Tönen ausströmen läßt, ohne sich zu besinnen. Worte kann man beherrschen und verschweigen, aber was in Tönen sich äußert, das ist dem Kundigen offen. Auf diese Weise entstanden in China zu wiederholten Zeiten Sammlungen von Volksliedern, die von den Herrschern gesammelt und aufgezeichnet wurden als Urkunden über den Zustand der Volksseele. Eine solche Sammlung sind zum Beispiel die ersten Teile des Buchs der Lieder (Shi Jing), nämlich die Nan-Lieder und die Kuo Feng-Lieder. Die Nan-Lieder scheinen nach Liang Qi Chao vorzugsweise Reimsprüche gewesen zu sein, während die Kuo Feng-Lieder richtig gesungen wurden. Aber auch in späterer Zeit, unter der Han- und Tang-

Dynastie wurden Volkslieder gesammelt.

Neben dieser Volksmusik, die im Leben des Volkes zu allen Zeiten eine ungeheure Rolle gespielt hat, steht die Kunstmusik, die Musik der Weisen; denn die chinesischen Herrscher des Altertums waren eben sowohl Könige wie Weise, die es verstanden, den Sinn des Volkes zu erfassen und das Volk mitzureißen. Eine starke Persönlichkeit wird durch ihre moralische Kraft die anderen beeinflussen. Und auch hier wieder ist es die Musik, die die Gesinnung des weisen Herrschers ausprägt, und durch diese Gesinnung nun hinaus wirkt, wenn die Töne in der Luft erklingen, auf die Seele des Volkes.

Bei den uralten Opfern finden wir zu Beginn den Klang der Pauke, die mit ihrem dumpfen Ton die dunkle Erde verkörpert, das Weibliche, daß sich in der Tiefe regt; ihr antwortet aus der Höhe die Glocke, die das Himmlisch-Schöpferische, das lichte Element darstellt. So geht die Bewegung der Töne von der Erde zum Himmel, aus der Finsternis zum Licht. Wenn sich dann die Klänge von Pauke und Glocke mischen, so erlebt der Wissende die heilige Ehe von Himmel und Erde, der alle Geschöpfe ihr Dasein verdanken. Aus den kosmischen Welten kehrt dann der Blick zum Menschen zurück. Die heiligen Tänzer treten hervor, die zu den Rhythmen der Musik ihre magisch-wirksamen Bewegungen ausführen. Das Zeichen zum Beginn und zum Schluß der Musik wird durch zwei seltsame Instrumente gegeben: zum Beginn wird ein Holzgefäß mit quadratischem Grundriß mit einem runden Schläger von innen angeschlagen. Hier erlebt der Wissende das Geheimnis der Zeugung; die Musik die nun beginnt wird in diesem Moment aus den kosmischen Urkräften gezeugt. Das Zeichen zum Schluß wird mit einem Instrument gegeben, das die Form eines Tigers hat. Sein Rücken ist gezähnt und man fährt mit einem gespaltenen Bambus über die Zähne hin. Die Tanzenden halten als magische Geräte Flöte und Fasanenfeder in den Händen. Die Flöte, die innen hohl ist und durch den Atem zum Tönen kommt, ist das Irdisch-Körperliche, das durch den Hauch des Geistes zum Leben kommt. Die Fasanenfeder, in der der Vogel Phönix präsent ist, ist der Creator Spiritus, der von oben kommend als heiliger Vogel die Herzen seiner Gläubigen erfüllt. Die magischen Bewegungen stellen nun dar, wie das Himmlische zum Irdischen herniedersteigt, wie es sich unter das Irdische stellt, so daß beim Sinken des Irdischen und Steigen des Himmlischen die Beiden mit ihrem Auf- und Niedersteigen einander segensvoll durchdringen, bis sie dann im Kreuzeszeichen dargestellte geheimste Weltgesetze offenbaren. Dieser Segen wird dann durch weitere Bewegungen dem Weltall und aller Menschheit zugeeignet. Dies alles sind keine Symbole, diese Magie soll nicht etwas bedeuten, sondern sie ist wesentlich, ist unmittelbarer Ausdruck heiligen Geschehens.

Man sieht, weshalb Konfuzius überwältigt sprach: "Wer den Sinn der heiligen Opferzeremonien versteht, der erfaßt das Weltgeschehen, als bewegte es sich in seiner flachen Hand."

