Konstitutionstypen in der chinesischen Medizin

 

Sprechen wir von Konstitutionstypen in der Medizin, meinen wir im Allgemeinen die Summe aller körperlichen und psychischen Eigenschaften eines Menschen, die uns immer wiederkehrend in festgelegten Reaktionsmustern begegnet. Die westliche Medizin kennt u.a. nach Kretschmer vier Typen:

1. leptosomer (asthenischer) Typ: magerer, aufgeschossener Mensch mit schmalen Schultern, langem, schmalem, flachem Brustkorb u. schmalem, langem Kopf;

2. athletischer Typ: breite, ausladende Schultern, derber, hoher Kopf, breiter Brustkorb, straffer Bauch, Rumpfform verjüngt sich nach unten, plastisch hervortretendes Muskelrelief, grober Knochenbau;

3. pyknischer Typ: mittelgroße, gedrungene Figur. weiches, breites Gesicht, kurzer Hals, rundlicher Fettbauch, tiefer, gewölbter Brustkorb;

4. dysplastischer Typ: endokrin dysharmonisch, ohne daß endokrine Störungen im einzelnen nachweisbar sein müssen, verschiedene Körperformen. (aus: Pschyrembel – Klinisches Wörterbuch 257. Auflage)

Der Versuch, zwischen diesen Konstitutionstypen und psychischem Verhalten sowie charakterlichen Merkmalen eine Verbindung herzustellen, ist umstritten und bleibt unbefriedigend.

Überhaupt tut sich die westliche Medizin darin schwer, eine Gesamtschau aller beobachtbaren Merkmale eines Menschen, sei es im Aussehen, Verhalten, Charakter oder Wesen zu finden, die therapeutische Relevanz hat. Ebenso findet sie kein übergeordnetes Pradigma, welches den Menschen umfassend in ein lebendiges System einordnen kann.

Anders die Chinesische Medizin: Sie kennt in ihrer Naturphilosophie ein 2000 Jahre altes Paradigma, das vergleichbare Phänomene in Mensch und Natur analog verknüpft. Die fünf Wandlungsphasen Wǔ Xíng bilden eine grundlegende Theorie der klassischen chinesischen Medizin. Sie stellen ein Denkmodell dar, das den Kreislauf der Energie in Mikro- und Makrokosmos als Bewegung und Umwandlung von fünf Qualitäten beschreibt: Holz, Feuer, Erde, Metall und Wasser. Wu Xing heißt eigentlich "fünf Durchgänge" oder "fünf Wanderungen", es werden fünf zyklisch aufeinanderfolgende Entwicklungsstadien dargestellt: alles Leben wird geboren, wächst heran, gelangt zur Reife, wird alt, zerfällt und muß sterben. Dieser Wandel vollzieht sich in allen Lebensprozessen und -bereichen.

Auch auf die chinesische Medizin hat das Modell der fünf Wandlungsphasen einen beträchtlichen Einfluß, denn es erklärt die Physiologie und Pathologie der Energetik im Menschen. Die Wu Xing werden verwendet, um alle Phänomene im Mikro- und Makrokosmos unter die Zahl "5" einzuordnen, um so ein System der systematischen Entsprechungen aufzubauen, die eine konkrete diagnostische und therapeutische Relevanz besitzt.

 

TABELLE 1 Entsprechungen der 5 Wandlungsphasen:

 

 

 

 

Die daraus abgeleiteten Konstitutionstypen werden bereits im ältesten Medizinklassiker Chinas, dem Nei Jing, beschrieben. Hier erscheint als vergleichender Faktor des Himmels die entsprechende Musiknote, als Maßstab der Erde die entsprechende Farbe. So entstehen die 5 Konstitutionen mit himmlischer Prägung und die 6 Temperamente mit irdischer Fügung.

Sprechen die Chinesen von Konstitution, erscheinen die Schriftzeichen

 

Tǐ Zhì

 

Langzeichen Kurzzeichen

 

Tǐ: Körper, Gestalt, Wesen Inhalt, die ganze Person, persönlich, verkörpern darstellen; es zeigt den Radikal für Knochen, daneben ein Opfergefäß

Zhì: Stoff, Masse, Natur, Charakter, Wesen, Neigung, Anlage, vergleichen, gegenüberstellen; es zeigt zwei Haufen Muscheln, die im alten China zeirweise als Zahlungsmittel dienten.

Tǐ Zhì als Binom zeigt das Zusammenspiel von Körper, Gestalt, Charakter, Wesen und Veranlagung eines Menschen, im Ganzen also seine Konstitution. Das Binom als modernes Kurzzeichen (rechts) läßt diese Bedeutung allerdings kaum noch erkennen.

Im System der 5 Wandlungsphasen oder 5 Elemente gibt es also 5 Konstitutionstypen, die bestimmte Merkmale eines Menschen auf allen Ebenen kategorisieren. Nach dem NEI JING LING SHU, Kapitel 64 erscheinen die Typen folgendermaßen:

Die Niere in der chinesischen Medizin - Ministerin für Arbeit und Freizeit

Am Beispiel der Niere soll nun gezeigt werden, wie vielschichtig ein Organ mit all seinen Resonanzen Einfluss auf die ganze Person und die Persönlichkeit hat.

Wie der Winter in der Natur herrscht die Niere im Verborgenen und zeigt die deutlichste Präsenz des Yin. Ähnlich wie der Mond am Himmel erstrahlt die Nierenkraft in der Tiefe der Nacht, im Winter und in der letzten Phase unseres Lebens. Wasser ist aktuelle Struktivität, ist Ruhe, überlegter Krafteinsatz und stilles Wirken im Lassen Wu Wei = Nicht-Tun. So ist die Niere als unermüdliche Arbeiterin dennoch effizient, Garantin für das optimale Verhältnis zwischen Körper und Geist, Krafteinsatz und Wirkung.

Das Schriftzeichen für die Niere Shen besteht aus Fleisch (Organ) und einem Minister, der sich demütig vor seinem Herrn, dargestellt durch dessen rechte Hand, verbeugt.

