TOD UND ERNEUERUNG

- von Richard Wilhelm -

Nach der chinesischen Weltauffassung sind es zwei polare Gegensätze, die alles erscheinende Dasein bedingen, die Gegensätze des Lichten und des Schattigen, Positiven und Negativen, Yang und Yin. Sie gehen auch in das Metaphysische hinüber und geben uns da die Gegensätze von Leben und Tod. Es ist nicht Zufall, daß in einer der ältesten chinesischen Urkunden unter dem Glück, das dem Menschen verheißen ist, auch das steht, daß er einen Tod findet, der das Leben krönt, seinen Tod, und daß unter dem Unglück, das den Menschen bedroht, das schlimmste ein unzeitiger Tod ist, ein Tod, der das Leben zerreißt, statt es zu vollenden. So sehen wir, daß gerade diese dunkle Seite, die das Licht begleitet, nicht nur etwas Negatives ist, das dem Leben gegenübersteht, sondern daß von ihrem Vorhandensein und von ihrer Gestaltung zugleich das Lichte der Lebensseite bestimmt wird. Es ist nicht nur Vorsicht oder Aberglaube, daß die Alten niemand vor seinem Tode glücklich preisen wollten, sondern es ist tatsächlich so, daß bis auf einen gewissen Grad das Leben seinen Sinn bekommt eben durch das, was außerhalb des Lebens steht, durch dieses dunkle Etwas, dem wir entgegengehen.

Wenn wir diese Seite ins Auge fassen wollen, so bedarf es dazu eines gewissen Mutes, denn es hat eigentlich niemand ein Recht, vom Tode zu reden, der den Tod noch fürchtet, und wir müssen uns daran gewöhnen, diese Furchtlosigkeit in uns zu erziehen, die bereit ist, alles, was uns begegnet, ins Auge zu fassen und mit allem, was die Zukunft bringt, sich auseinanderzusetzen. Fragen wir nun: Was hat uns China zu diesem Problem des Todes zu sagen?

Das Problem ist von Anfang an etwas anders gestellt als in Europa. Früher wurden in Europa Leben und Tod einander gegenübergestellt als zwei Abschnitte der Zeit von ungleicher Länge: ein ziemlich kurzes Leben, das 70, 80 oder auch 100 Jahre währte, das einmal einen Anfang in der Zeit nahm und das trotz seiner Kürze doch von prinzipieller Bedeutung war, denn von ihm hing es ab, oh man für alle Ewigkeit, d. h. eine Zeit ohne Aufhören, entweder in den Himmel oder in die Hölle kommen sollte. Diese Auffassung, die wohl ursprünglich persischem Glauben entspringt und dann gleichzeitig mit gewissen platonischen Einflüssen auch im Christentum Aufnahme gefunden hat, wird in Europa heute allgemein als unbefriedigend empfunden, ohne daß wir im allgemeinen etwas anderes an ihre Stelle zu setzen hätten. Man bejaht die eine Hälfte, nämlich das kurze Leben auf dieser Erde, als Wirklichkeit und steht der anderen Hälfte, nämlich dem, was nachher kommt, zweifelnd gegenüber.

Im Osten nun ist der Begriff der Wirklichkeit etwas anders auf diese beiden Hälften verteilt. Die eine Hälfte, die uns so wichtig erscheint, das Leben, ist im Osten gleichsam ihres grellen Sonnenlichtes beraubt. Sie ist nicht so real wie bei uns. Denn Wirklichkeit bedeutet im Osten letzten Endes doch nur Erscheinung, nur eine Wirklichkeit innerhalb der polaren Entzweiung, die oben erwähnt wurde. Und wenn auf der einen Seite das Leben nicht so massiv ist, so ist auf der anderen Seite auch die schattenhafte Welt des Todes nicht etwas so rein Negatives, sondern die Nacht ist hineinbezogen in den großen Zusammenhang von Leben und Tod. Das geht so weit, daß Leben und Tod im gleichen Maße zur Welt der Erscheinung gehören und das Wesen jenseits von beiden ist.

Es ist natürlich im Osten die Annahme ganz allgemein, daß das, was einen Anfang hat, auch ein Ende nehmen muß. Das Leben, das in der Zeit begonnen hat, wird auch in der Zeit wieder enden. Aber ebenso wird, was ein Ende hat, auch wieder einen Anfang nehmen. Das Leben, das in der Zeit endigt, wird auch in der Zeit wiederbeginnen. Es ist hier der Gedanke des Kreislaufs ausgesprochen, dieses Kreislaufs, der so, wie er Tag und Nacht in gleichem Maße umfängt, auch Tod und Leben in sich faßt. Dieser Kreislauf ist uns ja auch in der ganzen organischen Natur geläufig. Wenn wir im Herbst die Blätter fallen sehen und die Säfte sich zurückziehen aus den Endungen der Zweige, so wissen wir gewiß: es ist das ein Ende, dem ein neuer Anfang folgen muß; wenn die Sonne zurückkehrt, wenn der Frühling wieder kommt, so werden die Säfte wieder emporsteigen, und neue Blätter werden hervorsprießen an der Stelle, wo die alten gefallen sind.

Wenn wir diese allgemeine Anschauung von Tod und Leben, die dem fernen Osten geläufig ist, zugrunde legen, so kommen wir nun auf verschiedene Lösungsversuche zu sprechen, die dem menschlichen Leben einen Sinn geben sollen.

