DIE ACHSE DES LEBENS

von Erwin Rousselle

 

I. DER GÖTTERWEG

Betritt man die großen sakralen Anlagen der Chinesen, seien es nun Gräber, Tempel oder sonstige Kultbauten, so ist man in einer uralten, anderen Welt von bedeutsamer Schönheit. Ein "Götter- oder Geisterweg" (Shen Lu oder Shen Dao) führt in der Richtung der Weltachse von Süd nach Nord durch einen heiligen Hain zu der Opferstätte auf der Lichtung und zu der dahinter liegenden Stätte (Halle oder Grab) des göttlichen Wesens oder der Geister der Toten. Wasserläufe davor, Bergzüge im Hintergrund mögen außerdem noch das Bild einer solchen Anlage vervollständigen und ihr zugleich jene beziehungsreiche Umfriedung gewähren; und so unendlich mannigfaltig überdies im einzelnen die Anordnung, die Ausführung und das Verhältnis der einzelnen Teile zueinander sein mag, so sind es doch nur Variationen ein und derselben großen kultischen Idee, die in unvordenklicher Zeit entstanden in heiliger Überlieferung durch die Jahrtausende weiterlebt.

Ist hier unbewußt im Gedächtnis der Nation eine Erinnerung an die heiligen Gräber und Stätten der waldreichen Heimat der Vorzeit wirksam geblieben (wie wir sie ähnlich angelegt bei so vielen Völkern vergangener Zeiten finden)? Wir wissen es nicht, wir ahnen es nur. Viele, noch ungelöste Fragen tauchen auf, aber besonders eindrucksvoll und deutlich erkennbar erscheint uns in dem kosmischen Gefüge, in das jede solche sakrale Anlage Chinas einbezogen ist, die Richtung des "Geister- oder Götterweges" als Ausdruck der linea sacra des Weltalls (wie sie dem menschlichen Auge erscheint). Ja, so stark ist das Gefühl für diese Achse der Welt, daß selbst die buddhistischen Tempel der Chinesen zum großen Teil nicht von Ost nach West, sondern von Süd nach Nord gerichtet sind, und daß auch sie vielfach die Bezeichnung: Shen Lu "Götterweg" für die Tempelachse übernommen haben.

Dieser Götter- oder Geisterweg hat nun zweierlei Aufgaben: Einmal ist er der Weg, den diese Wesenheiten von Norden nach Süden zur Opferstätte nehmen, und überhaupt die Richtung, in der sie wirken, und andererseits ist er der Zugang zu ihnen, auf dem die Menschen von Süden nach Norden sich ehrfürchtig nähern. Der Nordstern steht ruhig an seinem Platz, und alle Gestirne blicken zu ihm hin, er ist der Thron des höchsten Wesens, und alles neigt sich vor ihm.

 

 

 

 

 

Aber dieser Götterweg ist eben auch zugleich der Weg des Menschen, auf dem er jenen Wesen begegnet. Dies ist zunächst in einem rein kultischen Sinne gemeint, nämlich daß er sich auf ihm zu Gebet und Opfer an die Gräber oder zu den Tempelhallen begibt, oder z. B. auch mit mehr oder minder ausgedehnter Feierlichkeit die Namenstafeln von Norden nach Süden in die unmittelbare Nähe der Opferstätte bringt und sie nach Vollzug der heiligen Handlung wieder zurück an ihren Platz in der Halle führt.

Die großen Steinplatten des Opferweges bilden also die Linie, wo das Jenseitige dem Diesseitigen begegnet und beide eine eigentümliche Gemeinschaft eingehen.

Diese uralten kultischen Ideen mögen von Zeit zu Zeit durch einen gedanklichen Überbau verdeckt und zurückgedrängt werden, der ganze Götterkult mag beseitigt, der Ahnenkult lediglich symbolisch-mystisch (nicht mehr magisch) und rein ethisch (als Ausdruck der Pietät) aufgefaßt werden – so vielfach im modernen China –, jedenfalls sind diese Ideen Ausdruck einer unendlich alten Erfahrung und einer sehr tiefen Schicht der Seele – vielleicht des Lebens? – und haben daher immer wieder zeugende Kraft.

So konnte sich denn auch eine sehr naheliegende Gedankenreihe an diesen Weg der Sterblichen auf dem Götterpfad anschließen, nämlich die der Annäherung an das Göttliche, Geisthafte, mit anderen Worten: die Idee der Vergottung. Nicht gerade in dieser Bedeutung, aber in der entsprechenden der buddhistischen Systeme wird der "Götterweg" vielfach symbolisch aufgefaßt. Der Gang zur Buddhahalle und zur Lehrhalle der Tempel ist allegorisch die Pilgerschaft des Menschen zur Erleuchtung und zum Nirwana. Der Götterweg ist also zugleich Geistespfad, der Heilspfad des Menschen. In der Mystik des Daoismus kann dieser Weg dementsprechend die Erlangung der Wiedergeburt, die Vergottung, die Dao-Werdung bedeuten. Nur der Konfuzianismus blieb solchen Umdeutungen fern und bewahrte die alte kultische Überlieferung mit einer gewissen formalen Treue. Gleichwohl ist ihm aber gerade jenes allmähliche Vorwärtsschreiten selber, auf einem geistigen Wege, ein geläufiges Stück seiner Überlieferung. Und hier scheint sich nun nicht nur die Achse und der Sinn des menschlichen Lebens zu enthüllen – nämlich der einer vorherbestimmten Reifung –, sondern damit zugleich der Einklang eines so gerichteten Lebens mit der Achse der Welt.

Damit eröffnen sich nun unendliche Ausblicke. Wir wollen im folgenden einige bedeutsame Erscheinungen aus der Fülle des Stoffs herausgreifen, um an ihnen jenen Weg des Geistes aufzuzeigen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

II. DIE REIFUNG DES KONFUZIUS

Der Meister sprach (Lun Yu II, 4):

"Als ich fünfzehn Jahre war, ging mein Sinn aufs Lernen,

mit dreißig stand ich aufrecht,

mit vierzig hatte ich keine Ungewißheit mehr,

mit fünfzig kannte ich des Himmels Fügung,

mit sechzig war mein Ohr bereitwillig,

mit siebzig kann ich dem folgen, was mein Herz begehrt,

ohne das Maß zu übertreten."

In diesem Bekenntnis des greisen Kong Zi, das uns eine Darstellung seiner inneren Entwicklung von seinem fünfzehnten Jahre an in sechs Stufen gibt, entfaltet sich vor unserem Auge in einem natürlichen Wachstum sein echtes Menschentum. Schon ist der Meister nur noch wenige Jahre von seinem Tod getrennt, und wie über einen Fremden berichtet er – völlig über der eigenen Person stehend – in knappen Worten die Stadien der Reifung, die er durchlaufen hat. Wieviel Erfahrung und Sinn für das Wesentliche gehörte wohl dazu, sein ganzes reiches Leben auf eine so kurze Formel zu bringen!

Es ist uns natürlich nur unvollkommen möglich, das hinter den knappen Worten des Konfuzius Gemeinte zu erfühlen, und es wäre ganz verkehrt, unsere abendländischen philosophischen Gedanken in diesen Spruch hineinzuverlegen. Wir bezweifeln, ob es die durch eine Entwicklung von Jahrtausenden getrennten heutigen Chinesen können, aber jedenfalls befinden wir uns auf der chinesischen Linie und dem Boden geistvoller Überlieferung, wenn wir den "Kommentar zu den vier klassischen Büchern in täglichen Erklärungen" befragen. Er ist vom Ri Jiang Guan, dem "Amt der täglichen Erklärungen", herausgegeben, das mit dem Unterricht an den Herrscher betraut war und von hervorragenden Gelehrten verfaßt und 1678 veröffentlicht worden. Zugleich besitzen wir dadurch die Gewähr, hier die große Tradition der Song-Schule von Zhu Xi vor uns zu haben, deren philosophische Bedeutung heutzutage gewöhnlich unterschätzt wird (ihre philologische Leistung steht auf einem anderen Blatt!).

Dieser "tägliche Kommentar" belehrt den Kaiser (und uns) über den Ausspruch des Meisters wie folgt:

"Dieser Abschnitt hat den Sinn, daß Konfuzius sein ganzes Leben bezüglich seiner geistigen Ausbildung selbst darstellt und damit den Erfolg, wie er durch allmähliche Entwicklung Fortschritte gemacht hat. Konfuzius sagt: Wenn ein Mensch das Lernen betreibt, dann muß er zuerst das Ziel feststellen, danach muß er es praktisch erproben, und schließlich führt das zur lauteren Reife. Man darf beim Fortschreiten nicht überspringen wollen, auch darf man nicht unterwegs aufhören. Daher heißt es: ,Seit meinem fünfzehnten Jahr ging mein Sinn aufs Lernen.‘ Dies ,Lernen‘ ist Lernen auf dem unbedingt zu befolgenden Weg Dao . Aber wie ist das Wissen Zhi zu erlangen? Und wie der entschlossene Wandel Xing? Durch Immer-hieran-Denken mußte er seine Vollendung erstreben. Aber dann richtete er sich auf das Dao, – aber er hatte das Dao noch nicht erlangt.