 

Der Kaiser und sein Minister stehen sich direkt gegenüber, der eine in stiller Demut, der andere mit herrschender Hand Befehle erteilend. Dieses Bild zeigt deutlich, wer das Sagen hat, aber auch die enge Verflechtung des Herzens mit der Niere. Sie findet ihren Ausdruck in der Spannung von Jing Shen der Wasser-Feuer-Achse im menschlichen Organismus, ursprüngliche Vitalität, Lebensbatterie und Zündfunke.

Die Funktion der Niere (wie auch aller anderen Zang Fu!) wird im 8. Kapitel des Neijing Suwen als ein Amt im mikroskopischen Staataapparat beschrieben und durch vier Zeichen dargestellt, die im Zusammenspiel Yin/Yang-gemäß die Nierenkraft hervorbringen:

 

 

 

"Die Niere ist verantwortlich für die Bereitstellung von Kraft. Erst dann können sich Talente und Geschicklichkeit verwirklichen."

1. Zuo: tun, handeln, machen, herstellen, eine kleine Werkstatt, ein Handwerk; ein Mensch, der zum ersten Mal einen versteckten Ort betritt, plötzlich und voller Erwartung; Zuo bedeutet auch eine ausbrechende Aktivität, die sich als Kreativität, Sexualität oder auch nur durch handwerkliches Geschick ausdrückt;

2. Qiang: stark, kräftig, Kraft, sich anstrengen, aber auch: zwingen, nötigen, hartnäckig bestehen auf; ein Bogen, der so stark ist, dass er seine Pfeile über mehrere Felder weit schießen kann vorausgesetzt, der Schütze ist ebenfalls stark genug, den Bogen zu spannen;

Wir können hier das Zusammenspiel von Nieren-Yin und Nieren-Yang in diesen zwei Zeichen erkennen! Einerseits die plötzliche und sprudelnde Aktivität des Yuan Qi als Zündfunken für alle möglichen energetischen Konstellationen; andererseits die Stärke und die Qualität der Essenzen Jing, die diesen Krafteinsatz fundiert und dafür sorgt, dass der Funke nicht verpufft, sondern ausdauernd sein Qi-Potential hält.

Erst das Zusammenspiel von Zuo Qiang drückt ein harmonisches Nieren-Qi aus. Erst dadurch kann der Beamte seine Pflicht erfüllen, eine Aufgabe, die ebenfalls mit zwei Schriftzeichen ausgedrückt wird:

3. Ji: geschickt, gewandt, erfahren, kundig, fähig, tüchtig, begabt, Geschicklichkeit; das Zeichen zeigt eine Hand, die einen Bogen schnitzt;

ein guter Bogenschnitzer braucht Kreativität und handwerkliches Geschick, um sowohl einen schönen als auch zweckmäßigen Bogen zu bauen;

4. Qiao: geschickt, geistreich, kunstvoll, günstig, im rechten Augenblick, aber auch: schlau, verschlagen, listig; Kurven und Winkel, die durch geschickte Arbeit eine neue Form erhalten.

Das Resultat der Nierenkraft ist also eine geschickte und kreative Aktivität: das perfekte Know How, eine Arbeit ohne Mühe und mit dem geringsten Krafteinsatz in größter Effektivität auszuführen. Diese Begabung ist ein Geschenk des Himmels und wird vermittelt über die Erbsubstanz der Eltern. Es hat nichts zu tun mit Fleiß und regelmäßigem Üben; es ist einfach eine Begabung, die da ist und mühelos wirkt. Sie muss nur entdeckt und gefördert werden! Die Basis dafür liegt in der angeborenen Essenz Xian Tian Zhi Jing.

Die angeborene Konstitution Xian Tian Zhi Qi, heißt wörtlich "die Energie, die vor dem Himmel da ist" und meint vorgeburtlich, von Natur aus, kongenital, das Qi, das jeder Mensch als Anlage von seinen Eltern mitbekommt.

Komplementär dazu gibt es die erworbene Konstitution, die nach der Geburt unseren Energiehaushalt bestimmt (Hou Tian Zhi Qi = nachhimmlische Energie). Das erworbene Vermögen wird im wesentlichen aus der Nahrung raffiniert und von der Milz, der Geschmacksrichtung entsprechend, an die Zang-Organe verteilt. Das Saure geht zur Leber, das Bittere zum Herzen, das Pikante zur Lunge, das Salzige zu den Nieren und der süße Geschmack bleibt in der Milz. In den Zang werden die Geschmacksenergien Wu Wei als ein Aspekt des Jing gespeichert und dienen als Grundlage für alle energetischen Prozesse der Zang Fu.

Erst das Zusammenspiel dieser individuellen Essenz des jeweiligen Zang mit seinem individuellen Geist bringt die gesamte Palette an Lebensäußerungen in den Elementen hervor! Konkret könnte das heißen:

Wir sehen die Dynamik der Jing-Shen-Achse, die sich in den Wandlungsphasen individuell als gerichtete Kraft und Lebensenergie Qi darstellt und orientiert.

Die überschüssigen Geschmacksenergien werden in der Niere als Reserve gespeichert und in Notfällen aktiviert und verteilt.

Das angeborene Vermögen der Niere wird bei der Konzeption angelegt und ist die Grundlage für die Ernährung und das Wachstum des Embryos/Fetus. Nach der Geburt steckt diese "Erbenergie" den Rahmen ab, in dem sich das Individuum entfalten und selbstverwirklichen kann, gemäß den angelegten Potenzen. Aktivierte Erbenergie = Yuan Qi, ist der Zündfunke, der dies in jedem Moment ermöglicht.