So sehen wir auf der einen Seite die Musik der großen Masse, die die Einzelnen mitreißt und ihnen das Gefühl der Gemeinsamkeit gibt, auf der anderen Seite die heilige Musik der weisen Herrscher, die von oben nach unten steigt und edel macht. Musik ist die Kraft, die das Menschenherz in seiner Tiefe zu erregen und zu gestalten vermag. Das ist die Anschauung des alten China über die Musik. Die Musik ist eine hohe Kunst, die zur Klärung des Menschenherzens geeignet ist wie nichts anderes. China kennt auch die andere Möglichkeit, Menschen zu gestalten durch Furcht und Hoffnung, aber die Weisen Chinas waren sich darin einig mit Goethe, der

Victor sprechen läßt: "Zwei der größten Menschenfeinde, halt ich ab von der Gemeinde." Diese beiden Menschenfeinde sind Furcht und Hoffnung. Furcht und Hoffnung können die Menschen bewegen, aber nicht gestalten. Und so war man auch in China der Meinung, daß Gesetz und Strafe nur dürftige Notbehelfe und, wenn es sich um die Gestaltung einer Kultur von innen heraus handelte.

Dagegen ist es die Musik, die jeder Bewegung den Rhythmus gibt, und dadurch die Regungen des Herzens formt und bildet. So ist es denn kein Wunder, daß Konfuzius die Musik in den Mittelpunkt seiner Regierungspolitik gestellt hat. Sein ganzes Leben war erfüllt von der Musik, und sein ganzes Bestreben war es, diese Musik nicht nur zu hören, nicht nur sich hinreißen zu lassen, sondern dieser Musik Einfluß zu geben auf die Gestaltung des Herzens, auf die Regung der Gedanken. Darum beruhte seine Reform zum größten Teil eben auf einer Reform der Musik.

Der Anteil, den er am Liederbuch (Shi Jing) hat, war allerdings wohl im wesentlichen nur, daß er die Melodien zu vielen dieser Lieder festgesetzt hat, sie gereimt und gestaltet hat aus den wahren Tiefen heraus.

Dennoch entspricht es der Wahrheit, wenn die Überlieferung dem Konfuzius eine besondere Beziehung zu diesem Buch der Lieder zuschreibt. Wenn seine Arbeit an diesem Werk im wesentlichen auf eine gründliche Redaktion beschränkt war, so hat er es doch in seiner Schule zum Gegenstand der Überlieferung gemacht, hat seine Jünger geübt im Singen und Spielen dieser Melodien und seine Belehrungen immer wieder an die symbolische Bedeutung der Gesänge angeknüpft. Und die Erhaltung dieser ältesten Quelle chinesischer Musik ist unzweifelhaft Verdienst der konfuzianischen Schule. Sein Glaube war, daß, wer dir Musik kennt und hört, dadurch ein musikalischer Mensch, ein Mensch der Harmonie wird. Es sind Überlieferungen vorhanden, die beweisen, wie ernst er es mit der Musik nahm. Immer wieder in entscheidenden Punkten seines Lebens flüchtet er zur Musik und findet in der Macht der Töne Beruhigung und Stärke

Darum ist es auch kein Wunder, daß Konfuzius sich so sehr bemüht hat, andere Töne durchzusetzen gegen die frivolen Melodien von Zheng und Wei, die damals Mode zu sein begannen. Das waren Melodien, die dem Ohr schmeichelten, und die Gefühle sanft erregten, aber nicht stark machten, sondern hineinrissen in sentimentale Traurigkeit oder in frivole Leich-tigkeit. Diese Klänge waren es, die er haßte und die er vernichten wollte. Er war sich zu sehr bewußt, wie diese Klänge auf die Seele des Volkes wirken. Hier gibt es nun einen merkwürdigen Unterschied: Nicht alle Musik, die traurig ist, wirkt erschlaffend.

In der russischen Musik z. B. offenbart sich die Seelentiefe dieses Volkes, und Melodien erklingen von einer ergreifenden Traurigkeit. Aber diese Traurigkeit hat nichts Erschlaffendes, sondern sie ist Naturklang, sie ist etwas, was den Menschen zwar freimacht, ihn aber nicht auflöst. Denn in dieser Traurigkeit ist doch eine Kraft. Aber es gibt eine andre, sentimentale Musik, deren Macht die Gefühle zerschmilzt und sie durch raffinierte Klänge fasziniert. Das ist die Musik, von der Konfuzius gesprochen hat, daß sie die Musik von untergehenden Nationen sei.