Vom fünfzehnten Jahre an vorwärtsschreitend bis bei Erreichung des dreißigsten machte er die Erfahrung, daß er das Dao erlangt hatte und dadurch schon ,selbständig stehen‘ konnte. Eigennützige (begehrliche) Gedanken konnten nicht mehr in ihn eindringen, und die äußeren Dinge konnten nicht mehr den Platz (des Dao) einnehmen.' – Er bewahrte es (das Dao) schon fest, aber seine Erkenntnis hatte noch nicht die durchgehenden Zusammenhänge erreicht, und das Bewahren entlieh seine Kraft noch von der Anstrengung.

Vom dreißigsten Jahre vorwärtsschreitend bis bei Erreichung des vierzigsten machte er die Erfahrung vom Dao, insofern es natürlich-spontan ist, daher gab es für ihn überhaupt ,keine Ungewißheit mehr‘. Berührte er das Grobe einer Angelegenheit, so sah er schon ihr Feines, berührte er das Sichtbare der Dinge, dann erlangte er schon den verborgenen Kern. Dies Wissen war klar. Aber er wußte nur, was es (das Dao) sein soll, vermochte aber noch nicht zu wissen, warum es so sein muß.

Vom vierzigsten Jahre vorwärtsschreitend bis bei Erreichung des fünfzigsten: Alles, was von der Fügung des Himmels dem Wesen gegeben ist und für die Dinge und Wesen der Grund ist, warum es so sein muß, das wurde ihm insgesamt bewußt. In die große Quelle der beiden Odem (des Yin und des Yang) drang er ein und vereinigte alle Zweige in ihrer einen Wurzel. Sein Wissen war durchaus in deren Wesen Xing eingedrungen. – Aber das Wissen (um das Dao), obwohl wesenhaft, entlieh noch immer seine Kraft vom Nachdenken.

Vom fünfzigsten Jahre vorwärtsschreitend bis bei Erreichung des sechzigsten machte er die Erfahrung von der Harmonie des Geistes Xin mit dem Weltprinzip Li und von der Vereinigung des Weltprinzips mit dem Geist. Sobald die Worte eines anderen in sein Ohr eingedrungen waren, so ging der Sinn der Worte schmiegsam in seinen Geist ein (d. h. er verstand alles intuitiv). Das Höchste des Wissens ist: ohne Nachdenken es haben! – Aber wenn auch, was er wußte, aus dem Natürlich-Spontanen hervorging, so ging vielleicht sein Wandel doch noch nicht ganz aus dem Spontanen hervor. Vom sechzigsten Jahre vorwärtsschreitend bis bei Erreichung des siebzigsten machte er die Erfahrung, daß das Hegen und Pflegen (des Dao) zur lauteren Reife und das in Grenzen halten und Regeln (des Wandels) jetzt Eins geworden war. Folgend dem ,Wollen des Herzens’ war er in der ,Großen Mitte’ Da Zhong und dem ,Höchsten Rechten’ Zhi Zheng. In keiner Weise veränderte er das ,Maߒ Ju, selbstverständlich übertrat er es nicht mehr. Wie hätte er noch von irgendeiner Verkrampfung abhängig sein sollen, um dadurch erst in der Mitte zu bleiben?

Vom fünfzigsten bis zum siebzigsten Jahre ist die Reihenfolge seines Fortschritts ungefähr so gewesen. Bei Konfuzius als einem Heiligen mit angeborenem Wissen und einem Wandel aus innerem Frieden heraus erduldete also seine Selbstveredelung durchaus keine Unterbrechung. Daher war auch sein Erfolg, daß er durch allmähliche Entwicklung das Höchste erreicht hat. Wenn nun jemand hofft, Heiligkeit zu erlangen, und hofft, vollendet zu werden, kann das nicht so geschehen, daß man zuerst sich das Ziel setzt und dann durch allmählichen Fortschritt hoffen kann, die Vollendung zu erreichen?"

Die Stufen der Reifung des Konfuzius, die uns hier in so tiefschauender und feinsinniger Weise näher beschrieben werden, sind als solche in China längst als der natürliche Ausdruck der Reifung jedes Menschen angesehen worden. Werden doch die knappen Formeln, die der Meister ausspricht, geradezu als numerische Bezeichnungen des Lebensalters des Menschen gebraucht!

Wenn wir dem Ansehen der "täglichen Erklärungen" folgen wollen und deren Aussagen noch einmal kurz zusammenfassen, so erhalten wir folgende Stufen der Reifung des Meisters;

1. Mit fünfzehn Jahren steht der Sinn aufs Lernen. Durch ständiges Denken an die Erlangung des Wissens und des rechten Wandels wird "gelernt". Dies Lernen ist vor allem gerichtet auf das höchste Ziel, auf das Dao, das ja die Wahrheit ist, aber er hat das Dao noch nicht.

2. Bei Erreichung des dreißigsten Jahres wird er selbständig, er "steht aufrecht", von inneren und äußeren Einflüssen wird er frei, er bewahrt jetzt das Dao, aber noch mit Anstrengung.

3. Mit vierzig Jahren erfaßt er das Dao als etwas Natürlich-Spontanes, so gibt es für ihn "keine Ungewißheit mehr", er sieht in die Tiefe aller Erscheinungen voller Klarheit. Er weiß jetzt, was das Dao sein soll, aber noch nicht, warum es so sein muß.

4. Mit fünfzig Jahren versteht er die "Fügung des Himmels" als die Ursache aller Dinge und Wesen. Damit wird sein Wissen wesenhaft, aber dies Wissen geht noch aus dem Nachdenken hervor.

5. Mit sechzig Jahren ist die Vereinigung von Geist und Weltprinzip erreicht. Jetzt versteht er mit "bereitwilligem Ohr" intuitiv auch die Menschen, sein Wesen geht selber aus dem Natürlich-Spontanen hervor. Aber sein rechter Wandel geht wohl noch aus der Anstrengung hervor.

6. Mit siebzig Jahren ist die Reife des Erkennens und der rechte Wandel eins geworden. Auch der rechte Wandel bedarf nunmehr keiner Anstrengung. Das Herz will selber nichts anderes mehr als das Rechte. –

Wohl auch ein abendländischer Geist von Niveau, wenn er nicht mehr in der ersten Jugend steht, sondern schon mancherlei Reifung erfahren hat und weiß, was dies bedeutet, wird sich dem Eindruck einer tiefen Erkenntnis unseres Lebensweges nicht verschließen können, die hier die konfuzianische Schule am Beispiele des Konfuzius ausspricht. Und wie natürlich, wie dem Leben abgelauscht ist hier alles. Und dabei, welches Wertlegen auf das Wegfallen jeglicher "Anstrengung"! Welch freier und edler Menschentypus wird uns von der konfuzianischen Überlieferung geschildert!

Birgt sich nicht in dieser Stufenfolge ein Geheimnis unseres Lebens, das bei anderen Völkern in der sozialen Einrichtung der "Altersklassen" seinen sehr deutlichen Ausdruck gefunden hat? Und auch im chinesischen Leben deuten gar mancherlei Einrichtungen, Gebräuche und Bezeichnungen auf Ansätze (oder vorzeitliche Rudimente?) einer derartigen Auffassung.

Die drei ersten Stufen, die Mannbarkeitswerdung mit fünfzehn Jahren und die Zeit bis zur Erreichung des dreißigsten Lebensjahres und von da bis zum vierzigsten Jahre, das der Chinese als besonderen Einschnitt empfindet, gehen in einem Rhythmus vom Lernen über die distanzierte Gesinnung des selbständig Gewordenen zur Klarheit über das Wesentliche und den Grund aller Erscheinung "ohne Ungewißheit". Das reife Mannesalter ist erreicht, die Läuterung des Menschen vollzogen. Mit den beiden nächsten Stufen bis zum sechzigsten Lebensjahre, das wiederum für den Chinesen einen Abschluß bedeutet, tritt nun das Überindividuelle in den Vordergrund. Die "Fügung des Himmels" als Grund alles Existentiellen wird hier erleuchtet erfaßt und endlich die "Vereinigung von Weltprinzip und Geist" erlebt. Hier tritt auch sofort die Durchdringung des Alltäglichen ein: das Ohr wird bereitwillig, die Mitmenschen intuitiv zu verstehen.

In einer letzten Altersreifung sind Idee und Verwirklichung, Erkenntnis und Handeln eins geworden. Das Herz will nichts anderes als das, was dem Maß (wörtlich dem "Winkelmaß") gemäß ist.

In einer wundervollen Reifung ist die Achse des Lebens mit der Achse des Weltprinzips zu restlosem Einklang gebracht.