Die relative Stärke und Qualität der angeborenen Konstitution ist verantwortlich für Begabung, Talente, charakterliche Prägung und für genetische Defekte. Sie bestimmt die Lebensspanne eines Menschen und wird im Laufe des Lebens allmählich verbraucht. Die vorhimmlische Energie kann nicht wieder aufgefüllt werden! Sie ist ein Grundkapital, mit dem man wuchern, aber auch sparsam umgehen kann. Exzessive Lebensgestaltung, schlechte Ernährung, übertriebener Sex und jede Art von Suchtverhalten erschöpft das angeborene Vermögen und verkürzt die Lebenserwartung. Ebenso wie verausgabte angeborene Essenzen nicht aufzufüllen sind, können auch fehlende Begabungen und Talente nur bedingt durch Training und Übung ersetzt werden. Nicht jeder ist ein Beethoven oder ein van Gogh! Auch vererbte defekte, hirnorganische Schäden, angeborene Missbildungen und angelegte Dispositionen ("Schwachstellen") können nicht beseitigt, sondern nur gemildert und aufgefangen werden.

Der Wandlungsphase Wasser entsprechend, ist die Niere das Yin im Yin, d.h. unmittelbare und tatsächliche Speicherung von Energien, aktuelle Struktivität. Sie kontrolliert eine Kraftreserve, die das Fundament für alle Lebensäußerungen ausmacht. Erst wenn die Reserven aufgefüllt und das Fundament konsolidiert ist, können Aktivitäten stattfinden, und zwar solche, die der Mensch entsprechend seinen angeborenen Möglichkeiten, d.h. seiner Potenzen, ausüben kann.

Potenz ist Wirkmöglichkeit, und das nicht nur im sexuellen Bereich. Auch die rationale, intellektuelle und emotionale Potenzierung von Erlebnissen und Sinneseindrücken ist Wirkkraft der Niere. Dies geschieht in Form von Erinnerungen, als Gedächtnis und in der Erkenntnis, potenziertes Wissen also, das im Alter die Weisheit des Menschen ausmacht.

Alle Lebensäußerungen, die Potenz ausdrücken, deuten auf ein starkes Nieren-Qi hin. Auf der geistig-seelischen Ebene entspricht dies der Willenskraft, chin. Zhi. Zhi heißt auch Entschluss, Tatkraft, Ehrgeiz, Streben, Absicht und bezeichnet somit alle Lebensäußerungen, die entschieden ein Ziel verfolgen.

 

 

Das Schriftzeichen zeigt ein Herz, das auf die Füße wirkt, um seine Wünsche erfüllt zu bekommen. Ein fester Wille, der aktiv, durch die Tat, seine Wünsche zu befriedigen sucht, im weiteren Sinne also der Wille zur Selbstverwirklichung.

 

 

Impotenz auf der geistig-seelischen Ebene beinhaltet mangelnde Selbstverwirklichung, ein zielloses sich Treibenlassen im Strom des Lebens, Inkonsequenz, Wankelmütigkeit, Ängstlichkeit, Verzagtheit, Schreckhaftigkeit, Fahrigkeit, nervöse Labilität u.v.m. Jede Art von Geistes- und Gemütskrankheit kann entstehen, wenn die Niere nicht genügend Kraft (Potenz) bereitstellt.

Im psycho-sozialen Bereich finden wir Menschen mit diffusem Auftreten und Handeln, die nicht aus ihren Fehlern lernen können, d.h. ihre Erfahrungen nicht konservieren können.

Die Wasserpersönlichkeit:

Der Archetypus des Wassers ist der Philosoph. Auf seiner schonungslosen Suche nach Wahrheit bringt er das Verborgene ans Licht, enthüllt neues Wissen und alte Wahrheiten, löst Geheimnisse und Rätsel, bekämpft Ignoranz und Dummheit. Er untersucht die Vorgänge des Lebens minutiös solange, bis seine Eindrücke zu einer klaren Einsicht und Erkenntnis reifen. Wie ein Goldsucher gräbt er sich durch Tonnen von Gestein, nur um einen einzigen Edelstein zu finden! Der Philosoph sucht hartnäckig nach der Wahrheit, eine Wahrheit, die nicht nur durch seine Aussagen brillant und widerspruchsfrei sein muss, sondern auch dem Ganzen, der Menschheit, dienen soll. Es braucht Jahrtausende, um die Mineralien eines Fossils in einen kostbaren Stein zu verwandeln. So ist die Zeit der Pickel und die Schaufel des Philosophen, der aus den Gebeinen einer Kultur das Ewige und Zeitlose herausgräbt. Der Philosoph sehnt sich nach etwas Bedeutungsvollem, was durch die Belanglosigkeit der menschlichen Existenz hindurchscheint. Er braucht bleibende Werte, die zeitlos alle geistigen Strömungen überdauern.

Ebenso wie er der Welt Einsichten und Erklärungen anbietet, hofft der Philosoph, dass Wissen sich mit Weisheit, Macht sich mit Mitgefühl vermählt und das die höchste Autorität das Schicksal darstellt. Fähig, Visionen zu entwickeln, was sein könnte, ist er dennoch kritisch bei allem was ist und so der geborene Gesellschaftskritiker.

Das Wort Philosoph kommt aus dem Griechischen und heißt ursprünglich "Freund der Weisheit". Die Liebe zur Weisheit und das Verlangen, dem scheinbar regellosen Leben auf der Erde einen Bezug und eine Sinn zu geben, ist das vorherrschende Streben der Wasserpersönlichkeit in seiner besten Art. Das Entwerfen von rationalen Denkmodellen für die Deutung von Kosmos, Götter- und Menschenwelt war somit immer schon die vorrangigste Aufgabe des Philosophen. Das ein solches Streben Nierenkraft voraussetzt, ist evident, wenn wir die psycho-sozialen Anteile der Wandlungsphase Wasser näher betrachten. Vom Wollen und Willen Zhi angetrieben, gelangt der Philosoph nach vielen Mühen und Reflexionen zur Weisheit (ebenfalls Zhi mit anderem Schriftzeichen) und damit zum höchsten Ziel seiner sozialen Existenz (siehe später).

