Li Fang und die Akupunktur-Prüfung

Aus: Wallnöfer/Rottauscher: Der goldenen Schatz der chinesischen Medizin, Stuttgart 1959

Der junge Li Fang lag im Bett und seufzte. Während der ganzen Nacht hatte er kein Auge zugetan. Immer wieder waren ihm Bedenken gekommen, ob er beim letzten Examen nicht doch noch versagen werde. Er hatte zwar tags zuvor bei der mündlichen Prüfung alle Fragen, die man ihm aus dem Neijing, dem Bencao und anderen medizinischen Werken gestellt hatte, ohne Zögern zu beantworten gewusst. Auch seine Zusammenstellung von Rezepten für verschiedene Krankheitsfälle war zur allgemeinen Befriedigung des Professorenkollegiums ausgefallen. Heute aber kam das schwierigste und ausschlaggebende Thema an die Reihe: die Akupunktur.

Besorgt stand er auf, kleidete sich der Sitte gemäß in seine besten Gewänder und machte sich auf den Weg zum Prüfungsgebäude. Ernst und prüfend waren die Blicke der Professoren, als er den Saal betrat. beklommen sah er, wie ein Diener die Holzfigur, die jetzt sein Schicksal entscheiden würde, auf den Tisch stellte.

Er hatte sich zwar in den letzten Monaten die 365 Punkte gut eingeprägt und sich immer wieder darin geübt, mit einem raschen Stich der Nadel die richtige Akupunkturstelle zu treffen, jetzt aber, da die Figur, die man der Prüfung wegen mit Wasser gefüllt und außen mit Wachs überzogen hatte, vor ihm stand, verlor er wieder alles Selbstvertrauen, Wie einen bösen Geist starrte er sie an. Fast hätte er es überhört, dass sein Name aufgerufen wurde. Man befahl ihm, an den Tisch heranzutreten.

Der sehr ehrenwerte Professor, von allen Schülern als besonders streng gefürchtet, stellte rasch die erste Frage: "Wie behandelt man einen Patienten, dessen Nieren-Qi schwach ist, dessen Herzabschnitt der Zunge Schwäche anzeigt und dessen Cun-Puls gespannt wie eine Saite ist?"

Der Kandidat nannte die Stelle, und ein sichtlich wohlwollender Blick des Priifers gab ihm die Erlaubnis, den Einstich am genannten Punkt zu versuchen.

Li Fang nahm allen Mut zusammen, er fasste die Nadel, überlegte kurz und drückte sie durch das Wachs. Welch ein Glück! – Schon sprudelte Wasser aus dem Loch hervor: die erste Frage war richtig beantwortet! In rascher Folge vermochte er jetzt – durch das Gelingen der ersten Aufgabe ermutigt – alle anderen Fragen aufs Beste zu lösen.

Li Fang bestand das Examen und wurde das, was wir einen Doktor der Medizin und Facharzt für Akupunktur nennen würden.