 

III. DER HEILIGE HAIN

Wir halten einen Augenblick inne in unserer Betrachtung. Vom Götterweg, der für uns zugleich ein Weg des Menschengeistes ist, erblicken wir den heiligen Hain. Schon seit den ältesten Zeiten, so berichtet die chinesische Überlieferung, sind die Gräber der Toten und die Heiligtümer von immergrünen Bäumen umgeben. Selbst die buddhistischen Klöster haben den indischen Bodhi-Baum (ficus religiosa) durch die chinesische Kiefer ersetzt. Diese Sinnbilder eines ewig jungen Lebens grünen an eben den Stätten, wo der sterbliche Mensch mit dem Ewigen zusammentrifft. Im Umkreis und in den Höfen der Anlagen leitet dies sinnbildliche Stück Natur den Geist zu sinnender Betrachtung. Heißen doch auch viele buddhistische Tempel Shan Lin "Meditationshaine" (sa. dhyana-aranyaka). Der Wald ist etwas Heiliges, Natur in ihrer Reinheit. Die Genien Xian erleuchteter Weiser schweifen durch Berge und Wälder, der Ewigkeit zugewandt. Und das Zeichen eines gereiften Lebens über 60 Jahre ist die chinesische Sitte des Sichzurückziehens von den Geschäften des Alltags und des Amtes, das sogenannte "Sich-in-den-Wald-Zurückziehen" Ju Lin Xia, wie man sich symbolisch ausdrückt. Der Geist entledigt sich der Fesseln des Alltags, seiner Freuden und seiner Leiden, und wendet sich dem Überindividuellen, dem Dao, dem Sinn von Welt und Leben ganz zu.

Betrachten wir nun besinnlich das Bisherige, die Lebensweisheit, die uns der Spruch des Konfuzius mitteilt, so erhebt sich bei aller Einsicht, daß hier etwas Allgemeingültiges für den Menschen ausgesprochen sei, die Frage, ob hier nicht doch noch ein besonderes, individuelles Gepräge vorliegt. Und zwar ist zunächst einmal klar, daß nur ein bedeutender und gereifter Geist so sprechen konnte, daß also für alle dahindämmernden Seelen jenes innere Wachstum nicht mit jener Deutlichkeit hervortreten kann, wie hier die knappen Formeln die einzelnen Stadien des Werdens darstellen. Eine Verschiebung des mehr oder minder Deutlichen muß also von vornherein für jedes Individuum angenommen werden, auch wenn, wie schon oben gesagt, diese Formeln in China auf jeden Menschen zur Bezeichnung seines Alters in gehobenem Stil angewandt werden. Damit ist aber auch der Erwägung Raum gegeben, daß jenes gewissermaßen natürliche Reifen des Menschen durch die Stufenfolge seiner Altersklassen unter Umständen auch einen viel deutlicher betonten Rhythmus aufweisen kann, ja daß, je nach der Mannigfaltigkeit der Anlagen eines Menschen, der Lebensablauf in geradezu dramatischen Spannungen schwingen kann. Und erst bei der Beobachtung und Beschreibung eines solchen Lebenslaufes treten wohl die einzelnen Stadien ins volle psychologische Licht.

Eine Überlieferung, die sich auf der Erfahrung solcher Tatsachen aufbaut, wird daher noch viel exakter zu einer Seelenleitung imstande sein als die ziemlich allgemein gehaltenen Erkenntnisse, die uns bisher vorlagen. Je stärker also die Spannung zwischen natürlicher Aktivität und einer Neigung zur Introversion ist, um so mehr können psychologische Beobachtungen gemacht werden. Und wir alle fühlen wohl, wenn wir in unser eigenes Innere blicken – auch dies ein "Sich zurückziehen in den Wald" I –, daß alles, was im Menschen als Dämonisches und als Unheimliches lebt, bisher ebensowenig mit seiner ganzen Wucht zur Geltung gekommen ist wie andererseits dessen Ergänzung durch ein himmelstürmendes, geniales Gehen auf das heilige Letzte.

Hierin, in der dramatischen Bewegung zwischen Abgründen und Höhen, besitzt nun der Daoismus eine ausgesprochene Erfahrung, während der Konfuzianismus ja gerade das Geruhige, Ständige, das in seiner Auffassung Klassische vorzieht. Behalten wir vorläufig nur als ganz großen Rhythmus im Gedächtnis die Zeit bis zum vierzigsten Lebensjahre als eine Läuterung über Lernen, Selbständigwerden, "Ohne-Ungewißheit-Sein" über den Grund alles Geschehens, dann die erleuchtete Stufe des Verständnisses für die "Fügung des Himmels" bis zum fünfzigsten und die "Vereinigung von Weltprinzip und Geist", wodurch das "Ohr bereitwillig" wird, bis zum sechzigsten Jahre, worauf der letzte Einklang von Idee und Verwirklichung erfolgt.

 

IV. DAOISTISCHE VERWANDLUNG

Begeben wir uns nun auf das Gebiet des Daoismus hinüber, so betreten wir den Boden geheimnisvoller Mystik. Diese Mystik hat nun sicherlich das eine große Verdienst, eine Psychologie des Genialen in seinen verschiedenen Reifungszuständen erkannt und deutlich gemacht zu haben. Wir dürfen hier ein bedeutend tieferes Schürfen erwarten und zugleich mit der Vertiefung eine Annäherung an das allem Zugrundeliegende, Überindividuelle, ja Ewige – und dies alles in psychologisch verständlicher Weise.

Geheimnisvoll wird hier der Urgrund der Seele angerührt und neues Leben gestaltet. Aus einem tiefen Urwissen heraus, daß im Menschen das Ewige lebe, ist hier durch die Erfahrung der Jahrtausende eine Überlieferung herausgebildet worden, die das in jedem Menschen wirkende Übermenschliche, das äonenalte Leben selber, in beschreibbarer Entfaltung zu köstlicher Reife auf höchstem, geistigem Niveau gestaltet. Die Mittel dieser Entfaltung umspannen das ganze Sein des Menschen, seinen Leib, seine Seele und den Geist.

Betrachten wir nun den lebendigen Daoismus von heute, so stutzen wir jedoch zunächst vor der eigentümlichen allegorischen Sprache, in die diese Erberfahrung von der Reifung des Menschen eingekleidet ist. Neben den noch ziemlich leicht verständlichen Ausdrücken aus dem Gebiet der Philosophie finden wir Bezeichnungen aus der medizinischen Physiologie und aus der mit dieser innig zusammenhängenden Chemie, oder richtiger gesagt: Alchemie.

Die Verwandlung des Menschen von der Unreife zur Reife schließt, wie schon oben angedeutet, auch das Physiologische und das mit diesem zusammenhängende Triebleben mit ein. Aus dem "Wasser" des feurigen Eros und aus dem "Feuer" des meerestiefen Geistes Logos – so werden wir belehrt – entsteht der neue Mensch. Das "Lebenselixier" ist nicht ein im Laboratorium chemisch gewinnbarer Stoff, sondern strömt in uns als innere Sekretion und wird durch eine Alchemie des Leibes und der Seele (wobei beide in vollkommener meditativer Ruhe sein müssen) "als flüssiges Gold getrunken", d. h. zum Gehirn "emporgezogen" und zum Geiste sublimiert.

Das ist die wahre Panazee, die die Lebenskraft stärkt und das Leben verlängert, Eine gefährliche Schulung, die die daoistische Tradition überliefert! Und man versteht, warum die daoistischen Bünde und die Schriften der Meister mit dem Geheimnis des Unverständlichen und Vieldeutigen umgeben sind, denn der Nichteingeweihte soll abgehalten werden, gefährliche Wahrheiten zu entdecken, die ihm ohne Leitung durch einen Erfahrenen nur zum Schaden gereichen können. Auf der anderen Seite hat sich durch eben jene alchemistische Einkleidung physiologischer und seelischer Vorgänge eine Chemie der "Sudelköche", wie unsere abendländischen wahren Alchemisten sich ausdrückten, entwickelt, eine Alchemie der "Toren" Yu Ren, die da glaubten, durch Zusammenbrauen aller möglichen Medikamente und des Zinnobers das Lebenselixier finden zu können. Wieviel Kaiser der chinesischen Geschichte sind nicht durch Einnehmen solcher Elixiere gestorben!