Einige weitere Eigenschaften sollen noch genannt werden, um eine Wasser-Persönlichkeit zu kennzeichnen:

im positiven Sinn: offen und ehrlich, in sich gerichtet, bescheiden, wachsam, objektiv, neugierig, freimütig, kommunikativ, vorsichtig, ausführlich, sensibel, sparsam, klar und einleuchtend, nachdrücklich, kühlend, reinigend, konzentrierend, speichernd;

im negativen Sinn: zurückgezogen, reserviert, schweigsam, unverblühmt, spitz, durchdringend, beleidigend, unbeteiligt, kritisch prüfend, musternd, ausgefallen, exzentrisch, mißtrauisch, abergläubisch, fordernd, zynisch, voreingenommen, habgierig, neidisch, taktlos;

im pathologischen Sinn: Sarkasmus, katatone Starre, anonym, voyeuristisch, sich trennen, überkritisch, versponnen, überspannt, phobische Ängste, überempfindlich, selbstüberheblich, mißmutig, pessimistisch, geistesabwesend, mißgünstig;

Probleme mit: Geselligkeit, Kommunikation, Innenschau, Konformität, Großzügigkeit, Isolation, Selbstvertrauen, Wahrheit und Lüge, Bloßstellung, Selbstdarstellung, eingebildeten Krankheiten, Verzeihen, Nachtragen.

Die Niere speichert die Essenz:

Die Essenz Jing ist ein technischer Aspekt der vorhimmlischen und nachhimmlischen Energie. Sie ist undifferenzierte Feinstmaterie, Struktivpotential.

Jing heißt auch: gereinigt, raffiniert, wesentlich, essentiell, das Feinste; aber auch: Geist, Urstoff und Samenflüssigkeit.

Das Schriftzeichen bedeutet: Reis Mi in seinen jungfräulichen Zustand Qing zu überführen: den Kern von der Spreu trennen, die Essenz freilegen. Im medizinischen Kontext meint Jing die Grundsubstanz oder Feinstmaterie, welche alle energetischen Prozesse fundieren.

Struktivpotential bedeutet die Möglichkeit, Form zu werden. Um Form zu werden, braucht das Jing eine formbildende Kraft, die als Shen Allgegenwärtig spontan wirksam ist. Umgekehrt braucht auch der feingeistige Shen ein struktives Energiepotential, um wahrnehmbare Wirkungen zu entfalten. Das Zusammenwirken beider Aspekte, Jing Shen, macht unsere Vitalität auf ursprünglichster Ebene aus. Jing Shen hat seinen Wohnsitz im Lebenstor Ming Men.

Jing ist das Fundament für grundlegende Funktionen im Menschen:

Es kontrolliert Fortpflanzung, Entwicklung und Latenzphasen. Es beherrscht und ernährt die Knochen, die Zähne, das Kopfhaar, das Gehirn und Rückenmark sowie die Sexualorgane. Jing steuert hormonelle Wechsel wie Pubertät und Klimakterium und regiert auch Fruchtbarkeit, Schwangerschaft, Geburt und Laktation.

Jing formt das Mark Sui und "füllt" Gehirn und Rückenmark. Dieses Konzept in der chinesischen Medizin ist eher energetisch als substantiell zu verstehen. In der Praxis sind viele westliche Krankheitsbilder des zentralen Nervensystems Erkrankungen des Jing: M. Parkinson, Multiple Sklerose, Poliomyelitis, Meningitis, Enzephalitis, Nervenlähmung, zerebrale Ataxien, u.v.m.

Allgemeinsymptome einer Jing-Schwäche sind: Dumpfheit, Schwindel, Ohrensausen, Schmerzen und Lahmheit in der Lendengegend und in den Knien, Impotenz, Frigidität, Sterilität, habitueller Abortus, Haarausfall, lockere Zähne, allgemeine Ängstlichkeit und Schreckhaftigkeit, vorzeitiges Altern, Senilität, bei Kindern: Wachstumsstörungen, Entwicklungsverzögerungen, schwache Knochen, frühzeitige Karies, Zahnungsprobleme, verspäteter Fontanellenschluß.

Jedes Trauma geht an die Nieren und schmälert die Essenz (Geburtstrauma, Unfall, Schock, Kriegstraumen), ebenso exzessiver Sex, viele Geburten, Abtreibungen und langanhaltende, massive Menstruationsblutungen. Eine Jing-Leere ist immer ein schwerer chronischer Krankheitszustand, der einhergeht mit einer allgemeinen Energieschwäche. Wir haben also für die Nadeltherapie einen schweren Stand. Bei diesen Patienten brauchen wir viel Geduld und einfühlsame Führung.

Welche Konsequenzen ein Jing-Verlust durch Exzesse in vino et venere kann, möge die folgende kleine Geschichte verdeutlichen.

Ein ernster Fall von Jing-Verlust:

Unsicheren Schrittes ließ sich Xi Men zum Pavillon von Goldlotos bringen. Sie hatte auf ihn gewartet und war noch auf. Sie half ihm aus den Kleidern und aufs Lager. So sehr war er von seinem Rausch und von Müdigkeit mitgenommen, dass er nicht einmal imstande war, sich allein zuzudecken. Er fiel augenblicklich in Schlaf, und bald erfüllten seine Schnarchtöne wie fernes Donnerrasseln den Raum.

Goldlotos hatte sich neben ihn gebettet. Anstatt ihm nun seine Ruhe zu gönnen, begann sie, von unersättlicher Lüsternheit getrieben, ihre Finger an seiner Lendenmitte auf und ab gleiten zu lassen. Sein Ding fühlte sich weich und schlapp an wie Watte. Soviel sie an ihm herumspielte, es wollte nicht fest werden. Gar zu gern hätte sie gewusst, mit welcher Frau er heute schon das Lager geteilt hatte.

Jetzt beugte sie sich in kniender Stellung über ihn und versuchte es mit dem Flötenspiel. Aber es zeitigte gleichfalls keine Wirkung. Da verlor sie die Geduld. Sie rüttelte so lange an ihm, bis er erwachte.