Zuerst die konfuzianische Auffassung: Konfuzius (Kong Zi) selbst hat natürlich über diese Dinge auch nachgedacht, aber er hat sich gehütet, viel darüber zu reden. Als ein Jünger ihn über den Tod fragte, sagte er: "Du kennst das Leben noch nicht, wie willst du den Tod kennenlernen? Warte, bis du tot bist, so wirst du es von selbst erfahren."

 

 

Ein anderes Mal sagte er, als ein Jünger ihn fragte, oh die Toten Bewußtsein haben: "Wollte ich sagen, die Toten haben Bewußtsein, so wäre zu fürchten, daß ehrfürchtige Söhne und gehorsame Enkel die Lebenden zu kurz kommen ließen um der Bestattung der Toten willen. Wollte ich sagen, die Toten haben kein Bewußtsein, so wäre zu fürchten, daß ungeratene Söhne ihre Eltern unbestattet liegen ließen."

Darum ist der Standpunkt des Kong Zi, daß man das Volk in diesen Dingen im Zweifel, in der Spannung läßt, damit nicht dogmatische Glaubensvorstellungen das Verhalten bestimmen, sondern die persönliche Würde, der innere Imperativ es ist, der die Handlungen der Menschen zum Rechten lenkt. So sehen wir, daß Kong Zi diese Fragen im allgemeinen ablehnte. Er wollte kein Dogma aufstellen, sondern er wollte die sittliche Handlungsweise des Menschen ganz frei gestalten, sie loslösen von den beiden großen Menschenfeinden: Furcht und Hoffnung.

Dennoch kann man nicht sagen, daß im Konfuzianismus keine Anschauung über den Tod vorhanden gewesen wäre, sondern es finden sich ganz deutliche Vorstellungen davon, und es ist nur Unkenntnis, wenn man lange Jahrhunderte geneigt war, in Kong Zi nur den Rationalisten zu erkennen, der mit einer gut bürgerlichen, etwas hausbackenen Moral die Millionen der Chinesen durch die Jahrtausende geführt habe. Immer wieder taucht dieses Bild des Kong Zi auf, es ist beinahe unzerstörbar. Das kommt wohl davon her, daß in der Zeit der Aufklärung Kong Zi falsch verstanden nach Europa importiert wurde und daß dieses falsche Bild, das seinerzeit sehr hoch geehrt wurde, mit den veränderten Zeiten auch gering geachtet wird.

Was sind nun die Anschauungen des Konfuzianismus über den Tod? Wir finden sie in den Anhängen zum Buch der Wandlungen, die auf Kong Zi und seine Schule zurückgehen. Hier finden wir die Vorstellung, daß es innerhalb der Welt der Erscheinungen ein Polares gibt, man könnte es bezeichnen mit Himmel und Erde oder mit Licht und Dunkel.

Von diesen beiden Prinzipien heißt es:

"Den Blick nach oben gerichtet im Betrachten der Figuren am Himmel, den Blick nach unten gerichtet im Erforschen der Linien der Erde: so erkennt man die Verhältnisse der dunkeln und der lichten Welt. In dem man dem nachgeht, wie die Anfänge zum Ende zurückführen, erkennt man die Prinzipien von Tod und Leben. Indem Same und Kraft zusammentreten, bilden sich belebte Wesen, indem der Animus entschwebt (und die Anima zur Tiefe sinkt), entsteht der Verfall (des Lebens): Daraus erkennt man die Umstände der Geister und Dämonen."

Das Zusammentreten von Samen (Jing) ,dem Bildhaft-Ideenmäßigen) und Kraft (Po,dem Stoffhaft-Gestaltgebenden) bewirkt die Entstehung belebter Substanz (Xing). Auf der anderen Seite haben wir etwas davon Verschiedenes, es ist das entstehende Bewußtsein (Animus, Hun), und dieses entstehende Bewußtsein enthält gleichsam präformiert ein Urbild dessen, was der Mensch ist. Und indem nun dieses präformierte Bewußtsein, dieses Geistige, sich mit der Natur (Kraft) vereint – nicht so, daß sie sich mischen würden, sondern daß sich eine polare Spannung bildet, die eine Art Rotation hervorruft –, entsteht das seelische Leben. Das seelische Leben bewegt sich also dauernd um diese beiden Pole, um den Pol des Bewußtseinhaften und um den Pol des Krafthaften. Und diese Bewegung zieht die Elemente an sich heran und gestaltet sie zu einer Form, die diesem Wesen entspricht.

Charakteristisch ist nun, daß dem ganzen Leben diese Doppelheit zugrunde liegt. In dem Moment, heißt es einmal, wo das Kind den ersten Schrei tut, da trennen sich die beiden Prinzipien, die vorher im Mutterleib noch vereint schlummerten, und finden sich das ganze Leben nie wieder. Das Bewußtsein ist von da an das Schauende, das Wissende. Es ist auch weiter abwärts das Empfindende und in der tiefsten Tiefe das Fühlende. Von da aus reicht es in das untere Gebiet hinein, in das Kraftgebiet des Organischen. Aber das Organische ist dem Bewußtsein nur indirekt zugänglich, es ist keineswegs ein willfähriges Werkzeug, sondern es ist ein Werkzeug, mit dem der Geist, der zwar das Höhere ist, aber das Machtlosere, zu kämpfen hat. Von hier aus erkennen wir deutlich, wie wir es zu verstehen haben, daß das Bewußtsein und die Kraft sich wieder trennen. "Der Animus entschwebt, und die Anima sinkt zur Tiefe." Das ist der Tod. Und im Moment des Todes, da nehmen die beiden Prinzipien einen anderen Aspekt an.