Doch genug hiervon! Das Wesentliche liegt woanders, im Ethischen und im Metaphysischen. Das Ziel ist die Wiedergeburt, die Geburt des himmlischen Menschen in uns. Außer dem Strom der "Keime" Jing und des "Odems" Qi gibt es das Strömen des "Genius" Shen in uns! Über die Lenkung und Verwendung dieser drei Ströme He belehrt uns die "Pflege des Lebens oder der Lebenskraft" Ming Gong. Dem steht gegenüber die "Pflege des Wesens" Xing Gong, die die sittliche Vervollkommnung und die geistige Vertiefung bringt. Die Meditation bildet bei der "Pflege des Lebens" das alleinige Mittel, bei der "Pflege des Wesens" ein bedeutsames. Darüber steht als drittes und letztes die Vereinigung mit dem ewigen Sein. Die Reifung oder Verwandlung des Menschen vollzieht sich also in drei großen Stufen:

I. Ren Dao, das "Dao des Menschen", die Stufe der "Pflege des Lebens" und der sittlich-geistigen Läuterung.

II. Xing Dao, das "Dao des Wesens", bei der das unvergängliche Wesen des Menschen gewonnen wird. Von jetzt ab beginnt die "Pflege des Wesens" gegenüber der des "Lebens" stärker hervorzutreten, alles ist auf die Stufe eines erleuchteten Zustandes gehoben.

III. Tian Dao, das "Dao des Himmels", die Vereinigung des ewigen Menschen mit dem Himmel, mit dem Grunde der Welt.

Wir finden in diesen drei Stufen eine Parallele zu dem Entwicklungsgang der Persönlichkeit des Konfuzius, aber erhoben ins Allgemeingültige und Ewige. –

In neuester Zeit hat nun Herr Professor Miao Chuan (Miao Dschuan) eine kurze Darstellung des ganzen Weges der Reifung und einer entsprechenden Seelenführung als Manuskript geliefert. Hoffentlich ergibt sich die Gelegenheit einer umfassenden Bearbeitung dieses Textes. Das Folgende mag als eine kurze Andeutung des Inhaltes zugleich unter Einordnung in die mir bekannte lebendige Überlieferung gelten.

 

I. Stufe: Das Dao des Menschen

1. Die "Gold-Pille" Jin Dan: Das "Gold" bedeutet das Harte, Unvergängliche in der Welt und im Menschen. Die "Pille" (zugleich "Zinnober" bedeutend!) das Runde, Fehlerlose eben dieses Unvergänglichen. Die "Gold-Pille" ist also das wahre Wesen Xing ÐÔ , die ewige Natur des Menschen. Von hier muß ausgegangen werden.

2. "Das Herz des Himmels und der Erde" Tian Di Zhi Xin: In unserem Geiste und Gewissen ist der Einklang des Unendlichen, Himmlischen, Schöpferischen mit dem Endlichen, Irdischen und Empfangenden gegeben. Dieser harmonische Zustand von Yang und Yin, von Männlich und Weiblich, von Aktivität und Kontemplation entspricht einer Meditationsstufe, auf der "Erscheinung" und metaphysische "Leerheit" einander decken. Dieser Zustand ist, wie wenn "in einem leeren Zimmer etwas Weißes entsteht oder es in der Finsternis plötzlich hell wird."

3. "Der Neumond-Ofen" Yue Po Lu: Wenn der Mond die größte Verdunkelung erreicht hat, wird es wieder hell. Ebenso entsteht in einem ruhig gewordenen Gemüt, in unserer Tiefe durch Einwirkung des Glanzes unseres wahren Wesens so etwas wie der Beginn einer neuen Erweckung, ein Lichtwerden: der "Neumond", auch das "Dao-Herz" Dao Xin genannt. Der "Ofen" (der Athanor der westlichen Alchemisten!) ist der Mensch selber. In ihm muß das wahre Feuer brennen und die Erleuchtung strahlen. – In der Meditation tritt jenes gelinde Feuer auf. Die vorhergehende Stufe wird zugleich metaphysisch vertieft.

4. "Der Zinnober-Dreifuß" Dan Ding: Zinnober ist die Farbe des Feuers. Das Feuer schmilzt alles, es läßt das Alte vergehen und Neuartiges sich aus ihm entwickeln. Das Feuer des Urgeistes Yuan Shen durchglüht lebenswarm den Menschen. Das Alte muß schmelzen.

5. "Das Xuan Pin-Tor" Xuan Pin Men: Ein Zustand wird erreicht, der als Knotenpunkt von Ruhe und Bewegung bezeichnet werden kann. Die Anspielung auf die 6. Ode des Lao Zi über das Xuan Pin "die geheimnisvolle Tiergöttin" (unter Gleichsetzung dieser mit dem Dao) wird hier in der bekannten, späteren Kommentarrichtung (He Shang-Gong) gegeben, wobei Xuan als Yang, stark und beweglich und Pin als Yin, weich und ruhig gilt. Nicht eine Atemtechnik ist hier gemeint (wie einige wollen), sondern ein Leiten des Feuers durch männliches Yang und weibliches Yin.

6. "Der einzige Eingang des geheimen Passes" Xuan Guan Zhi Yi Men:, auch "Tor des Lebens und des Todes" und "Weg des Kreuzes" (wörtlich des Zeichens Shi) genannt. Die vorhergehende Stufe metaphysisch erhoben.

7. "Der Tal- Geist" Gu Shen, vom Volk das "Felsenkind" genannt: Wiederum eine Anspielung auf die berühmte 6. Ode des Dao De Jing. "Wenn man ruft, so kommt sofort das Echo, daher heißt es der Tal-Geist". Inmitten der Schmelzung des Alten, des Sterbens, des natürlichen Menschen wird die Empfänglichkeit für den Keim eines neuen Lebens erreicht.

 

II. Stufe: Das Dao des Wesens

8. "Goldener Dreifuß" Jin Ding und "Jade-Ofen" Yu Lu: Gold und Jade entsprechen einander wie Männlich und Weiblich, wie das Yang und das Yin im Weltall. Aus ihren harten und weichen Kräften geht der neue Mensch hervor.

9. "Die Freude der Krähe und des Hasen" Wu Tu Zhi Le : Nach den alten Sagen gibt es in der Sonne eine goldene Krähe Jin Wu: das ist das Yin innerhalb des Yang; und im Mond einen Jade-Hasen Yu Tu: das ist das Yang innerhalb des Yin. Die "Weichheit in der Stärke" und die "Stärke in der Weichheit" ist das Zeichen des neuen Menschen, das Merkmal der "Pille" Dan (des Zinnobers) oder der "roten Tinktur".

10. "Zusammentreffen von Drache und Tiger" Long Hu Hui: Der Drache ist ein Symbol des Göttlich-Schöpferischen, des Männlich-Geistigen, der wahren Natur des Menschen, aber er ist "weich". Der Tiger ist ein Symbol des Vernichtens, der sinnlichen Natur des Menschen, aber er ist "stark". Die Harmonisierung von Geist und Sinnlichkeit durch eine Art Überkreuzung wird hier in einer unio mystica innerhalb der Psyche erreicht. Diese innere Vereinigung heißt daher auch "Hochzeit".

11. "Vertauschung des Abgründigen Kan und des Leuchtenden Li " Kan Li Jiao: Das abgründige Wasser-Element Kan Shui und das leuchtende Feuer-Element Huo Li durchdringen sich gegenseitig. "Mit dem heiligen Wasser des Dao-Herzens und der wahren (ewigen) Weisheit heilt man das Dämonsfeuer des menschlichen Herzens und der psychischen Klugheit."

Dies ist der Zustand des Beginns der Wiedergeburt, der auch genannt wird der "Säugling" Ying Er, die "Jungfrau" oder das "rote Quecksilber" Chi Hong.

 

 

12. "Die Umkehrung der Reihenfolge der fünf Elemente" Wu Xing Huan Fan: Die eigentliche Reihenfolge der Elemente ist: Aus Holz entsteht Feuer, aus Gold (Metall) entsteht Wasser usw. Bei der Umkehrung der Reihenfolge heißt es: Aus Feuer entsteht Holz, aus Wasser entsteht Gold (Metall). Dies Holz und dies Feuer ist ewig unverwüstlich. Das aus dem Feuer entstandene Holz deutet die ewige, geläuterte Natur des neuen Menschen an, das aus dem Gold (Metall) entstandene Wasser den makellosen Eros, die "staubfreie Sinnlichkeit".

 

III. Stufe: Dao des Himmels

13. "Die gelbe Frau vermittelt die Verlobung": Die "gelbe Frau", die Erdmutter Tu Mu, harmonisiert alles. So durchdringt der wahre Wille Chen Zhi und das wahre Wesen Zhen Xing des Menschen sein ganzes Gemüt und führt es zum Übergegensätzlichen.

14. "2 mal 8, die beiden Bogensehnen": Die Bogensehnen beziehen sich auf den schmalen Streifen Lichtes am Rande des Mondes kurz nach oder kurz vor dem neuen Mond. In diesem Spiel von Hell und Dunkel entsteht aus 2 mal 8 Unzen ein Ganzes (1 Pfund). Dies bedeutet das Ende aller Einseitigkeit, den Besitz der "höchsten Mitte" Tai Ji.

15. "Die Hexagramme des Feuer-Zustandes": In Anlehnung an das "Buch der Wandlungen" Yi Jing erfolgt die souveräne Regulierung von Yin und Yang einerseits, von schöpferischer Indifferenz andererseits.

16. "Der Eingang des Handelns": Die neue Persönlichkeit wird empfangen.