"Wo hast du die Pillen von Pater Fan aufbewahrt" fragte sie.

"Lass mich doch schlafen! Ich bin müde und mag heute nicht", brummte er verdrießlich. "Aber wann du es durchaus wissen willst, die Pillen stecken in meiner Ärmeltasche; in der goldenen Dose mit dem durchbrochenen Deckel."

Flugs erhob sie sich und durchsuchte seine Ärmeltaschen. Richtig, da war die goldene Dose mit dem in der Mitte herzförmig durchbrochenen Deckel. Sie öffnete, es waren genau noch vier Pillen drin. Sie nahm eine heraus und schluckte sie mit einem Becher angewärmten Weins selber hinunter. Dann füllte sie einen zweiten Becher für ihn voll, und da sie sich einbildete, dass in Anbetracht seines abgekämpften Zustandes eine einzelne Pille vielleicht nicht ausreichend wirken würde, tat sie gleich alle noch übrigen drei Pillen in den Becher.

Nun führte sie den Becher an seinen Mund, und schläfrig und trunken, wie er war, goss er achtlos mit geschlossenen Augen den Inhalt hinunter. Es währte kaum die Zeitspanne, die man zum Ausschlürfen einer Schale heißen Tees brauchte, da machte sich die Wirkung der dreifach genossenen Dosis zu ihrer Genugtuung mit dreifach gesteigerter Kraft geltend. Zum Überfluss bestrich sie ihm auch noch das "Pferdeauge" ergiebig mit der Wundersalbe. Dann kletterte sie auf ihn und lenkte mit sicherer Hand seinen Luststengel in die rechte Bahn. Nie zuvor fühlte sie sich so innig und zutiefst mit ihm verschmolzen wie diesmal, unaussprechlich waren die Wonnen, die sie heute erschauern ließen. Zweimal war bei ihr bereits die Wolke geborsten. Da stellte sich auch bei ihm der erlösende Regen ein. Aber diesmal war es ein Platzregen, und er wollte gar kein Ende nehmen.

Und während es anfangs wie Quecksilber aus enger Röhre quoll, gewahrte sie später mit Entsetzen eine trübe blutige Verfärbung. Auch wunderte sie sich, dass er so regungslos dalag und nicht atmete. Eine Ohnmacht hatte ihn befallen. Fünf Taschentücher hatte sie bereits verbraucht, da stockte endlich der grausige Regen, und er kam wieder zu sich.

Geschätzte Leser, auch Wollust hat ihre Grenzen, und der Vorrat an Manneskraft ist nicht unerschöpflich. Wenn das Öl versiegt, erlischt die Lampe, und kein Mark im Rückgrat bedeutet den Tod.

"Junges Weib, wie lockt dein Leib!

Doch den weichen Leib bewehrt

unsichtbar ein grimmes Schwert.

Zwar nicht droht, blutiger Tod –

Nein, an ausgedorrten Lenden

muss der Wüstling kläglich enden".

Kaum hatte sich Xi Men andern Morgens zum Ankleiden erhoben, da packte ihn abermals ein Schwindel, und bewusstlos brach er zusammen.

Als er wieder zu sich gekommen war, schleppte er sich zu einem nahen Lehnstuhl und ließ sich kraftlos wie ein Greis auf den Polstersitz nieder. Lange Zeit saß er da, den Kopf müde an die Lehne gepresst. Goldlotos suchte ihm und sich selbst einzureden, seine Schwäche rühre von leerem Magen her, und sie schickte Herbstaster nach einer Kraftsuppe in die Küche. Natürlich plauderte Herbstaster in der Küche, und von der Küche her gelangte rasch die Kunde in die hinteren Gemächer, dass Xi Men heute morgen einen Schwindelanfall erlitten habe und umgefallen sei.

Inzwischen war eine Schüssel mit verlockend dampfender Kraftsuppe aus der Küche eingetroffen und vor ihm aufgebaut worden. Aber er hatte kaum davon genippt, da überkam ihn ein Brechreiz, und er ließ sie stehen.

Seine anfängliche Erwartung, nach wenigen Stunden Bettruhe wieder auf der Höhe zu sein, sollte sich als trügerisch erweisen. Am nächsten Tage stellten sich fiebrige Hodenentzündung und schmerzhafte Harnbeschwerden ein. An Aufstehen war nicht zu denken. Mondfrau bestand nunmehr darauf, dass Doktor Yen ins Haus käme.

Er setzte nach beendeter Untersuchung eine bedenkliche Miene auf, murmelte etwas von erschöpfter Nierenkraft, von Brand und Leere im Gehirn und verordnete eine Medizin, die zwar das Schwindelgefühl etwas behob, aber am sonstigen Zustand nichts besserte.

Also musste Doktor Hu zur Stelle. Seine Diagnose lautete auf verschleppte Darmvergiftung; aber die Rezeptur, die er verordnete, erwies sich als ebenso wirkungslos wie ein Steinwurf in den tiefen Ozean.

Nun schickte Mondfrau in ihrer Angst nach dem Senior der Stadtärzte, dem zweiundachtzigjährigen Doktor Hou, der unweit des Kreises Yamens wohnte. Der rüstige Alte erkannte ganz richtig, dass hier eine Hodenentzündung und Harnröhrenverstopfung vorlag, doch seine Rezeptur hatte ebenso wenig Erfolg, es bewirkte lediglich eine schmerzhafte eisenharte Versteifung des leidtragenden Körperteils, die während der ganzen Nacht bis zum nächsten Morgen anhielt.

Goldlotos, die an seiner Seite schlief, war in ihrer hemmungslosen Begehrlichkeit unverständig genug, diese Versteifung als Wiedererwachen seiner Manneskraft zu deuten und nach Herzenslust auf ihm herumzurankern, als ob sie eine unempfindliche Wachskerze zwischen ihren Beinen hätte. Natürlich trug das nicht gerade zu seiner Gesundung bei, und am nächsten Tage fühlte er sich elender denn zuvor.