Ja, er ging so weit zu sagen, daß man an der Musik eines Staates erkenne, ab er im Aufstieg oder im Untergang begriffen sei. Und die Proben, die er gegeben hat, sind alle haarscharf genau eingetroffen. Nun ist allerdings hier ein Unterschied zwischen dem Osten und dem Westen. Denn der Osten zur Zeit des Konfuzius war noch so musikalisch, daß man aus der Musik tatsächlich noch auf das Leben schließen konnte. Wir im Westen halten unsere Herzen ja so verschlossen, daß nur noch die Beine dem Rhythmus der Musik gehorchen. Wir dürfen daraus, daß die Negermusik die eigentliche gegenwärtige Hoffnung des Westens darstellt, noch nicht schließen, daß unsere Herzen nun so rein und primitiv geworden wären, wie die der Neger. Also wir müssen da eine kleine Einschränkung machen in Bezug auf das Verhältnis von Musik zu dem Stand eines Volkes. Doch um zum Ernst zurückzukehren. Die Musik ist in Europa tatsächlich eine ganz andere Kunst, als in China. Es ist die Kunst der Neuzeit, vielleicht die einzige Kunst, in der die Neuzeit ganz Eigenes geschaffen hat. Sie bildet eine Welt für sich. Sie wird ausgeübt von Künstlern, die sich mit nichts anderem beschäftigen als eben mit der Kunst. Sie wird komponiert von Männern, die, während sie schaffen, abgelöst sind vom Leben und im wesentlichen damit beschäftigt sind, ihren Empfindungen im Ton Ausdruck zu verleihen und diese Töne aufzuschreiben, die andere aus den Zeichen wieder ins Leben erwecken. Hier liegt ein wesentlicher Unterschied zwischen der Bedeutung der Musik im alten China und der im modernen Europa. Aber auch in Europa war die Musik früher etwas anderes als sie heute ist. Auch in Europa war die Musik früher mehr mit anderen Kulturgebieten verbunden als heute, ähnlich wie das in China der Fall ist. Dieser wesentliche Unterschied darf nicht außer acht gelassen werden; denn er ist schließlich dir Grundlage der Entwicklung der Musik zur absoluten Kunst, die sie in Europa bildet. Und auch der Umstand, daß die chinesische Musik den Schritt zur Polyphonie nicht getan hat, die die wesentliche Eigentümlichkeit der europäischen Musik geworden ist, hängt wohl letzten Endes damit zusammen. Denn jede Kunst schafft sich den Ausdruck ihres Wesens.

Ohne Polyphonie hätte die europäische Musik den Reichtum und die Bedeutung nicht bekommen können, durch den allein sie die Berechtigung gewonnen, sich als freie Kunst der Welt nicht einzuordnen, sondern gleichberechtigt gegenüber zu stellen. In China blieb die Musik trotz ihrer ungemeinen Bedeutung für die Formung der Kultur doch letzten Endes in diesem Sinn gebundene Kunst.

Welche Rolle spielt nun die Musik im Leben des chinesischen Volkes? Gewiß gibt es in China große Unterschiede in der Musikbegabung und in der Liebe zur Musik, aber im allgemeinen kann man wohl sagen, daß die Liebe zur Musik in China sehr verbreitet ist. Auf der Straße kann man Bettler die Melodie der letzten Oper vor sich hin singen hören, und jeder Musikfreund wird von Zeit zu Zeit im stillen Raum zu seinem Instrument greifen. Der Held, der mit Zither und Schwert durch die Lande zog, war eine der beliebtesten Gestalten der chinesischen Romantik. Musik ist Heiterkeit. Diese innere Heiterkeit äußert sich im Wesen, sie äußert sich im Wort. Das ist die Welt, aus der chinesische Musik geboren wird.

Es gab früher einen Stand der Instrumentalmusiker. Es waren meist Blinde, die, ungetrübt durch die Außenwelt, den inneren Bildern auf den Saiten, in den Tönen Ausdruck gaben. Diese Blinden haben die Melodien gelernt, nicht nach Noten, sondern durch unmittelbare mündliche Überlieferung. Es hat lange gedauert, ehe man die Melodien in Noten festhielt. Es gibt heute jedoch auch eine chinesische Notenschrift, die so genau ist, daß ein Musikgebildeter nach diesen Noten ohne weiteres nicht nur die richtigen Töne absingen kann, sondern auch auf dem Instrument die richtigen Töne zu greifen imstande ist.

Was die Komposition der chinesischen Melodien anlangt, so entstanden diese Melodien ursprünglich mit den Worten des Textes zusammen.

Derselbe Künstler war Dichter und Komponist. Immerhin finden sich schon in sehr früher Zeit auch reine Instrumentalmelodien, die vom Orchester oder Soloinstrumenten gespielt wurden.