Während des Lebens führen sie eine täuschende Einheit im Leibe: das, was wir Person nennen (persona, eigentlich die Maske), das ist im Chinesischen der Leib (Shen). Der Leib ist das Einheitsband der verschiedenen seelischen Kräfte, die im Menschen tätig sind. Aber innerhalb dieses Bandes sind sie immer als verschiedene Kräfte tätig, und nur dem Weisen gelingt es, die Harmonie dadurch herzustellen, daß er seinen Standpunkt im Zentrum dieser Bewegung nimmt.

Beim Tode zerfällt der Leib, und damit hört auch die Täuschung der Einheit auf. Es heißt einmal im Buch der Urkunden vom Tode eines Fürsten: "Emporschweben und Hinabsinken". Die beiden Prinzipien sind so beschaffen, daß das eine, die Körperseele, die Anima (Po), hinabsinkt und das andere, das Geistnahe, der Animus (Hun), hinaufsteigt. Die Elemente trennen sich, und was hinabsinkt, das gerät in den Zustand der Auflösung.

Mit dem Körper löst sich auch die Anima auf. Aber diese Auflösung bedeutet nicht einfach Vernichtung, sondern ebenso wie die körperlichen Bestandteile in der Verwesung zwar Umschichtungen unterliegen, aber nicht verschwinden, ja wie sie vielleicht sogar noch organische Verbindungen bilden, die dann wieder von neuem Organischem aufgenommen werden, ehe sie ganz abgebaut sind, so nimmt diese Anschauung an, daß dieses Körper-Seelische auch aus Einheiten anderer Art bestehe, die nicht ganz abgebaut werden, sondern zwar auch hinuntersinken mit den Stoffen, in denen sie einst gewaltet haben, und dann natürlich keine Persönlichkeit mehr sind, aber doch noch irgendwie als Fähigkeiten, als Tendenzen oder als Kräfte gedacht werden können.

Freilich, mit den körperlichen Elementen zerstreuen sich auch diese psychischen Elemente und sind bereit, zu neuem Werden zusammenzutreten. Dieses Werden ist sehr einfach zu denken: Der Kreislauf des Lebens nährt sich von den abgebauten Resten des Todes, und auf diese Weise gehen die organischen Bestandteile in neues Leben wieder über. Das bringt nun mit sich, daß in China die Vorstellung herrscht, daß die Seele des Landes es ist, die die Menschen durchdringt. In diesen Lebensbestandteilen, die in die Erde gehen und aus der Erde wieder hervorkommen, sind Kräfte, die auch die Bildung der Menschen beeinflussen. Es ist wie ein Lebensreservoir, das dem Ganzen eine deutlich bestimmte Atmosphäre verleiht, so stark, daß die Gestaltungskraft des Gestorbenen, aber organisch noch nicht ganz Abgebauten, sogar die Kraft der Rasse im europäischen Sinne noch übertrifft.

Es wird selbstverständlich auch in China die Erbmasse von den Eltern her mit in Betracht gezogen. Aber die Erbmasse wird immer wieder verknüpft mit dem großen Bestand der uralten Ahnen, die in diesem väterlichen Boden ruhen. Daher auch der Aberglaube, daß der Chinese in seiner Heimat beerdigt werden will.

Wo er herstammt, nicht nur in seiner körperlichen Gestaltung, sondern auch in seinem psychischen Aufbau, dahin will er wieder zurückkehren. Und so sehen wir, daß selbst solche Chinesen, die alles Chinesentum abgestreift haben und im Ausland Dienste tun, ihren letzten Groschen ersparen, damit ihre Leiche in die alte Heimat zurückgebracht werden kann. Daher auch das oft krankhafte Heimweh, wenn der Chinese von der Heimat fern ist, wenn er losgelöst ist von dem mütterlichen Boden, der ihn hält und trägt, daher auch die ekstatische Freude, wenn er wieder zurückkehrt.

Ich war mit dem Dichter Xu Zi Mou einmal in China zusammen, als er von einem jahrelangen Aufenthalt in Europa wieder in seine Heimat zurückkehrte, und werde nie vergessen, wie er in die Worte ausbrach: "Hier diese Erde, hier diese Flüsse, hier diese Bäume, das ist mein Fleisch und Blut, davon bin ich genommen, davon lebe ich, und jetzt bin ich wieder daheim!" Man sieht, wie hier Tod, Verwesung und Leben einen Kreislauf bilden, der nicht theoretisch gelehrt, sondern unmittelbar empfunden wird.

Nun aber ist außer dieser vegetativen Seele, diesem körperlich Lebenden, noch eine andere Seele da, die ich mit Animus bezeichne; ich will nicht sagen das Höhere, denn damit bekommt die Sache schon eine Wertung, sondern das Intellektuelle, das Geistige oder noch deutlicher: das der Aufnahme des Geistes Fähige. Denn Geist ist an sich etwas, das der Mensch nicht aus sich produziert, sondern das er erst erwerben muß im Laufe des Lebens. Und vielleicht ist das Leben eben dazu da, daß es vergeistigt wird. Dieses Etwas enthält nach konfuzianischer Anschauung nach dem Tode zunächst noch eine Art von Bewußtsein. Es ist nicht so, daß beim Eintritt des Todes nun alles aus wäre, sondern, wie der Körper sich nicht sofort auflöst, sondern zunächst seine Form behält, so auch das Psychische. Die beiden Elemente trennen sich: das eine bleibt beim Körperlichen, und das andere löst sich vom Körperlichen los, ist aber noch irgendwie mit dem Körperlichen verbunden, so daß es selbst noch eine gewisse Art von Wahrnehmung hat, daß der Tote z. B. noch hört, was man in seiner Anwesenheit spricht – weshalb es in China üblich ist, in einem Totenzimmer nicht üble Worte zu reden, sondern alles so zu reden, daß es gleichsam in Gegenwart des Toten geschieht, daß er ruhig sein kann und Zeit gewinnt, um diese Loslösung vom Körperlichen zu vollziehen.

