Die acht außergewöhnlichen Gefäße Qi Jing Ba Mai in der

klassischen Akupunktur

- UDO LORENZEN -

Die 8 außergewöhnlichen Gefäße = Qi Jing Ba Mai sind Chong Mai, Ren Mai, Du Mai, Dai Mai, Yin Wei Mai, Yang Wei Mai, Yin Qiao Mai und Yang Qiao Mai.

Sie sind ihrem Wesen nach von den 12 Hauptleitbahnen verschieden, da sie weder eine direkte Verbindung zu den Zang-Fu-Organen haben, noch an die beständige Zirkulation von Qi und Blut angeschlossen sind. Sie haben, abgesehen von Du Mai und Ren Mai, keine eigenen Punkte, sondern verknüpfen bestimmte Akupunkturpunkte der Hauptleitbahnen. Damit stellen die 8 Gefäße ein übergeordnetes Regulationsprinzip für die 12 regulären Leitbahnen dar. Sie dienen als Auffangreservoirs für überschüssiges Qi und Blut und sind auf der Ebene der Essenzen = Jing das Bindeglied zwischen Himmel und Erde im Mikrokosmos. Hier verknüpfen sie das angeborene Vermögen des Vorhimmels Xian Tian Zhi Qi mit dem erworbenen Vermögen des Nachhimmels Hou Tian Zhi Qi und bilden so die grundlegenden Strukturen im Menschen.

Jedes der 8 außergewöhnlichen Gefäße hat einen spezifischen Punkt, der das Gefäß einschaltet oder aktiviert. Diese 8 Punkte, chin. Bai Mai Jiao Hui Xue, werden in der westlichen Akupunkturwelt etwas unglücklich als Schlüsselpunkt, Meisterpunkt, Kardinalpunkt oder Einschaltpunkt bezeichnet. Die Übersetzung des chinesischen Terminus lautet: Die Vereinigungspunkte mit den 8 Gefäßen und bezeichnet eher die Orte, an denen Hauptleitbahn und Extra-Gefäß zusammenfließen. Eine dem chinesischen am nächsten kommende Übersetzung wäre "Konfluenzpunkt", weil hier zwei energetische Qualitäten zusammenfließen.

Die frühesten Beschreibungen über die 8 Gefäße in den klassischen Texten finden wir um SU WEN (Kap. 1, 44, 60), im LING SHU (Kap. 2, 11, 17, 21, 33, 38, 62, 65) und etwas systematischer im NAN JING (Kap. 27-29).

Das NEI JING (Su Wen und Ling Shu) lässt in seinen Beschreibungen viele Widersprüche und Unklarheiten erkennen, man kann also vermuten, dass die 8 Gefäße in der Zeit vor der Han-Dynastie (ca. 200 v. bis 200 n. Chr.) noch keine einheitliche Anwendung fanden. Erst das NAN JING, ein bedeutendes Werk für die Akupunktur aus der Jahrhundertwende, systematisierte und vereinheitlichte die Verläufe und Funktionen dieser Gefäße. Das Nan Jing konnte jedoch hinsichtlich der Symptomatologie nur beschränkt und über das therapeutische Vorgehen gar keine Auskunft geben.

Die erste umfassende Darstellung über die konkrete Anwendung der 8 Gefäße ist im ZHEN JIU DA QUAN enthalten, eine vollständige Abhandlung über die Nadel- und Moxatherapie, von XU FENG, 1437. Hier finden wir zum erstenmal die Aufstellung der acht Konfluenzpunkte und die Kopplung der 8 Gefäße zu vier Paaren. Xu Feng war es auch, der einen Biorhythmus für diese Gefäße postulierte und die Methode der magischen Schildkröte Ling Gui Ba Fa entwickelte, welche diese zeitlichen Aspekte des Qi-Flusses in den Ba Mai berücksichtigt.