Auf der anderen Seite wurden auf bekannte Melodien später andere Lieder in großer Zahl gedichtet. Schon frühe gab es Dichter, die nicht komponieren konnten, und Tao Yüan Ming blieb nicht der einzige, der seine saitenlose Laute zu streicheln liebte, statt sie zu beziehen und auf ihr zu spielen. Es kommt dazu, daß die Lyrik in China schon sehr früh sich der Malerei zugewandt und mit ihr eine Ehe eingegangen hat, die ihrer Beziehung zur Musik nicht eben günstig war. Zudem wurde die Rhythmik und die innere Melodie der Gedichte so ausgebildet, daß sie an sich auch melodisch reich genug waren und der Vertonung nicht bedurften, ähnlich wie es Lieder von Goethe gibt, die durch Vertonung nur an ihrer inneren Melodie geschädigt werden.

Die chinesische Musik hat eine lange Geschichte durchgemacht, die leider zur Zeit noch nicht erforscht ist. In der Tang-Zeit z. B. ist nicht nur chinesische Musik verwendet worden, sondern die Musik der ganzen umliegenden Länder wurde mit herein genommen.

Neue Instrumente werden in China, besonders aus dem Westen, eingeführt, die Streichinstrumente und andere Instrumente. Diese Instrumente bewirken dann auch neue Melodien. Eine neue Kunst erwachte, die rasch zur Blüte kam. So entstand in der Yüan-Zeit das musikalische Drama und damit eine Kunst, die an die europäische Oper sehr nahe herankommt. Dagegen hat die Technik der Darbietung in China nicht die entscheidende Bedeutung gewonnen wie in Europa, wo sich ein Virtuosentum ausbildete, das soweit ging, daß es in manchen Ausläufern von der Kunst zur Kunstfertigkeit überging. Diese Entwicklung des Technischen hat die chinesische Musik nie mitgemacht. Technik ist für sie immer das zweite, Seele ist immer das erste. Man musiziert, um dem Ausdruck zu geben, was man fühlt. Das führt dann freilich dazu, daß technische Mängel ertragen werden, die es dem Europäer oft schwer machen, restlos zu genießen.

Heute steht China - ähnlich wie übrigens Europa - auch vor einem neuen Problem: Der Kreis des Alten ist erschöpft. Denn auch das musikalische Drama ist, nachdem im Lauf der Jahrhunderte eine große Anzahl verschiedener Formen und Stile des musikalischen Ausdrucks geschaffen worden waren, heute mit wenigen Ausnahmen doch stark von seiner ursprünglichen musikalischen Höhenlage herabgesunken. Und was musikalische Produktionskraft anlangt, zeigt sich seit einigen Jahrzehnten eine gewisse Ermüdung. Für die Erneuerung, die in China heute gesucht wird, sind mannigfaltige Quellen vorhanden. Die alte Musik, die im Lauf der Jahrhunderte merkwürdigerweise fast ganz verloren ging, wird jetzt wieder hervorgeholt und zu neuem Leben erweckt. Diese musikalische Renaissance in China hat schon auf sehr beachtenswerte Erfolge zurückzublicken.

Immerhin: es läßt sich wohl kaum sagen, daß diese Kunst heute schon zu einem mehr als akademischen Leben erwacht wäre, das dem Leben, das wiedererweckte griechische Chöre bei uns in Europa führen, wesentlich an Kraft überlegen wäre. Es ist auch zu zweifeln, oh dieser Weg über das rein Historische hinausführt. Die Zeiten und ihr seelischer Gehalt haben sich zu sehr geändert.

So bleibt als weiteres die Anregung durch die europäische Musik. Freilich sieht sich China hier schwierigen Problemen gegenüber. Europa kann mit Leichtigkeit durch Übernahme fremder Melodien immer wieder seinen musikalischen Bestand ergänzen. Denn alle diese Melodien lassen sich einfügen in seine polyphonen Werke. Aber das Umgekehrte ist nicht der Fall. China konnte zur Tang- und später zur Yüan-Zeit Instrumente und Melodien von seinen Nachbarn übernehmen, denn deren Musik lag - bis nach Persien hinein - ganz wesentlich auf derselben Ebene wie seine eigene. Ganz anders steht es Europa gegenüber. Will man von hier aufnehmen, so muß man eine vollständig neue musikalische Ausdrucksweise sich aneignen. Und wie nun, wenn diese Aneignung nicht nur unendliche Mühe, sondern auch seelische Umschichtung mit sich bringt: wird China trotzdem sein Eigenes wahren können? Wird es in der neu erworbenen fremden Sprache doch letztlich, seinem eigenen Empfinden Ausdruck zu geben, stark genug sein? Das sind Fragen, deren Entscheidung bei der Zukunft liegt. Immerhin hat China schon manchen solchen Umwandlungsprozessen gegenüber eine bewundernswerte Assimilisationskraft gezeigt. So ist zu hoffen, daß es auch die neue Musik sich aneignet, ohne sein eigenes Wesen zu verlieren.

 

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