Es ist eine dynamische Auffassung allgemein in China üblich. In China unterscheidet man überhaupt nicht so massiv "Substanz", sondern das, was wir Substanz nennen, ist in China viel eher ein Energiezustand.

Indem also der Geist nicht etwas ist, das substantiell besteht, aber auch nicht etwas, das nicht besteht, sondern sozusagen eine Bewußtseinstendenz, so hat er natürlich ein etwas prekäres Dasein, wenn er nicht im Laufe des Lebens sich so konzentriert hat, daß er gleichsam um sich herum einen feinen Leib gebaut hat, einen Leib aus Gedanken und Werken, einen Leib geistiger Art, der ihm nun einen Rückhalt gibt, wenn er sich von dem Körper, der bisher sein Gehilfe war, loslösen muß, weil er hier keine Herberge mehr findet. Dieses Psychische ist zunächst etwas sehr Zartes, und nur bei höchsten Weisen hat es in sich selbst einen Halt über den Tod hinaus.

Bei den gewöhnlichen Menschen muß von den Hinterbliebenen dafür gesorgt werden. Hierin liegt der Sinn der Ahnenopfer. Das Opfer, das den Ahnen dargebracht wird, hat eben die Bedeutung, daß man durch frommes Gedenken dieses Psychische des Verstorbenen gleichsam in Lebendigem wohnen läßt. Jeder gute Gedanke, der an den Hingegangenen entsandt wird, gibt ihm eine Kraft und bewahrt ihn vor dem Zerflattern ins Nichts. Man nimmt in der Regel nicht an, daß dieses Leben, obwohl es mit dem Tode nicht zu Ende ist, ein ewiges Leben wäre, sondern es gibt ein allmähliches Verdämmern, einen zweiten Tod. Denn die Nachkommen gedenken ihrer Ahnen nur so lange, als noch eine lebendige Tradition von ihnen unter den Hinterbliebenen vorhanden ist. Darum werden in den vornehmeren Geschlechtern mehr Generationen Ahnenopfer dargebracht als bei dem gewöhnlichen Volk, das sein Gedenken über etwa vier oder fünf Generationen selten hinausführt. Hier mag wohl noch ein anderer Gedanke mit hereinspielen, daß nämlich die Ahnen, nachdem sie eine Zeitlang im Jenseits gelebt haben, wieder hereinkommen in die Welt. Und zwar scheint in ältester Zeit eine Generationenfolge in der Weise angenommen worden zu sein, daß sich eine Generation jeweils in der übernächsten wieder verkörpert: der Großvater also z. B. im Enkel wieder erscheint. Selbstverständlich ist das nicht mechanisch aufzufassen, daß also der Enkel nun wirklich der Großvater in Person sei, sondern es ist sozusagen serienhaft zu verstehen, daß im Enkel etwas von der Generation des Großvaters lebt, etwas von der Art des Großvaters, aber allerdings nicht nur so, daß er ihm zufällig ähnlich ist, sondern daß wirklich von den Lebenskräften des Großvaters etwas in ihm wieder hervortritt. Daher kommt es, daß die Ahnen, wenn eine gewisse Zeit vergangen ist, gleichsam in das allgemeine geistige Reservoir zurückkehren und von da aus früher oder später wieder als Anregungen und Impulse des Lebens sich mit entstehenden Menschenleibern und Körperseelen vereinigen.

Das ungefähr ist die Vorstellung des Konfuzianismus. Eine Ausnahme ist nur darin gegeben, daß man die Menschen nicht als in gleicher Weise unsterblich betrachtet. Wer sein Sein harmonisiert hat und wer dieses Dasein so weit gemacht hat in seinen Wirkungen, daß von ihm Kräfte ausgehen – wir können sie magische Wesenskräfte nennen - die umgestaltend, schöpferisch wirken, der wird im Tode nicht ein Zurückkehrender, ein Gui, sondern ein Shen, d. h. ein Wirkender, Göttlicher; er wird zum Heros, der mit dem Kulturganzen als solchem verbunden ist und der, solange die Kultur besteht, auch besteht, weil er gleichsam im Pantheon dieser Kultur ein dauerndes Leben führt. So ist z. B. Kong Zi immer noch als gegenwärtig gedacht, und nicht nur er, sondern auch andere Große, wie z. B. ein You Fei , der treue Ritter ohne Furcht und Tadel. Aber das sind nur die höchsten Menschen, denen es gelungen ist, die Entelechie, die in ihnen angelegt ist, in eine dauernde Rotation zu versetzen dadurch, daß sie im Kulturzusammenhang schöpferisch verwurzelt bleiben.

Von hier aus einen Schritt weiter kommen wir, wenn wir den Daoismus uns vergegenwärtigen. Der Daoismus sieht im Menschen nichts, das vom übrigen Leben wesentlich verschieden wäre. Er sieht nur eine besondere Spezies des Lebens im Menschen, eine vielleicht etwas lästige Spezies, weil sie mit dem zweifelhaften Geschenk eines Bewußtseins begabt ist und daher die Fähigkeit hat, Torheiten zu machen, während andere Wesen nur naturgemäß von selbst leben und sterben. Für den Daoismus ist das Problem ein etwas anderes. Für ihn ist der Lebensrhythmus einfach das Heraustreten und das Hineingehen: Heraustreten ist das Geborenwerden, Hineingehen ist das Sterben.