17. "Das Geheimnis des Nichthandelns": Der Mensch schaut das Geheimnis beim Schweigen seiner Wünsche. Der "heilige Embryo" Sheng Tai, die sich bildende überindividuelle Persönlichkeit wächst.

18. "Sich Verbergen im Gewöhnlichen und Harmonisieren mit dem Licht": Hineinwachsen in die Ordnung des Weltganzen. Sich in der Volksmenge verstecken, um nicht erkannt zu werden. Harmonisieren mit dem Licht, aber ohne sich gleichzusetzen mit dem Licht, d. h. "in der Welt sein und doch außerhalb der Welt sein".

 

19. "Die Arzeneien ins irdene Gefäß tun": In der Erde wächst der Keim, so wächst auch im Menschen die neue Persönlichkeit unter der milden Pflege der Arzneien heran, von der Gesinnung der Welten-Mitte und der ethischen Mitte her muß gelebt werden.

20. "Die Heranbildung des heiligen Embryo" Sheng Tai durch Gesammeltheit ohne Zerstreuung: Im Zustand des Kindes ist die Erreichung des Grundes der Welt möglich.

21. "Des Säuglings Geburt": Das Hervorkommen des Säuglings heißt die "Verwandlung" Hua des heiligen Embryos. Der neue Mensch (mit einem buddhistischen Ausdruck: der Dharma-Leib Fa Shen) ist geboren. Der ewige, weltüberlegene Mensch ist da und "gleich alt wie Himmel und Erde, wie Sonne und Mond".

22. "Die Versetzung des Ofens und die Auswechselung des Dreifußes": Das große Dao ist vollendet, der Mensch ist selber zum himmlischen Dao geworden, die unio mystica ist erreicht. Nunmehr kommt die Wendung zum Alltag. Außer der eigenen Person gibt es noch andere. Ja, Geist und Erscheinung sind gleichviel wert. So nimmt man die Stellung der großen Heiligen ein.

Der Urgrund der Welt, "die große Leerheit" Da Xu, ist der Dreifuß, und das "Nichthandeln" Wu Wei ist der Ofen. Alles bis dahin in der Reifung so Notwendige wird beiseite geschoben, ist zu nichts mehr nütze, weder Männliches noch Weibliches, weder Dreifuß noch Ofen, weder Zinnober noch Neumond, noch irgend welche Arzneien. Allein der "Dharma-Leib", die wahre ewige Persönlichkeit des Menschen, wird nunmehr gebraucht. Je "leerer" er ist, um so genialer ist er. Wer so sich verwandelt hat, der ist "ein Genius, der nicht mehr gemessen werden kann".

– Wer zum erstenmal die Beschreibung dieser mystischen Reifung in zweiundzwanzig Stufen – einer hochheiligen Zahl des Universums – erfährt, dem mag es wohl vorkommen, er sei wie jene Ausgraber in die überschütteten Kammern und Säle einer pompejanischen "Villa der Mysterien" gelangt, und der Geist ruht nun sinnend auf den allegorischen Wandgemälden der Räume. Uralte Weisheit schimmert mit ihrer ungeheuren Erfahrung von der Menschenseele und ihrer Reifung durch die seltsamen Sinnbilder, durch die gleichnishaften Sätze und durch die mythischen Zeichen hindurch.

Wie orphische Urworte ertönen da all jene beziehungsreichen Klänge von der ewigen Natur des Menschen, von seinem Yin und Yang, vom Lichtwerden im Inneren, vom Feuerofen, vom Sterben des alten Menschen im Feuer, vom Tor des Lebens und des Todes; und dann von der Überkreuzung von Yang und Yin, dem Zusammentreffen des Drachen und Tigers, des Feuers und Wassers und von der Umkehr aller Elemente; und endlich von der Übergegensätzlichkeit, der heiligen Mitte, vom wundersamen Werden eines neuen Menschenkindes, von seinem Wachsen und Hervortreten als vollendeter Genius "gleich alt wie Himmel und Erde, wie Sonne und Mond", von der Vereinigung mit dem Urgrunde und der Rückkehr des Wiedergeborenen zum Wirken im Alltag ......................

 

 

Zunächst scheint alles nur dem Eingeweihten verständlich. Aber Einweihung geschieht in daoistischen Bünden durch meditative Erfahrung (nicht lediglich durch Riten). Wenn auch nicht alles – wegen seiner Gefährlichkeit – für jedermann gedeutet werden soll, so erschließt doch ein Durchmeditieren der oben dargestellten Überlieferung dem Verstehenden die Tiefe der Erfahrung, die Weisheit der Seelenführung, das Allumspannende und Souveräne, das diese Geistesrichtung will und das ihr eigentümlich ist. Die Stimme der ewigen Wahrheit tönt uns hier bald mit ihrem donnernden Sphärenklang, bald mit geheimnisvollem Raunen entgegen und kann von keinem schweigend Lauschenden überhört werden. Sapienti sat!

 

V. DIE OPFERSTÄTTE

Vergleichen wir nur einmal den ersten Eindruck der daoistischen Verwandlung des Menschen mit den Stufen der Reifung des Konfuzius, so fällt – abgesehen von der mysterienhaften Einkleidung – sofort das dramatische Moment der Bewegtheit gegenüber der ruhigen, stetigen Entwicklung des Meisters auf. Er entfaltet sich ganz

natürlich, halb unbewußt, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt zu innerer, höchster Reife emporwachsend. Aber es ist wie ein naturhaftes Geschehen, gleich wie ein Baum Jahresringe ansetzt und immer mehr erstarkt. In der daoistischen Fassung dagegen treten Himmel und Erde, Geist und Sinnlichkeit, Yang und Yin in fruchtbare Spannung, ja der natürliche Mensch wird zum Opfer gebracht, er muß am Ende des ersten Entwicklungsabschnittes im Feuer sterben. Dann aber tritt die innere "Hochzeit" aller Gegenkräfte ein, und aus ihr entsteht ein neuer Mensch, der mit dem Weltgesetz, dem Dharma, eins ist. Hier gibt es kein gleichmäßiges Reifen und Wachsen mit ziemlich undeutlichen Bestimmungen, sondern ein dramatisches "Stirb und werde!" mit feinster psychologischer Ausfeilung, soweit das natürlich auf diesem Gebiete, das den ganzen Menschen – und gerade auch sein Abgründiges – umspannt, möglich ist.

Gemeint ist letztlich wohl das Gleiche, die Entstehung des "Heiligen Menschen" Sheng Ren, aber die Klangfarbe der daoistischen Richtung geht aus von einer ungeheuren Kenntnis der menschlichen Seele in allen ihren Tiefen. Da aber gerade diese bewußt mit einbezogen werden, so ist auch das "Sterben des eigenwilligen, natürlichen Menschen" zugunsten einer sinnvollen Leitung durch den Wiedergeborenen, durch den neuen Menschen, welcher Höhe und Abgrund in sich vereint, treffende, tiefer schürfende Bezeichnung. Das Opfer muß gebracht werden, damit die mystische Kommunion stattfinden kann. Denn Opfer und Opfermahl gehören seit unvordenklichen Zeiten untrennbar zusammen.

Wenn in den Familientempeln zu den Allerseelenfesten im Frühjahr und Herbst der älteste Sohn der ältesten Linie den Ahnen das Opfer bringt, wenn der Sohn seinem verstorbenen Vater nach dem Tode und kurz vor der Beerdigung opfert, wenn am Grabe ein Nachkomme den Vorfahren eine besonders wichtige Mitteilung, z. B. seine Ernennung zu einem hervorragenden Amt oder Titel, macht, so bringt er auch Wein und Fleischspeisen wie einem Lebenden dar. So tat auch der Kaiser, der dem Himmelsgott auf der obersten Terrasse des Himmelsaltars, des "runden Hügels", opferte. Inmitten dieser Zeremonien aber geht das Opfer (sacrificium), das durch die Teilnahme der Jenseitigen geweiht wird, in ein Mysterium (sacramentum) über.

Der Zelebrant genießt selber etwas von dem "beglückenden Wein" und dem "beglückenden Fleisch" und tritt so in die Kommunion einer heiligen Tischgemeinschaft mit dem Toten (oder der Kaiser im obigen Beispiel mit dem höchsten Gott). Die Weihe, die die Speisen durch die Darbringung von den ewigen Mächten des Jenseits erhalten, teilt sich auch dem Kommunikanten mit, ja alle Familienmitglieder (beim Kaiser auch die hohen Beamten), die nach Schluß der Feier am Opfermahl Teil erlangen, werden der segenbringenden Wirkung des Trankes und der Speise teilhaftig. Das Opfer geht über in eine Kommunion, und so eben ist auch der Opfertod des alten, natürlichen Menschen – des Menschen Inneres ist die wahre Opferstätte! – die Einleitung zu der allmählichen Wiedergeburt und zur unio mystica mit dem Weltprinzip.