 

Im weiteren Verlauf der Ming-Dynastie gaben das ZHEN JIU DA CHENG von YANG Jl ZHOU (1601) und das LEI JING des ZHANG JIE BIN (1624) immer präzisere Anweisungen für die 8 außergewöhnlichen Gefäße. Selbst der berühmte chinesische Pharmakologe LI SHI ZHEN, der durch seine Zusammenfassung der damaligen chinesischen Arzneimittel im BEN CAO GANG MU (1590) Weltruhm erlangte, schrieb eine Monographie über die 8 Gefäße. Im Ql JING BA MAI KAO (ca. 1570) formulierte Li Shi Zhen u.a. typische Pulsbefunde und Behandlungsmöglichkeiten mit Kräutern für Erkrankungen der Qi Jing Ba Mai.

In neuerer Zeit waren es besonders die japanischen Akupunkteure (z.B. MANAKA, TOKITO, ITO, NAGATOMO) im Osten und französische Ärzte im Westen (DE LA FUYE, CHAMFRAULT, NIBOYET und der Sinologe SOLIE DE MORANT), die das Wissen um die Ba Mai pflegten und weiterentwickelten. In Deutschland schließlich gab es FRANZ HÜBOTTER und GERHARD BACHMANN, die bereits Anfang der 50-ziger Jahre großen Wert auf die Behandlung der 8 Gefäße legten.

In den Zeichen für Qi Jing Ba Mai finden wir:

Qi = seltsam, merkwürdig, außergewöhnlich, selten, wertvoll, wunderbar, kostbar, einzigartig; aber auch: unpaarig, Überschuss, ungerade. Das Schriftzeichen zeigt einen Mann, der etwas sieht, das bei ihm Überraschung und Bewunderung auslöst (WIEGER, L 58 J). Qi bedeutet also etwas, das man nicht jeden Tag sieht und das wie ein Wunder erscheint

Jing = Ader, Leitbahn, Meridian, Kanal, die Längsfäden eines Gewebes, in der Akupunktur die tragenden den Pfeiler des Leitbahnsystems

Ba Mai = die 8 Gefäße.

Man könnte also übersetzen: Die 8 Gefäße als außergewöhnliche Leitbahnen; oder: Die 8 Gefäße als Leitbahnen des Überschusses; oder – dies gibt auch Sinn –: Die seltsamen Bahnen der 8 Gefäße.

Andere populäre Übersetzungen für die Ba Mai, wie "Extra-Meridiane", "außergewöhnliche Gefäße" oder "unpaarige Leitbahnen" sind ebenfalls möglich, treffen aber nicht unbedingt den Kern der Sache: Extra-Meridian impliziert, dass es neben den 12 Hauptbahnen zwar noch andere, aber untergeordnete gibt, nämlich 8 Meridiane extra. Außerordentlich erweckt den Verdacht, es könnte sich um Strukturen außerhalb einer regulären Ordnung handeln, unpaarig sind die 8 Gefäße nur insofern, als es sich um die Verläufe von Chong Mai, Ren Mai, Du Mai und Dai Mai handelt. Wei Mai und Qiao Mai verlaufen paarig auf beiden Seiten des Körpers.

Die Übersetzung als "Wunder-Gefäß" ist nicht besser oder schlechter als die anderen, denn, die Ba Mai tun dann wertvolle Dienste, wenn eine Therapie über die Hauptleitbahnen nicht anschlägt, entweder, weil die Symptomatik zu komplex ist oder eine außergewöhnliche Schwäche resp. Leere vorherrscht. Als Gefäße des Überschusses können sie dann als Energiereservoir angezapft werden und wundersame Veränderungen einleiten. Somit kann es manchmal tatsächlich passieren, dass wir als Behandler Überraschung und Verwunderung über die Wirkung dieser Leitbahnen ausdrücken möchten.

Warum gerade acht Gefäße? Es ist sicher nicht zufällig, dass die Rede von 8 Gefäßen ist. Jede Zahl steht in der chinesischen Medizinphilosophie für ein Organisationsprinzip im Kosmos, sie symbolisiert einen ganzen Komplex von Gegebenheiten.