Aber dieser Rhythmus des Heraustretens und des Hineingehens vollzieht sich dauernd, und so sagt Lao Zi : "Alle Wesen treten mit Macht hervor. Ich sehe ihnen zu und schaue, wie sie wieder zurückkehren zur Wurzel."

Diese Wurzel, die zugleich Samen ist, ist das Ewige, ist das Leben. Und wenn es heißt: "Der Geist der Tiefe stirbt nicht, das ist das ewig Mütterliche das ewig Weibliche. Endlos drängt sich’s und ist doch wie beharrend," so ist damit eben dieser Wasserfall des Lebens gemeint, der in der Sonne stäubt, aus immer neuen Tropfen sich zusammensetzt und doch in seiner Form beharrend ist, nicht weil die Tropfen beharrend wären, sondern weil die Bedingungen, durch die die Tropfen in ihre Bahn geleitet werden, dieselben bleiben. Und so ist die Seele des Menschen wie das Wasser, das vom Himmel kommt und zum Himmel steigt und geformt wird vom Dao. Das ist das Schicksal des Menschen.

Von hier aus erscheint das übermäßige Wichtignehmen von Leben und Tod eigentlich nur noch als Mißverständnis; so finden wir denn auch bei einem Zhuang Zi, wie er dem Tode mit leichtem Herzen entgegensieht. Und wir finden auch sonst bei den Daoisten, wie sie den Tod einfach als einen leichten Abschied betrachten. Denn wenn auch das Bewußtsein im Tode schwindet, so ist ja das Bewußtsein ihnen nicht das Höchste, sondern im Gegenteil: es ist die schwärende Wunde, an der man das ganze Leben über leidet, und wenn das Bewußtsein mit dem Tode aufhört, so ist es, wie wenn man einen an den Füßen Aufgehängten von seinen Banden löst. Dazu ist freilich eine Übertragung des Ichgefühls nötig. Solange ich mich mit dem vergänglichen Körper identifiziere, werde ich mit dem Vergänglichen dieses Körpers leiden. Denn ich stehe dann in dem Irrtum, daß ich im Tode vergehe, während nur die Bestandteile, die mich umgeben, sich wieder trennen. Darum ist für Lao Zi und überhaupt im Daoismus das Problem das, daß man aus dem Vergänglichen heraus sein Ich erweitert auf immer weitere Kreise, auf die Familie, auf das Volk, auf die Menschheit, auf die Welt. Und schließlich: wer mit Sonne und Mond zusammenwandeln kann, der hat ein Dasein, das so lange dauert wie Sonne und Mond, und wer über alles Werden hinaus ist, der lebt ewig.

Es ist hier derselbe Aspekt wie im Konfuzianismus, nur losgelöst von den menschlichen Verhältnissen, übertragen auf das Gesamtleben der Natur.

Der Buddhismus geht noch einen Schritt weiter, indem er das Leben mit dem Leiden identifiziert. Es ist hier nicht unsere Aufgabe, den südlichen Buddhismus darzustellen, der ja auch in Europa längst bekannt ist, sondern es soll nur der Rhythmus des Geschehens gegeben werden, wie er im nördlichen chinesischen Buddhismus sich findet. Wenn der Mensch geboren wird, ist er nicht eine Substanz, sondern eine Zusammenfassung von Zuständen bewegter Materie. Es ist ungefähr wie ein Windwirbel, der Staub aufwirbelt. Der Staubwirbel scheint etwas zu sein, was im Raume besteht. Aber er ist in Wirklichkeit nichts, es ist nur die Beschaffenheit des Luftdrucks, die immer neue Wirbel verursacht. Und solange der neue Wind in den Wirbel hereinkommt, wird er auch neue Staubkörner aufwirbeln, und der Staubwirbel wird den Anschein eines dauernden Daseins erwecken. So ist der Mensch, solange er lebt. Er ist eine Wirbelbewegung, die zusammentritt aus den verschiedensten Ursachen körperlicher und psychischer Art und die, ohne daß sie Substanz ist, doch Dauer hat, weil eines das andere immer notwendig nach sich zieht: die Geburt zieht notwendig nach sich das Aufblühen, der Mensch nimmt Nahrung zu sich, er wächst, er wird erwachsen, es kommt die Liebe, dann kommt die Krankheit, es kommt das Alter, es kommt der Tod. Aber hier hört der Kreislauf nicht auf. Solange die Ursachen nicht erschöpft sind, die diesen Bewegungszyklus bewirken, wird er sich immer wiederholen, wenn er in die Sichtbarkeit eintritt, ebenso wie ein Wirbelwind wohl unsichtbar wird, wenn er an staublose Stellen kommt, aber neuen Staub aufwirbelt, wenn er wieder in staubige Gebiete eintritt. Man nennt das Seelenwanderung oder Kreislauf der Geburten. Aber beide Ausdrücke sind nicht ganz genau.