Auf Empfehlung des Kollegen Hou, der an diesem Tage gleichfalls seine Krankenvisite machte, wurde ein ihm bekannter auswärtiger Arzt, ein Spezialist für Darmvergiftungen, der zufällig bei ihm zu Besuch war, zu Rate gezogen. Zweimal im Laufe des Tages schluckte Xi Men gläubig das von ihm verordnete bittere Gebräu hinunter, mit dem Ergebnis, dass sich sein Zustand nur noch verschlimmerte und er die ganze Nacht hindurch vor Schmerzen kein Auge zutun konnte. Aus rot entzündeten Schwellungen waren offene, ekel schwärende und blutende Wunden geworden.

Nachdem alle ärztliche Kunst somit kläglich versagt hatte, beschloss Mondfrau, es mit dem letzten Mittel, mit magischen Beschwörungen zu versuchen. Da musste also der blinde Ehemann der alten Liu, Sterndeuter Liu, antreten und hinten am Aussichtspavillon seine Teufelsaustreibungstänze aufführen.

Und dann wurde der Meister des Dao, Oberpriester Wu vom Nephritkaisertempel, herbeizitiert. Als er Xi Men’s erschreckend entstelltes und verfallenes Aussehen gewahrte, da sagte er es mit schonungsloser Offenheit gerade heraus:

"Hier gibt es keine Heilung mehr. Wein und Weib haben Eure Manneskraft ausgesogen, verwüstet und erschöpft. Eure Eingeweide sind vom sündigen Feuer der Wollust ausgebrannt. Die Krankheit sitzt zu tief im Leibe, als dass menschliche Kunst noch etwas ausrichten könnte."

Und er lehnte es ab, den magischen Zauber seiner Beschwörungskunst zu leihen.

Auf Wunsch von Mondfrau musste er ihm wenigstens das Horoskop stellen. Es fiel schlimm genug aus. Noch im ersten Monat dieses Jahres werde sich sein Schicksal erfüllen. Nun war es Xi Men und seinen Frauen klar, dass es keine Hoffnung mehr gab und dass es an der Zeit sei, die letzten Bestimmungen zu treffen. Denn an ein schriftliches Testament hatte er bisher nicht entfernt gedacht.

Einen Tag blieb Xi Men noch zu leben vergönnt. An diesem Tage kamen noch zahlreiche Freunde und Bekannte an das Sterbebett geeilt, um von ihm Abschied zu nehmen. Dann hatte sich sein Schicksal erfüllt. Nach schwerem, mehrstündigem Todeskampf, der um Mitternacht begann und ihn mitunter wie einen Stier aufbrüllen ließ, hatte er in der Frühe des Einundzwanzigsten seinen Lebensodem ausgehaucht. Er war nicht älter als dreiundvierzig Jahre geworden.

Akupunkturpunkte mit besonderer Wirkung auf die Essenz sind:

Wir können die oben genannten Punkte vorsichtig mit Moxa behandeln, wenn das Yin stabil genug ist, aber auch tonisierend nadeln; weitere Maßnahmen sollten jedoch auch diätetische Beratung und chinesische Arzneimittel sein, z.B. Fructus Lycii (Qi Zi), Placenta Hominis (Zi He Ju) u.a.

Akupunkturpunkte mit besonderer Wirkung auf das Mark sind:

Das Meer des Markes oder das Gehirn hat wie jedes der vier Meere im menschlichen Organismus Symptome einer Fülle und Leere und spezifische Kontrollpunkte, die den Ausgleich herstellen. Für das Meer des Markes ist der obere Einflusspunkt Du 20 Bai Hui = hundertfache Versammlung. Er nährt das Gehirn bei Erschöpfung und geistiger Schwäche (Moxa).

Der untere Einflusspunkt ist Du 16 Feng Fu = Windpalast; er "glättet" die stürmische See, indem über ihn z. B. pathogener Wind gelöscht, der Geist beruhigt und übermäßiges Feuer ausgeleitet werden kann. Dieser Punkt ist wirksam bei schwersten Verwirrungen des Geistes, bei Manien, bei Amokläufern, bei Apoplexie mit Sprachverlust und anderen zerebrospinalen Erkrankungen. Eine Leere im Meer des Markes zeigt sich durch Schwindel, Ohrensausen, Sehstörungen, Benommenheit, Koordinationsstörungen der Gliedmaßen, starkes Schlafbedürfnis und geistige Benommenheit. Wir haben also hier zusätzliche Einfluss-Punkte bei einer Jing-Leere.

Ming Men – das Lebenstor:

Das Konzept von Ming Men = das Lebenstor ist im Klassiker der Schwierigkeiten, dem Nanjing (ca. 100 v. Chr.) erstmals entwickelt und ausführlich dargestellt worden. Im 36. Kapitel heißt es:

"Jedes der Zang-Organe ist einzeln vorhanden, nur die Nieren sind doppelt. Wie kommt das?

Es ist folgendermaßen: Die zwei Nieren sind nicht beides Nieren, sondern nur die auf der linken Seite ist die Niere, das Organ auf der rechten Seite heißt Ming Men, das Lebenstor. Ming Men ist der Ort, an dem das Jing Shen zuhause ist. Es ist der Ort, an dem das Yuan Qi verankert ist. Beim Mann ist hier der Samen gespeichert, bei der Frau der Uterus. Also weiß man, dass es nur eine Niere gibt!"