Mit der Zahl 8 verbinden wir die 8 Trigramme Ba Gua, Symbole des Wandels im ursprünglichen Interaktionsmuster zwischen Himmel – Mensch – Erde. Sie sind, wie der berühmte französische Sinologe MARCEL GRANET sagt, eine verdichtete Darstellung des Kosmos. Durch Potenzierung der Ba Gua entstehen die 64 Hexagramme, die eine Darstellung aller möglichen Gegebenheiten dieser Welt geben. Die 8 Trigramme sind keine statischen Bilder, sondern eher Wandelzustände, die in festgelegter Ordnung aufeinanderfolgen.

Es gibt zwei Anordnungsweisen für die Wandlungen der Ba Gua:

Die acht außergewöhnlichen Gefäße entsprechen diesen zwei Ebenen der Wirklichkeit im Mikrokosmos! Das Bindeglied zum Makrokosmos ist die magische Zahl Acht (8).

Einerseits sind die 8 Gefäße das Verteilernetz für das angeborene Vermögen des Vorhimmels Xian Tian Zhi Qi, das seinen Sitz in den Nieren hat. Dies entspricht dem vor-weltlichen Aspekt nach FU XI. Andererseits fungieren die Ba Mai auch als Auffangreservoir für überschüssiges Qi und Blut aus den 12 Hauptleitbahnen. Diese Energie entsteht nach der Geburt durch Atmung und Ernährung und stellt einen polaren Aspekt von Yin und Yang als Qi und Blut im Menschen dar.

Auch die Essenzen Jing sind polar vorhanden: das erworbene Vermögen Hou Tian Zhi Qi wird ebenfalls über die 8 Gefäße verteilt. Dies entspricht dem nachweltlichen Aspekt von König WEN. Die Qi Jing Ba Mai werden so zum Bindeglied zwischen vorhimmlischer und nachhimmlischer Wirklichkeit, sie harmonisieren Möglichkeit und Sein des Menschen auf allerhöchster Ebene.

Es ist klar, dass, wenn wir die 8 Gefäße einschalten, wir tiefer in die menschliche Energetik eindringen als über die regulären 12 Leitbahnen. Wir greifen tief in die Konstitution des Patienten ein und können sogar angeborene Schwachstellen behandeln und Dispositionen beseitigen. Aus dieser Perspektive wird deutlich, weiches die HAUPTLEITBAHNEN und welches die NEBENLEITBAHNEN sind:

Die 8 Gefäße verkörpern die formgebenden Strukturen im Menschen, und zwar vor der Geburt (Embryonalentwicklung) und nach der Geburt (Reifezyklen), die 12 Leitbahnen dienen nur der Formerhaltung des Organismus. Die Ba Mai sind die Wurzeln, die 12 Hauptleitbahnen die Zweige unseres Lebensbaumes. Sind die Wurzeln abgeschnitten, verdorren die Zweige und der Zerfall beginnt (vgl. NAN JING, Kap. 8).

 

 

Zusammenfassend sind die Funktionen der acht außergewöhnlichen Gefäße:

"Die Weisen des Altertums planten und bauten Abzugskanäle und Reservoirs, um die Wasserwege offen zuhalten und für außergewöhnliche Situationen vorbereitet zu sein. Bei schwerem Regen füllten sich die Kanäle und Reservoirs bis zum Rand... Im menschlichen Organismus, wenn die Lo-Gefäße bis zum Überfließen gefüllt sind, kann keine der Hauptleitbahnen noch irgendetwas aufnehmen. Dann fließt der Überschuss von Qi und Xue aus diesen Gefäßen in die 8 außergewöhnlichen Gefäße."