 

VI. DER PFAD DER BUDDHISTEN

Die Anhänger Buddhas sollen kein Fleisch essen und keinen Wein trinken. Die großen feierlichen Überlieferungen und Riten einer ehrwürdigen Vorzeit, wie sie bei den chinesischen Familienopfern und Staatsopfern zum Ausdruck kommen, sind daher für die Buddhisten nicht vollziehbar. Tee und vegetarische Speisen sind eben doch kein vollkommener Ersatz, wenn nicht von altersher eingeführt. Die Ansätze zu einem großen buddhistischen Kommunionsritus haben sich nur sehr unvollkommen entwickelt. Die Teezeremonie in Japan ist ein Nachklang und eine einseitige Fortentwicklung chinesischer Vorbilder, die gestifteten Essen für Mönche beim Lesen der sogenannten "Totenmesse" und ihr Verzehren (unter Hinzuziehung der Verwandten des Verstorbenen) eine fragwürdige Parallele. Von lamaistischen Entwicklungen kann hier abgesehen werden.

Fehlt also hier eine vergleichbare starke Tradition eigenen Kultes, so ist gleichwohl die Darlegung der inneren Reifung des Menschen in verschiedenen Stufungen von Anfang an ein Kernstück des Buddhismus gewesen, nämlich der Lehre Buddhas selber.

Es scheint, daß der Buddha zum Beginn seiner Lehrtätigkeit diesen edlen Pfad als "achtfachen" lehrte, auf den dann als Krönung – gewissermaßen als neunte und zehnte Stufe – "Erkenntnis" und "Erlösung" folgten, während er gegen Ende seines Lebens den achtfachen Pfad in die beiden großen Stufen "sittliche Zucht" und "Meditation" untergeteilt hat. Wir haben damit die für den alten Buddhismus klassische Formel der inneren Entwicklung des Menschen: "Zucht, Meditation, Erkenntnis, Erlösung."

Diese knappe, ja etwas nüchterne Definition paßt ganz zu dem sonstigen Geist, den uns die Lehrreden des Buddha vermitteln. Diese Texte – ganz gleich, wieviel davon apokryph ist – stehen eben noch ganz unter dem Eindruck der einzigartigen Persönlichkeit des Buddha und dem, was er als Ansätze einer Lehre hinterließ. Wie es so oft die Geschichte der Religionen zeigt, wird von einer überragenden Gestalt ein geistiger Überbau geschaffen, der durchaus ganz der Person ihres Urhebers entspricht und durch das überlegene geistige Niveau mit einem Ruck das reiche bisherige religiöse Leben, das freilich anfing zu veräußerlichen und zu verdämmern, überwindet, nun aber zum allein zu befolgenden Weg wird, – die Wurzeln in der Tiefe scheinen nicht mehr zu existieren.

Bis dann langsam der Mangel an Mannigfaltigkeit, Tradition und Breite durch den nie ganz zu unterbrechenden Strom eines tiefen Lebensgefühles ausgefüllt wird und das vorher Einseitige zu ökumenischer Reife gedeiht. Nachdem erst einmal die buddhistische Entwicklung in ihrem Erkenntnisdrang und der Not, die vielen von Buddha offen gelassenen Fragen zu beantworten, zu jenem absoluten Nullpunkt der "Leerheit" und der Fraglichkeit aller Gegebenheiten und Erkenntnisse gekommen war, war nun umgekehrt auch alles und jedes relativ gleichwertig und positiv bejahbar. Die Entfaltung der buddhistischen Mystik beginnt, und die "Leerheit" wird jetzt etwas sehr Positives, nämlich das Übergegensätzliche, das die ganze Vielfalt der Erscheinungen überspannt. Alles findet nunmehr hier eine Heimstätte, wenn es nur tief genug verstanden werden kann.

Die großen indischen Überlieferungen der Logik und Philosophie, aber auch des Yoga und der Magie fügen sich in das weltumspannende Gedankengebäude, mehr noch in das Lebensgebäude und die tatsächliche Erscheinung der Richtungen des Mahayana-Buddhismus ein.

Was strömt da nicht nur alles in neuer vertiefter Deutung ein, sondern fließt auch über die Wälle der eigenen Welt hinaus und befruchtet den Boden der anderen Religionen, so des Daoismus, aber auch des Konfuzianismus. Der daoistische Weg der Verwandlung verwendet eine ganze Reihe buddhistischer Ausdrücke; und es ist charakteristisch, daß der Wiedergeborene sein wahres Sein ausgerechnet in einem "Dharma-Leib" Fa Shen (sa. dharmakaya) findet, daß also der so vielfach schillernde Name für das Weltgesetz und die letzte Gegebenheit gerade vom Buddhismus bezogen wird. Eine innige Wechselbeziehung aller Lehren und Überlieferung tritt teils in freundschaftlicher, teils in feindlicher Weise ein. Kein Partner der "drei Religionen" aber kann sich ganz dem Einfluß der anderen entziehen.

Bei dem Wiederauftauchen jenes tiefen Lebensstromes, der uns alle trägt und immer wieder den gedanklichen Überbauten überhaupt erst Leben, Reichtum und Tiefe verleiht, konnte es nicht ausbleiben, daß auch die klassische Formel des viergliedrigen Pfades gesprengt wurde und durch eine – in ihrem Ziele wenigstens – umfassendere und tiefsinnigere Lehre ersetzt wurde.

Dabei wird auch jenes heroische Mönchsideal, das Buddha für seine Person wohl wählen mußte, fragwürdig. Die großen chinesischen Sekten besitzen neben ihren "Dharma-Lehrern" und "Meditations-Lehrern" Laien, die als "in der Zurückgezogenheit lebende Meister" Ju Shi – ein Leben, das sie tatsächlich von Zeit zu Zeit führen – die höchsten Wahrheiten im Besitz einer völligen Erleuchtung verkündigen.

Jene Weltentsagung, die der Inder als Ideal des vierten Lebensalters – "nachdem er seines Sohnes Sohn erblickt hat" – ansah, hatte ja Buddha nicht für das Alter aufgespart, in welchem eine natürliche Reifung den Menschen seinem Körper und der Welt entwachsen läßt, sondern nach dem Vorbild alter Asketengemeinschaften schon gleich für die Jugend als richtig und erstrebenswert gelehrt. Der Gegensatz zwischen Kloster und Welt, zwischen Priester und Laien wird jetzt – vor allem in der Meditationssekte – relativ. Ein gleicher Erlösungsweg wird allen gelehrt, und dem ernsthaft an sich arbeitenden Laien werden in allerhand Tertiarier-Organisationen die Wege zur gleichen Reifung geebnet, die die Klosterinsassen verwirklichen sollen. Jene Vorverlegung der Kennzeichen der Altersstufen fällt für den Laien sozusagen weg, der natürliche Rhythmus des Lebens wird bejaht.

Erwähnt sei, daß auch in daoistischen Bünden gewisse Yogaübungen erst im vierzigsten Lebensjahre (europäisch gerechnet im 39sten) mitgeteilt werden. Die Bedeutung der Altersklassen ist also auch hier erkannt. Die vielen Methoden der inneren Reifung, die die buddhistische Tradition entfaltet hat, können hier nicht näher gewürdigt werden, jedoch sei auf den Aufsatz "Die Typen der Meditation in China" in unserem Almanach für 1932 (Abschnitt VI "Buddhistische Meditationen") verwiesen. Wir zitieren daraus die Beschreibung der "fünf Stufen der Heldentaten", wie sie der Patriarch Liang Jie von Dong Shan (807 – 869), der zehnte Patriarch der Meditationssekte nach Bodhidharma, gibt, und zwar in der Form einer kurzen Zusammenfassung:

"Diese fünf Stufen bauen sich so auf, daß zunächst der Weg der Verinnerlichung beschritten wird und das eine Wesentliche in der bunten Mannigfaltigkeit geschaut wird. Sodann wird von diesem Wesentlichen her in der Erleuchtung alle Besonderung aufgehoben (2. Stufe). In der dann eintretenden unio mystica mit dem letzten Grunde des Weltgeschehens wird der Mensch jedoch in die Dynamik eben dieses letzten Grundes hineingerissen (3. Stufe) und vollzieht wieder eine Wendung nach außen.

Zur Verinnerlichung tritt daher die Tätigkeit als gleich starkes Element (4. Stufe). Daher schwinden dem so weit Vorgeschrittenen alle Unterschiede von Verinnerlichung und Wendung nach außen, von Wesentlichem und Gesondertem, von Jenseits und Diesseits. Befreit von allen Bindungen und Verkrampfungen lebt er bescheiden und hilfsbereit seinen Alltag, nachdem er das Ungeheuerste erlebt hat und es als durch Erleuchtung Vollendeter in sich trägt (5. Stufe)."