 

Im Laufe der Jahrhunderte haben sich noch weitere Theorien gebildet, welche die linke Niere als Wasser-Niere, die rechte als Feuer- Niere definiert und Ming Men, das Lebenstor, in der Mitte beider Nieren lokalisiert. Dann heißt ein Punkt des Dumai, eines der 8 außergewöhnlichen Gefäße, Ming Men (Du 4)

Schließlich hat Ming Men noch einen direkten Einfluss auf alle Zang Fu-Organe:

"Das Herz empfängt Ming Men und ist in der Lage, seinen richtungsweisenden Einfluss auszuüben;

die Niere empfängt Ming Men und kann Kraft und Geschicklichkeit einsetzen;

die Leber empfängt Ming Men und kann strategisch planen;

die Gallenblase empfängt Ming Men und kann Entscheidungen treffen;

der Magen empfängt Ming Men und kann aufnehmen und verdauen;

die Milz empfängt Ming Men und kann umwandeln und weiterleiten;

die Lunge empfängt Ming Men und findet ihren natürlichen Rhythmus;

der Dickdarm empfängt Ming Men und schafft freien Durchgang und Führung;

der Dünndarm empfängt Ming Men und klärt das Reine vom Unreinen;

der San Jiao empfängt Ming Men und öffnet die Wasserwege;

der Xin Bao empfängt Ming Men und spendet Freude und Lust;

die Blase empfängt Ming Men und speichert die Körperflüssigkeiten."

(Sui Xuan Mi Lu)

Was bedeutet nun Ming Men?

Ming: ist der Wille des Himmels, eine Verfügung, Schicksal, Bestimmung und bezeichnet die festgelegte Lebensspanne. Ein Herrscher spricht und gibt seinem Untergebenen einem Befehl; er bekräftigt dies mit einem Siegel: ein durchgebrochenes Jadestück, von dem er die andere Hälfte zur späteren Einforderung der Schuld zurückhält. So diktiert der Wille des Himmels dem Menschen sein Schicksal zwischen Himmel und Erde;

Men: Tor, Tür, Eingang, Öffnung, Ventil; auch: Familie, Klasse, Kategorie; das Bild: eine zweiflügelige Schwingtür, die nach beiden Seiten geöffnet werden kann; das 169. Radikalzeichen; in kaum einem anderen Schriftzeichen ist das Bildhafte der chinesischen Zeichen so klar erkennbar wie in Men, das Tor. Men = das Tor kommt in vielen Punktenamen vor und bezeichnet immer einen ungehinderten Ein- und Ausgang für Qi, Blut, Shen, Hun, etc..

Das Schicksal ruft den Menschen ins Leben, legt seine Lebensspanne fest und bestimmt seinen Todeszeitpunkt. Man könnte Ming Men als den natürlichen Eingang zum Leben und den Ausgang in den Tod bezeichnen, den Lebensspender und den Todesboten. Am Anfang, bevor sich ein Körper manifestiert, zu der Zeit, wo Vater und Mutter sich gerade vereinigen, verlässt der männliche Same dieses Tor (beim Mann) und die weibliche Eizelle empfängt durch dieses Tor (bei der Frau). Wenn der Fetus vollständig ist, wird er ebenfalls durch die Aktivität von Ming Men geboren.

An dieser Stelle ist die ursprüngliche Vitalität des Menschen verankert, sein Jing Shen, das Zusammenwirken von Essenz und Geist, Möglichkeit und tatsächliche Präsenz.

Das Jing der Erde reagiert mit dem Shen des Himmels und erzeugt ein Drittes, ein Qi als richtungsweisende Kraft. Diese ursprüngliche Polarität von Himmel und Erde ist es, die im Lebenstor wohnt und unser Leben konstituiert! Sie ist die Grundlage für alle energetischen Konstellationen im Makrokosmos wie auch im Mikrokosmos. Sie ist die Voraussetzung für die Zeugung, Geburt, Leben und Tod des Menschen, sie ist die Mutter aller Lebensprozesse.

Ausdruck eines gesunden Jing Shen ist die spontane, fließende Bewegung, die mühelos wirkt und Vitalität ausdrückt. Sie geschieht ohne Absicht und kommt der Idee des Dao, absichtsloses Handeln Wu Wei, sehr nahe. Wenn wir in ein Konzert gehen und der Interpret ist voller Jing Shen, so wird er uns mit seiner Musik verzaubern und unser Innerstes berühren. Dasselbe passiert bei dem Bild eines Malers, der sich selbst verwirklicht hat und dessen Kunst uns dadurch inspiriert. Ebenso wie bei einem Redner, dessen Worte uns ergreifen und mitreißen. Wo immer wir das Jing Shen des Anderen spüren, fühlen wir mühelose Leichtigkeit, Lebendigkeit und feurige Präsenz.

Ming Men ist der Ort, an dem die ursprüngliche Energie, das Yuan Qi, verankert ist. Wie schon oben erwähnt, ist das Yuan Qi der aktive Aspekt des angeborenen Vermögens, also aktivierte Erbenergie.

Das 66. Kapitel des Nan Jing diskutiert Verteilung und Konzentration der ursprünglichen Energie. Dort heißt es:

"Warum werden die Shu-Punkte, in denen das Qi des San Jiao anhält, Ursprung genannt?

Es ist folgendermaßen: Das Qi, das unterhalb des Nabels und zwischen den Nieren aktiv ist, macht des Menschen Lebensspanne aus. Es ist die Quelle und die Grundlage der zwölf Leitbahnen. Deshalb nennt man diese Qi Yuan (ursprüngliches) Qi. Der San Jiao ist ein besonderer Bote, der das Yuan Qi vermittelt. Er ist verantwortlich für den Durchgang der drei Qi durch die Zang Fu-Organe.

Ursprung ist eine besonders noble Bezeichnung für den San Jiao. Deshalb nennt man die Orte, an denen sein Qi anhält, den Ursprung. Wann immer die 5 Zang oder die 6 Fu des Menschen erkranken, wählt man für die Behandlung deren Yuan-Punkte."

Das Yuan Qi ist die Quelle, der Zündfunken gewissermaßen, für das Qi aller zwölf Hauptleitbahnen. Die Verteilung der impulsgebenden Kraft des Yuan Qi obliegt dem San Jiao, der deshalb ein besonderer Bote für die Qi-Verteilung genannt wird.