(Nan Jing, Kap. 27)

Sie stehen in enger Beziehung zu den Nieren, welche die Essenzen Jing speichern. Die 8 Gefäße verteilen die Essenzen über den ganzen Organismus und versorgen besonders die Regionen, die von den regulären Leitbahnen nicht erreicht werden. Dabei arbeiten sie eng mit den San Jiao (3 Erwärmer) zusammen, die ein spezieller Bote für die Verteilung des Jing sind, besonders für das Yuan-Qi (vergl. NAN JING, Kap. 66).

"Das Gehirn, das Mark, die Gefäße, die Knochen, die Gallenblase und der Uterus werden von den Einflüssen (Qi) der Erde geformt. Sie speichern Yin (Substanzen) und entsprechen der Erde. Also ist ihre Funktion, zu speichern, ohne abfließen zu lassen. Man nennt sie außergewöhnliche Fu." (SU WEN, Kap. 11). Die 6 besonderen Fu-Organe werden von den 8 Gefäßen mit Essenzen Jing versorgt, die hier gespeichert werden. Es sind grundlegende Strukturen, die eine besondere Beziehung zu den Essenzen haben.

 

In der Tiefe wachen die Qi Jing Ba Mai jedoch weiterhin über die Gesundheit und treten immer dann in Aktion, wenn das Leben ernsthaft gefährdet ist. Es sind die Reserven der Wundergefäße, die es uns ermöglichen, bei einem Unfall aus der Gefahrenzone zu kriechen trotz schwerer Verletzungen; die Sportler kennen diese Extra-Energie als "autonom geschützte Reserve", die gerne über Drogen und Doping angezapft wird.

Durch das Öffnen ihrer Konfluenzpunkte können wir dann ein gewaltiges Potential an Qi, Blut, Yin, Yang oder Jing freisetzen, um grundlegende Schwächen und Leerezustände zu beheben. Die abschließende Nadelung der Kopplungspunkte bewirkt, das dieser Prozess sich maßvoll vollzieht und einen Abschluss findet.

Über die Reihenfolge beim Nadeln der Schlüssel- und Kopplungspunkte gibt es in der Literatur unterschiedliche Meinungen; in der Praxis hat es sich bewährt, den Schlüsselpunkt zuerst zu nadeln (einseitig: bei ♀ rechts, beim ♂ links), dann Punkte für die spezifischen Erfordernisse, schließlich als letzten Punkt dann den Kopplungspunkt ( bei ♀ links, beim ♂ rechts). Es scheint, als ob die Nadelung der Einschaltpunkte der Ba Mai am Anfang oder am Ende einer Behandlung der Stimulus für ihre immense Wirkung darstellt.

  1. Paar: Dü 3 öffnet den Du Mai als Yang-Reservoir,
  2. Bl 62 hilft, das Yang optimal zu verteilen;

  3. Paar: Lu 7 öffnet den Ren Mai als Yin-Reservoir,
  4. Ni 6 hilft, das Yin optimal zu verteilen;

  5. Paar: Mi 4 öffnet den Chong Mai als Blut-Reservoir,
  6. P 6 hilft, das Blut im Inneren optimal zu vernetzen;

  7. Paar: Gbl 41 öffnet den Dai Mai als Qi-Regulator,

SJ 5 hilft, das Qi an der Außenseite optimal zu vernetzen.

Als Bahnen für das Jing helfen sie außerdem, die Essenzen von der Niere aus der Tiefe nach außen in die Peripherie zu bringen. Durch die Einschaltung der Wundergefäße wird das Jing wieder "eingesammelt" und zur Niere als Speicher zurückgeführt.

Als ob geheime Schleusen geöffnet werden, kann über die Aktivierung der Wundergefäße ein grundlegender Mangel behoben werden. Die Veränderung ist für den Therapeuten besonders am Puls erkennbar, der sich qualitativ verbessert. Der Patient empfindet eine Behandlung über die Wundergefäße oft als so gravierend, dass er ein völlig neues, lange nicht gehabtes Lebens- und Glücksgefühl empfindet.

 

Udo Lorenzen

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