Die alte viergliedrige Formel ist also hier durch eine fünfgliedrige ersetzt, wobei die drei ersten Stufen den alten vier entsprechen, die Wendung zur Welt aber am Schluß in zwei neuen Stufen geschildert wird. Die Verinnerlichung, die Meditation durchdringt gleich die früher erste Stufe der "Zucht"; Meditation und Erkenntnis (früher 3. und 4. Stufe) erreichen ihre volle Entfaltung bereits auf der nunmehr 2. Stufe, auf der alle Besonderung vom Wesentlichen her gesehen wird. Auf der 3. Stufe, auf der es inmitten des Nichts einen Weg gibt, ist bereits die Erlösung (früher 4. Stufe) nicht nur zum Besitz geworden, sondern nunmehr schwingt der Weg – in echter Mahayana-Gesinnung – wieder zur Welt, zur Erscheinung und Besonderung zurück, das Leben strebt danach, sich wie im Kreislauf zu schließen. Zur Kontemplation tritt nunmehr die spontan-natürliche Aktivität, und die Rückkehr in den Alltag wird von dem innerlich Befreiten vollzogen.

Es ist wohl dem Leser auch bei dieser Formulierung durch die buddhistische Meditationssekte aufgefallen, daß der Weg der Reifung, soweit er psychologisch überprüfbar ist, dem Sinne nach mit den Stufen der Reifung des Konfuzius und denen der daoistischen Verwandlung übereinstimmt.

Abschließend wollen wir nun noch kurz diesen buddhistischen Weg mit den beiden anderen vergleichen und versuchen, für eine Psychologie der Achse unseres Lebens einige wesentliche Erkenntnisse anzudeuten, dabei aber die Betonung der Altersstufen im Konfuzianismus – eine Erkenntnis, der sich auch die beiden anderen Wege nicht verschließen konnten – als die natürliche Gegebenheit bejahen.

 

 

Wenn wir als den ersten großen Abschnitt der Reifung des Konfuzius die Zeit vom 15. bis zum 40sten Lebensjahre rechnen, so wird uns dieser durch drei Aussprüche gekennzeichnet: Zuerst kommt die Zeit, da der Sinn aufs Lernen geht, darauf folgt das Selbständigwerden ("Tägliche Erklärung": durch "Bewahrung des Dao"), und dies mündet in den Zustand, wo keine Ungewißheit mehr besteht. Diese Reifung ist uns ohne weiteres verständlich, sie entspricht dem Ablauf jeglichen Lebens. Nur ist die feinere Untermalung, die die "täglichen Erklärungen" vornehmen, vielleicht für die dritte Stufe notwendig: das Wissen wird "klar", denn "berührte er das Sichtbare eines Dinges, so sah er schon ihren verborgenen Kern".

Diese drei Stufen sind in der Lehre des Patriarchen Liang Jie von Dong Shan in der einen zusammengefaßt, welche kurz heißt: "Besonderung im Wesentlichen". Der Schüler lernt hier allmählich, die Besonderung, die Erscheinungen als einbezogen in das eigentlich Wesentliche und Wirkliche zu erkennen, und betrachtet sein Sein als Stufe der Pflege seines sittlichen Wandels. Doch ist das Sein noch nicht völlig gewandelt. Diese Wandlung wird vielmehr eingeleitet durch den "großen Tod" des alten Menschen.

Die daoistische Überlieferung nun (in der Darstellung durch Miao Chuan) geht von der angeborenen ewigen Natur des Menschen aus und läßt es nun durch sie in ihm Licht werden, "wie wenn es in der Finsternis plötzlich hell wird".

Das Licht erweckt die Wärme des Feuers, das alles schmilzt und Neues entstehen läßt. So wird der Zustand erreicht, wo das "Tor des Lebens und des Todes" durchschritten wird und der natürliche Mensch stirbt, zugleich aber die Bereitschaft für den Keim eines neuen Lebens geweckt wird.

Alle drei Beschreibungen zeigen uns eine Verinnerlichung: die Erkenntnis geht auf das Wesentliche, auf das Dao. Konfuzius wird selbständig, der Charakter wird gepflegt, der Mensch wird vom Feuer durchglüht. Betont wird von der buddhistischen und von der daoistischen Schule, daß der erreichte Reifezustand sich zum Schluß zugleich in einer Art "Sterben des natürlichen Menschen" äußert. Bei der Annäherung an das 40ste Jahr, so dürfen wir psychologisch mit Recht sagen, geht bei einem bewußt lebenden Menschen eine starke Veränderung vor. Nicht nur hat die Zeit des lernbegierigen Jünglingsalters durch selbständiges Denken und Wollen seine Ergänzung längst erfahren, sondern das nicht mehr abzuweisende Bewußtsein, die Lebensmitte erreicht zu haben und mit jedem Tag dem eigenen Tode immer näher zu kommen, verändert die Beziehung zu sich und zur Welt. Eine Entwertung aller zeitlichen Werte tritt ein und hiermit ein Nachlassen des Haftens am Leben. Die Verstrickungen der Welt lösen sich ohne Verkrampfung, Der alte Mensch beginnt zu sterben, die Vorstellung aber eines wesenhaften Kerns in aller Erscheinung beginnt sich in der Erfahrung des also Gereiften zu verdichten, da ist "keine Ungewißheit mehr".

Wir können diese ganze Entwicklung mit dem uns geläufigen neuplatonischen Ausdruck der via purgativa übersetzen. Auch nach den abendländischen Anschauungen muß am Ende dieser Läuterung der alte Mensch sterben. Diese innere Erfahrung aller hohen Geister ist wohl – neben allem Wehmütigen – zugleich die Quelle einer beseligenden klaren Kraft. Wir wollen uns nicht verhehlen, daß in der Mehrzahl der Menschen, in denen das Leben dumpf dahinsickert, die Wende um das 40ste Jahr nicht mit eben der Deutlichkeit auftritt wie in solchen, die durch eine mannigfaltige Veranlagung die stärksten Ausschläge des Geistes und des Temperamentes zeigen und darum auf ihre innere Entwicklung immer wieder achten lernen.

Nun kommt die positive Wendung des nächsten Jahrzehntes. Der Meister sprach: "Mit fünfzig kannte ich des Himmels Fügung." Die "Täglichen Erklärungen" sagen, er wußte jetzt, warum alles so sein muß, der Grund war ihm klar, sein Wissen war wesenhaft. Aber noch immer "borgte sein Wissen seine Kraft vom Nachdenken". Eine Wendung zum Positiven, aber doch deutlich ein Übergangszeitalter, ein Zwischenstadium. Von jetzt ab scheinen Buddhismus und Daoismus über die schlichte einlinige Form des Konfuzius hinauszuwachsen, einen Menschen von größerem Format zu fordern, denn der Patriarch Liang Jie nennt diese Stufe "Wesentliches in der Besonderung". Es wird hier nicht mehr auf das Letzte hin gelebt, sondern bereits erfüllt von ihm, also von ihm her. Das Wesentliche und Ewige wird als das einzig Wirkliche erkannt und von da aus alle Besonderung gesehen. Nach der daoistischen Überlieferung findet hier jene eigentümliche Überkreuzung, Durchdringung und Befruchtung von Geist und Eros statt, die "alchymische Hochzeit", die allem Zwiespalt ein Ende setzt. "Mit dem heiligen Wasser des Dao-Herzens und der wahren (ewigen) Weisheit heilt man das Dämonsfeuer des menschlichen Herzens und der psychischen Klugheit."

Dieser erleuchtete Zustand, der im Westen als via illuminativa beschrieben wird, gibt also einen positiv veränderten Standpunkt.

Nun kommt die dritte und höchste – aber nicht letzte – Stufe: Mit 60 Jahren hatte Konfuzius die "Vereinigung von Weltprinzip Li und Geist Xin" erreicht (vgl. die Täglichen Erklärungen), sein Ohr war (wie er selbst sagt) "bereitwillig", intuitiv verstand er nun die Menschen. Sein Wissen ging aus dem Spontan-Natürlichen hervor. Der buddhistische Patriarch nennt diese Stufe: "Hervorkommen im Wesentlichen". Die Vereinigung des Menschen mit dem Wesentlichen ist vollständig erlangt, dies selber wirkt jetzt durch ihn hindurch und führt ihn wieder zu neuem Wirken.

Die daoistische Überlieferung beschreibt die einzelnen Stadien der Wiedergeburt, der neue Mensch wird durch "Verwandlung" geboren, er ist als Dharma-Leib mit dem Grunde des Weltgeschehens eins, er ist "Dao geworden" Cheng Dao.

Die buddhistischen und daoistischen Ausdrücke mögen überschwenglich erscheinen, aber sie bezeichnen nur deutlicher die Erlebnisstärke der inneren Erfahrung einer Tatsache, die der konfuzianische Kommentar "Vereinigung von Weltprinzip und (Menschen-) Geist" nennt. Es bedarf keines Hinweises, daß wir hier den höchsten Menschentypus vor uns haben, einen "Genius, der nicht mehr gemessen werden kann", dessen innerstes Wesen, um uns abendländisch auszudrücken, die unio mystica auszeichnet.