Auf seinem Weg durch die zwölf Leitbahnen pausiert der Bote an den Shu-Punkten, die dem dritten antiken Punkt entsprechen; einer Stromschnelle vergleichbar, in der schon ein großes Potential vorhanden ist. Sie werden deshalb auch Ursprungs-Punkte genannt, weil hier die Energie wie aus einer Quelle unerschöpflich zu sprudeln scheint.

In den Yin-Leitbahnen finden wir außerdem in diesen Punkten auch konzentrierte Erde und damit erworbenes Vermögen vor. Deshalb empfiehlt das Nanjing die Nadelung der Yuan-Punkte bei allen Erkrankungen der Zang Fu-Organe, das Lingshu hingegen nur bei den Störungen der Zang (vergl. Ling Shu, Kap. 1). So erklärt sich auch das breite Wirkspektrum der Yuan-Punkte in seinen klassischen Indikationen.

So gesehen wäre die Akupunktur eigentlich eine einfache und sichere Therapie. Man bräuchte nur die Yuan-Punkte zu nadeln und der Organismus käme ins Gleichgewicht. Nach den Klassikern erscheint es so. Wir müssen uns aber auch darüber im klaren sein, dass wir aus dem Ursprung schöpfen, d.h. Erbenergie aktivieren, wenn wir die Yuan-Punkte nadeln.

Wie schon erwähnt, ist das angeborene Vermögen nicht wieder auffüllbar. Es ist ein Grundkapital, mit dem man wuchern, aber auch sparsam umgehen kann. Das alleinige Akupunktieren der Yuan-Punkte geht an die Reserven und kann sie vorzeitig erschöpfen. Im schlimmsten Fall verkürzen wir damit die Lebenserwartung des Patienten! Deshalb sind die Yuan-Punkte keine Allheilpunkte und schon gar nicht in jeder Behandlung (womöglich 3 x die Woche) zu nadeln!

Bei chronischen Krankheiten können die Yuan-Punkte einen Impuls setzen, der den erschöpften Mechanismus eines Organs wieder ankurbeln kann; vorher unkontrollierte Schwäche und verausgabte Kraft wird nun gebündelt und zielgerichtet eingesetzt. So macht es Sinn, die Yuan-Punkte als Katalysatoren einzusetzen. Wenn die "Maschine" dann wieder besser arbeitet, folgen andere Punkte, die mehr auf das erworbene Vermögen abzielen. Die Methoden der Mutter-Kind-Regel, der Mu-Shu-Methode oder auch der Xi-Spalt-Punkte stimulieren nachhimmlisches Qi, um ein Gleichgewicht herzustellen.

Die massive Nadelung der Yuan-Punkte kann den Zustand des Patienten nach anfänglicher Besserung wieder verschlimmern. So kann die durchaus gutgemeinte Wiederholung von Lu 9 Tai Yuan die Lunge zu heiß werden lassen und das Yin konsumieren: è Leere-Hitzezeichen wären die Folge. Eben solches kann beim Herzen, in der Leber und in der Niere passieren, besonders, wenn wir die Funktionen auf dem Boden einer schwachen Yin-Substanz anheizen wollen. Diese Möglichkeit einer Verschlimmerungsreaktion ist vermeidbar und sollte nicht mit der Aktivierung von Prozessen verwechselt werden, die von innen nach außen, den Gesetzen des Shang Han Lun folgend, passieren!

Ming Men beschreibt eine grundlegende Funktion in der chinesischen Medizin. Sie ist nicht nur ein Aspekt der Feuer-Niere, auch nicht nur das Bindeglied der zwei Nieren oder die Präsenz der rechten Niere und schon gar nicht nur der Punkt Du Mai 4 vom Wundergefäß Du Mai. Ming Men stellt eine grundlegende energetische Struktur dar, die, einem himmlischen Auftrag vergleichbar, unser ganzes Leben besiegelt und auch unseren Tod festlegt. Schicksalhaft werden wir durch Ming Men geboren, gnadenlos sterben wir, wenn das letzte Quentchen Essenz verausgabt ist. Es liegt nun an uns, ob wir unsere Lebensspanne vollständig erfüllen oder frühzeitig sterben durch exzessive Verhaltensweisen, die das Jing vorzeitig verbrauchen.

Resümee:

Dieser Beitrag sollte einen Einblick in das konstitutionelle Denken der chinesischen Medizin geben. Am Beispiel des Nieren-Funktionskreises wurde versucht, die Vielschichtigkeit des Konzeptes Shen = die Niere in den verschiedensten Aspekte der menschlichen Persönlichkeit zu erkennen und anzuwenden. Die therapeutische Relevanz für den Behandler liegt im Wesen der Akupunkturpunkte der Nieren- und Blasen-Leitbahn. Die Namen der Punkte geben uns Auskunft über ihren Anwendungsbereich in der individuell gestörten Persönlichkeit. Wenn z.B. der Punkt Bl 52 Zhi Shi = Zimmer des Willens heißt, vermittelt er uns eine Kraft, die tief auf die psychische Resonanz der Niere im Menschen wirkt und seine Potenz auf allen Ebenen zu stärken vermag!

Udo Lorenzen, Projensdorfer Str. 14, D-24106 Kiel

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Udo Lorenzen, seit 1988 selbständiger Heilpraktiker mit Praxis in Kiel; 1983 Ausbildung an der Academy of Chinese Acupuncture in Colombo/Sri Lanka; 1990 Diplom der Arbeitsgemeinschaft für Klassische Akupunktur und Traditionelle Chinesische Medizin e.V.; seit 1991 Studium klassischer chinesischer Texte, u.a. am sinologischen Institut der Universität Kiel; seit 1993 Leiter des Ausbildungszentrums Nord für Klassische Akupunktur und TCM; 1994 Studienreise nach China und Fortbildung an der University of TCM in Chengdu. Autor des Buches: "Terminologische Grundlagen der traditionellen chinesischen Medizin"; Co-Autor der Buchreihe: "Die Wandlungsphasen in der traditionellen chinesischen Medizin" Band 1-5; Autor vieler Fachartikel über traditionelle Akupunktur in deutschen und ausländischen Fachzeitschriften