Im Tibetanischen herrscht die Auffassung, daß die Seele nach dem Tode nacheinander in drei verschiedene Zustände übergeht. Daher das seltsam Verklärte auf allen Totenmasken, wenigstens auf allen, die ruhig gestorben sind, nicht in Entsetzen und Erschütterung. Der Friede, den der Tod über das Antlitz breitet, kommt daher, daß der Schein für einen Augenblick verschwindet und jenes Nichts, das doch jenseits von Etwas und Nichts ist, für einen Moment in den Gesichtskreis eintritt. Wenn es in diesem Moment nun dem Verstorbenen gelingt, dabei zu verharren, dann hat er das Nirwana erreicht. Aber das ist nur wenigen möglich. Die meisten sinken dann eine Stufe tiefer, und da kommen Bewußtseinsbilder, wie Träume zunächst die guten: es erscheinen Gottheiten. Diese Gottheiten sind, wie ganz deutlich erklärt wird, nicht etwas, das für sich besteht, sondern diese guten Gottheiten sind nur Emanationen des eigenen Herzens, die nun geschaut werden, als wären sie außerhalb. Und nach den guten Gottheiten – es ist sehr interessant, wie der psychische Abbau sich vollzieht – kommen die schrecklichen Gottheiten. Aber diese schrecklichen Gottheiten sind auch nichts, das zu fürchten wäre. Es sind dieselben Kräfte wie die guten Gottheiten, nur unter anderem Aspekt gesehen. Wie jene Emanationen des Herzens, so sind sie Produkte des Gehirns. Beide sind Produkte des eigenen Innern und sind daher weder zu lieben noch zu fürchten, sondern sie sind eigentlich nur Versuchungen, die an den Menschen herantreten, um ihn wieder hereinzulocken in die Welt des Scheins. Dann kommt die zweite Stufe, da der Abbau weiter geht. Der Mensch wendet sich vom Vergangenen ab. Es kommt nun zu einer Auswirkung der Lebenstaten, zunächst auf psychischem Gebiet. Das sind die Höllen und die Himmel. Es sind Zwischenstufen. Ewige Höllenstrafen kennt nur das Christentum, das hierin seinem Stifter am schrecklichsten untreu geworden ist. Aber auch diese psychischen Wirkungen der Taten bauen sich allmählich ab. Die Seele verdämmert nun immer mehr und verliert immer mehr das Bewußtsein. Aber selbstverständlich bleibt dieser Wirbel zunächst noch erhalten, nur wird er gleichsam nicht mehr genährt, es ist ein Luftwirbel ohne Staub; und das erregt in der Seele das Gefühl der Unseligkeit. Wer nicht den Eingang zur Rettung gefunden hat, kommt nun in den Zustand des Hungerns und Dürstens nach Existenz.

Er fühlt sich aufgelöst, alles Körperliche ist verfallen, es hat sich eine Schicht um die andere von ihm gelöst, und doch hat der Durst nach Leben nicht aufgehört. So drängt er wieder nach neuer Existenz und naht sich wieder der realen Welt. Es kommen Wunschbilder.

Und wo ein Kind auf Erden gezeugt wird, da drängen sich diese hungrigen Seelen herbei und suchen den Eingang wieder durch den Mutterleib zu neuer Geburt. Denn wenn auch zur Geburt die Vereinigung des männlichen und weiblichen Pols im Körperlichen nötig ist, so gibt sie allein doch noch keinen Menschen, sondern es kommt im Moment der Vereinigung eine dieser existenzdurstigen Seelen dazu, die immer bereit sind, ins Leben wieder herein-zudrängen. Das ist auch der Grund, warum so viele unerwünschte Kinder kommen: die Kinder kommen nicht nach dem Willen der Eltern, sondern sie kommen nach dem Willen dieser unglücklichen Seelen, die hereinzudrängen bestrebt sind zu neuem Dasein, in wildem Wahn; denn es ist ja Wahn, was sie treibt.

Man kann oft in Europa hören, die Seelenwanderungslehre sei doch ungemein beruhigend, weil sie die Überzeugung verleihe, daß man später wieder auf die Welt komme. Das ist ein ganz unorientalischer Gedanke. Die Seelenwanderungslehre ist die große Last, unter der der Orient leidet. Denn nicht sowohl das Leben und das Glück des Lebens ist es, was in den Blickpunkt tritt, sondern der Tod. Sobald man wieder in dieses Leben hereintritt, steht am Ende wieder der Tod. Man wird also wiedergeboren zu immer neuen Toden, zu immer neuem Gräßlichem, Fürchterlichem, das man erdulden muß – bis endlich wieder die Lösung eintritt. Hier tritt nun die Karma-Idee hinzu, die darin besteht, daß diese Seelenwirbel sich naturgemäß die werdenden Leiber aussuchen, die ihnen am meisten gemäß sind. Der wiederverkörperte Mensch (der also nicht einfach eine Wiederholung des vergangenen ist, da das Körperliche sich aus ganz anderen Elementen und Formen zusammensetzt und nur die Impulse noch vorhanden sind) wird sich solche körperliche Fähigkeiten aussuchen, durch die er seine zentrale Richtung am besten verwirklichen kann. Daher kommt einer, der in diesem Leben Juwelen gestohlen hat, im künftigen Leben dazu, Juwelier zu werden, oder einer, der grausam war, wird im künftigen Leben vielleicht ein Löwe. Es ist das keineswegs so, wie wir uns das zu denken gewöhnt haben, daß es sich hier um Strafen handle. Das Karma ist in letzter Linie keine ethische Lehre, sondern es ist die Lehre, daß jede Tendenz gesetzmäßig sich zu steigern sucht und daß diese Steigerung sogar über das einzelne Dasein hinaus fortdauert, bis sie an den Punkt gelangt ist, wo die große Umkehr kommt. Dann erst wird sie erlöst, und dann erst hört der Wahn auf. Und wo der Wahn zu Ende ist, da kommt das Nirwana, da kommt der große Friede. Nirwana ist daher nicht etwas rein Negatives, sondern es ist nur ein Zustand, der höher ist als der Zustand innerhalb der polaren Spannung, der Einheitszustand, der eben deswegen von den Menschen, die ihr Wesen innerhalb des polaren Gegensatzes haben, sehr schwer oder gar nicht verstanden werden kann.