Der Beginn der 60er Jahre ist wohl ein gleich starker Einschnitt für den Menschen wie die Herankunft der Lebensmitte (des 40sten Jahres). Von jetzt ab hält der Körper nicht mehr Schritt mit dem Geiste. Der Körper beginnt zu altern, während der Geist gerade jetzt die Fülle der Erfahrung hat und sie, wenn auch nicht mehr steigert, so doch vertieft und verbreitert. Der Mensch beginnt seinem Körper zu entwachsen, die Altersreife beginnt – immer ein mehr als durchschnittlicher Geist vorausgesetzt.

 

 

Es ist nun wundervoll, daß trotz Erreichung des höchsten Inhaltes des Lebens, nämlich des Ewigen im vergänglichen Menschen, doch keineswegs die Lebensaufgabe erfüllt ist, vielmehr jetzt die Stufe der Auswirkung kommt. Jene höchste Reife war freilich nur möglich durch Bindung des Menschen an etwas Überindividuelles, Unvergängliches. Aber ohne eine solche Bindung ist das Leben ohne Inhalt, ohne Sinn, ja paradoxerweise – ohne Freiheit. Und das ist wohl die tiefste Erfahrung, die der Menschengeist in seinem Leben macht. Nun kommt in eben jener Freiheit, die nichts mehr für sich will, sondern voll Verstehen sich einfügt in den großen Zusammenhang des Ganzen, dem alles Irdische ein Gleichnis wird, die Verwirklichung im Alltag. Konfuzius kann den Wünschen seines Herzens folgen, ohne das Winkelmaß zu übertreten. Das Winkelmaß ist ein Symbol für das rechte Handeln entsprechend der menschlichen Sitte. Er wahrt die "große Mitte" ohne jede Anstrengung, das Sollen ist ihm freies Handeln geworden.

Die daoistische Überlieferung, der wir hier folgen, beschreibt am Ende, daß "Ofen und Dreifuß unnütz geworden" sind. Alles, was bisher zur Höhe führte, hat seine Aufgabe erfüllt, jetzt gibt es nur noch das Wirken des Dharma-Leibes, der aber wirkt entsprechend dem Dharma, dem Weltgesetz, also ohne wirken zu wollen. In anderen daoistischen Richtungen wird dies noch in mehreren Einzelheiten angeführt, und auch der buddhistische Patriarch von Dong Shan unterscheidet noch zwei Unterstufen: "Ankunft in Vereinigung" (nämlich von Verwirklichung und bisheriger Verinnerlichung) und "Dasein in Vereinigung", die "Rückkehr zu den Kohlen", zum Staube des Alltags. Der Mensch ist geworden, was er sein soll. Der Sinn des Lebens endlich restlos verwirklicht, der Mensch selber allerdings längst ins Übermenschliche, ins Überirdische hineingewachsen. Aber gerade deswegen kann er bescheiden zum Alltag, zu den Mitmenschen zurückkehren. Das Ungeheuerste ist erlebt, alle Höhen und Tiefen durchmessen und jene schillernde Grenze, wo sich Göttliches und Dämonisches zum Verwechseln ähnlich sehen, erkannt, alles in einer neuen Harmonie des Tuns aufgelöst.

Buddhismus und Daoismus binden alle diese Stadien – genau wie die Mystik anderer Religionen – nicht ausdrücklich an das Lebensalter, aber die Altersklassen bilden wohl den natürlichen Ausgangspunkt zur Entstehung einer solchen Erblehre. Es ist selbstverständlich, daß es zu allen Zeiten einzelne gegeben hat, die in einem jungen Körper eine viel ältere Seele bergen und früher die Stadien der Reifung durchmessen, während andere auf dem Wege zurückbleiben. Alle menschliche Reifung aber schwingt in der Linie dieser Achse, denn es ist die Linie des Lebens überhaupt, ja es ist letztlich die Achse der Welt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

VII. DER NORDSTERN

Bisher haben wir bei fast allen Erklärungen (und es ist nur das Notwendigste, was auf diesem Raum gesagt werden konnte) auf psychologisch Faßbares hingewiesen. Das Metaphysische, das hinter den philosophischen und religiösen Anschauungen des Konfuzius und der Konfuzianer sowie der Daoisten und Buddhisten steht, wurde nur eben angedeutet, nicht näher berührt, geschweige denn davon ausgegangen.

Hierüber läßt sich auch nichts sagen, was jeden – und gerade uns Abendländer – zur Zustimmung zwänge (von den Fragen untergeordneter Bedeutung sehen wir dabei ganz ab!). Andererseits muß ausgesprochen werden, daß eben nur diejenige Weltanschauung, die hinter jeder der drei Religionen Chinas steht, der Ausdruck für das eigentlich Gemeinte ist. Alles Psychologische bleibt durchaus vordergründig.

Und nun dreht sich unsere Betrachtung durch die Erkenntnis der Bedeutung des Metaphysischen allerdings völlig um. Bisher schritten wir den "Götterweg" als Weg des Menschen dem Nordstern Bei Xing zu. Blickt man aber umgekehrt – um im Bilde zu bleiben – vom Nordstern her auf diese Erde, so gibt es – auf die unermeßliche Entfernung betrachtet – keine Annäherung an ihn. Der Weg des Menschen ist also eine blasphemische Selbsttäuschung. Der Abstand zwischen gereiftem Menschen und Unreifem, zwischen Heiligem und Verbrecher ist – gemessen an der Unendlichkeit – von winzigem Ausmaß. Die Mystik aller Zeiten und Religionen und selbst die so menschlich-natürliche Art der Reifung des Konfuzius ist ein ungeheurer Selbstbetrug. Der Götterweg ist der Weg des Dämonischen in uns, das uns zur Auseinandersetzung zwingt und uns gleisnerisch in der Maske des Göttlichen verblendet.

So könnte man sagen, so sagen viele. Die Bewertung fremder Religionen und Philosophien hängt von der eigenen Überzeugung ab. Wer aber philosophisch die metaphysische Dialektik bejaht und zugleich dem Strom der Lebenswelle, die durch jedes Individuum hindurchströmt, und dem angeborenen Wissen um das Lebenswichtige und der großen weltfrommen Überlieferung der Menschheit vertraut, dem erscheint zwar der ganze gewaltige Rhythmus der Reifung relativ, aber als die Grundtatsache des Lebens, dem gegenüber jegliche Kunst der Dialektik (die alles, nur nicht sich selber relativiert!) nichts anderes als ein einseitiger Überbau ist.

Im Grunde, wenn der Vollendete wieder "zu den Kohlen" zurückkehrt, war der ganze Weg vielleicht gar nicht so riesig, und die Meditationssekte sagt auch ausdrücklich, daß es eigentlich keinen Weg übe, daß sie den "Weg des Nichtwegs" lehre und zur Erkenntnis des "Tors des Nichttors" weise. Aber auf diesem winzigen Weg werden, wenn tief durchlebt (um mit den Daoisten zu sprechen:) "Himmel und Erde, Yang und Yin, Drache und Tiger" in ihrem Wesen und in ihrer Kraft erfahren. Wer das getan hat oder tut, der kann auf "Drachen sitzen und auf Tigern reiten", wie das Sprichwort sagt. Denn es handelt sich hier nicht wesentlich um eine Fortentwicklung vom Endlichen ins Unendliche, sondern zunächst um das unendliche Leben selber in uns, das urewig durch alle Generationen hindurchbraust und sich im Geiste spiegelt.

Die unio mystica ist im Grunde kein Ziel und kein Höhezustand des Lebens, vielmehr seine Grundfunktion; nur ihr Bewußtwerden und ihre Verwirklichung ist abhängig von der Reife des Menschen. Es gibt gar keinen Götterweg auf Erden und keinen Nordstern am Himmelspol, beides ist, wie die Daoisten sagen, "in uns". Der Nordstern ist das wahre Wesen unseres Lebens.

Von ihm aus brauchen wir nur als beauftragter "Sohn des Himmels" (wie ehemals der Kaiser) "nach Süden zu blicken", d. h. in der Achse der Welt unser Wesen gleichnishaft auszustrahlen, "dann kommt", wie Konfuzius sagt, "das Weltreich in Ordnung".

Die Reifung des Alters läßt vieles immer tiefer verstehen, die Gestaltung wandelt sich, der Kern ("der Nordstern") des Lebens bleibt derselbe, auf ihn als die Grundtatsache, den Träger des Sinns von Welt und Leben kommt es an. Dieser Sinn soll jederzeit, auch ohne Rücksicht auf Alter und Reifung, verwirklicht werden. In jedem derartigen Ergriffenwerden und Tun liegt schon der ganze Weg der Reifung einbeschlossen. Der Meister sprach (Lun Yu II, 1):

"Wer Herrschaft ausübt durch Tugend, der gleicht dem Nordstern, er bleibt an seinem Platze, und alle Sterne drehen sich verehrungsvoll um ihn."