II.

Diese Auffassung des Lebens als einer Bewegungstendenz, die vom Tode immer wieder unterbrochen wird, ist entschieden ein Problem von wissenschaftlich höchstem Interesse. Aber das Problem gewinnt einen ganz anderen Anblick durch die besondere Erscheinung, daß es sich hier nicht um einen Vorgang handelt, den wir nur an Pflanzen und Tieren beobachten können, der nur in der Außenwelt oder auch innerhalb der psychologischen Erfahrung sich vollzieht, sondern das das Leben und die Vorstellung des Todes mit ganz besonderen psychischen Akzenten verknüpft sind, die daher ihre besondere Bedeutung gewinnen, daß ich es bin, der lebt, daß ich es bin, der sich den Tod seines Lebens vorstellt. Und dieses Ich-Bewußtsein, das ist es, was der Frage nun die eigenartige Spannung verleiht. Denn es ist ohne weiteres klar, daß das Leben wie jede wirkende Kraft so beschaffen ist, daß in ihm selbst kein zureichender Grund für sein Aufhören vorhanden ist. Daher die Liebe zum Leben, die allem Lebendigen ganz natürlich innewohnt. Die Kraft, die das Leben zum Aufhören bringt, ist eine dem Leben widrige. Es ist ganz klar, daß das Leben sozusagen instinktiv sich vor seinem Aufhören fürchten und erschrecken muß, solange es eben Leben ist. Und nun ist der Mensch so organisiert, daß mit einem gewissen Umkreis dieser psychischen Erscheinung, die wir Leben nennen, nicht nur Bewußtsein verbunden ist, d.h. sozusagen eine Spiegelung dessen, was in der Gehirnrinde und vielleicht auch noch in anderen Gegenden des Körpers vor sich geht, auf einer anderen unkörperlichen Ebene, die wir Bewußtsein nennen, sondern daß dieses Bewußtsein gerade mein Bewußtsein ist, daß wir Selbstbewußtsein haben.

Was ist das Ich? Es ist das größte Rätsel. Wir können es vergleichen mit einem in der Zeit nicht ausgedehnten, aber in der Zeit sich vorwärtsbewegenden lichten Punkt. Was es ist, läßt sich nicht erklären, sondern nur erleben. Wir alle wissen, was das Ich-Erleben von allem anderen Erleben unterscheidet. Und dieses Ich ist nun geknüpft an einen komplex von Lebensvorgängen und identifiziert sich mit ihnen. Ich bin mein Leib, ich bin die Summe oder die Harmonie – oder wie ich es bezeichnen will – der Vorgänge, die in meinem Leib als Lebensvorgänge in mein Bewußtsein eintreten. So ist die Liebe zum Leben nicht nur eine anonyme Kraft, sondern es ist meine Liebe zu meinem Leben, die das Problem von einer ganz neuen Seite beleuchtet, es ist meine Furcht, mein Widerwille gegen das Aufhören dieses Lebens, was nach einer Lösung sucht.

Wir wollen dabei möglichst kühl und strenge sein. Es handelt sich nicht darum, daß wir angesichts des Todes etwa große und gefühlsmäßig stark betonte Gedanken bekommen. Die helfen erfahrungsgemäß sehr wenig, denn das stark Gefühlsbetonte ist schließlich nicht notwendig etwas, das mit der Wirklichkeit übereinstimmen muß. Wir haben häufig die allerstärksten Gefühle, die mit der Realität in gar keiner Verknüpfung sind. Und es gibt vielleicht auch Menschen, die einen wunderschönen Tod gestorben sind, gleichsam auf Flügeln des Hochgefühls aus dem Bewußtsein ins Unbewußte hinüberschwebten und die darum den Sieg noch lange nicht gewonnen haben. Es handelt sich einfach um die Frage: Wie ist es mit dem Leben, wie ist es mit dem Tode? Haben wir eine Möglichkeit, den Tod zu überwinden? Und wenn wir eine solche Möglichkeit haben, welches sind die Wege, die uns in Wirklichkeit zu dieser Möglichkeit führen?

Um diese Fragen zu beantworten, ist eines vor allem klar: wir müssen die moderne Einstellung zum leiblichen Leben durchaus billigen. Die mittelalterliche Einstellung, die die Erde nur als Jammertal zu schauen gewohnt war und die sich aus dem Leben hinwegsehnte, war eine Art von Selbstbetrug, der sich natürlich nur dadurch aufrechterhalten ließ, daß an die Seite dieses Selbstbetrugs eine Phantasievorstellung von zukünftigen Himmeln trat, in die man aus diesem irdischen Jammertal zu schweben hoffte. Aber wir wissen heute, daß das, was wir sozusagen als Kapital in der Hand haben, eben unser körperliches Leben ist. Ein zweites, ein weiteres, haben wir nicht zur Verfügung. Wir wissen auch, daß in allen echten Religionen dieses Leben im Leibe, dieses Seelisch-Leibliche, völlig Einheitliche eine große Rolle spielt. Es ist nicht etwa so, daß das nur ein moderner materialistischer Gedanke wäre; sondern auch vom ursprünglichen Christentum wissen wir, daß Gewicht auf dieses leibliche Leben gelegt wird auch für das Schicksal des Menschen nach dem Tode. Auch im Buddhismus, der ja sein ganzes Ziel darauf abgestellt hat, daß man loskommt von allem, was Leben heißt, weil alles Leben nur Qual ist, ist die einzige Waffe in dem Kampfe, die dem Menschen zur Verfügung steht, eben auch nur dieses leibliche Leben.

Es ergibt sich daraus eine Konsequenz, die im Osten auch immer gezogen worden ist, nämlich, daß wir das leibliche Leben zu schätzen, zu würdigen und zu pflegen haben. Es mag wohl sein, daß die Widersinnigkeit des Sterbens, die ja im Leben keinen Grund hat, in ältester Zeit und vielleicht nicht nur in ältester Zeit, sondern immer wieder dazu geführt hat, daß man einen Versuch anstellte, ob sich denn das Sterben nicht überhaupt abschaffen lasse, ob sich das Leben nicht einfach in infinitum fortsetzen lasse. Diese Versuche, obwohl sie zum großen Teil rein logisch nicht widerlegt werden können, interessieren uns insofern nicht sehr, weil wir faktisch doch bis jetzt immer erlebt haben, daß alle, die diese Versuche machten, von den ältesten Zeiten her bis auf die modernste Zeit, doch schließlich den faux pas begangen haben, den "Unsinn des Sterbens" an ihrem eigenen Leihe erfahren zu müssen. Aber den Versuchen haftet doch etwas an, das sie vielleicht nicht ganz bedeutungslos erscheinen läßt. Wenn wir noch nicht so weit sind, daß wir uns mit klarer Rechenschaft gegenüber dem Tode des Bewußtseins rühmen können, daß wir das Sterben schon gelernt haben, daß wir schon so weit sind, daß wir sozusagen nicht schlampig, sondern sachgemäß sterben – ich sage: wenn wir noch nicht so weit sind, so müssen wir dafür sorgen, daß uns so viel Zeit wird, wie wir brauchen, um diese Etappe in unserem Lebenskreislauf zu erlangen. Denn, wenn wir vorzeitig hinweggerafft werden, ist der Tod kein rechter Tod, und was darauf kommt, kann natürlich auch unmöglich etwas Richtiges sein.

So sehen wir denn, daß in verschiedenen chinesischen Richtungen, im Buddhismus, im Daoismus und auch im Konfuzianismus der Song-Dynastie Bestrebungen im Gange sind, das menschliche Leben zu verlängern, und zwar nicht nur über 70 oder 80 Jahre hinaus, sondern ganz bedeutend zu verlängern. Diese Bestrebungen gehen davon aus, daß eine genaue Beobachtung durch Introspektion angestellt wird über die Vorgänge des Lebens und darüber, was das Leben fördert und was es hemmt. Und es scheint, daß dabei das Blutleben, das Leben im Blut, eine große Rolle spielt.

Es heißt immer wieder, daß das Wasser für die Seele von Bedeutung sei und daß das Feuer des Geistes in dieses Wasser eindringen müsse, damit das Leben verlängert werde. "Wasser und Feuer bekämpfen einander nicht," das ist ein alter magischer Spruch aus dem Buch der Wandlungen, der das Geheimnis des Lebens enthält. Und es ist das letzten Endes kein andrer Gedanke als der Gedanke der Taufe, die einerseits Wassertaufe ist und andererseits Taufe mit dem heiligen Geist und mit Feuer. So finden wir in den orientalischen Geheimreligionen eine Methode, die darauf gerichtet ist, das Leben dadurch zu verlängern, daß das Blut gesund gemacht wird, daß es von seinen Schlacken befreit wird und Stockungen und Hemmungen überwindet, so daß es ungehindert und dauernd fließt und eben durch den dauernden Fluß hinter der Zeit nie zurückbleibt.

Denn das Blut ist für diese Vorstellung nicht bloß ein Gemenge chemischer Stoffe, sondern in diesem Blute ist eben das Seelische: "Blut ist ein ganz besonderer Saft." Und wie dieses Blut, wenn es nach außen sich vergeudet, die Seele mitreißt und wie, auch ohne daß das körperliche Blut sich nach außen ergießt, schon die innere Vergeudung dieses Lebensstoffes dazu beiträgt, die Seele zu zerstreuen und das Leben aufzuzehren, so ist dieses selbe Blut, dieser ganz besondere Saft, wenn er im Innern seinen ungehemmten Kreislauf vollzieht, eben das, was Kraft auf Kraft wirkt und was für den Menschen das Substrat der Seele, das Substrat des Lebens im Leibe ist.

Welche Methoden werden nun angewandt, durch Reinigung, durch Heiligung, durch Erneuerung des Blutes im Menschen das Leben zu verlängern? Es gibt in China gewisse Meditationsübungen, die sehr interessant sind, wenn wir sie im Lichte neuerer Forschung betrachten. Die äußere Form, in der ihre Anweisungen enthalten sind, erinnert vielfach an alchemistische Rezepte. Es werden Mittel angegeben, um die Perle des Lebens, die Goldperle, den Stein der Weisen, oder wie wir dieses Elixier nennen wollen, zu schmelzen. Aber wir dürfen uns unter dieser chinesischen Alchimie (auch wenn sie gelegentlich Arzneistoffe präparierte und diese Stoffe, soweit sie wirksam waren, keineswegs verschmäht wurden) nicht eine chemische Wissenschaft vorstellen, sondern es ist eine psychische Technik. Und zwar handelt es sich darum, gewisse psychische Zentren, die im gewöhnlichen Leben ruhen und eben durch ihr Nichtfunktionieren das Aufhören des Lebens bewirken, zu aktivieren dadurch, daß sich die Aufmerksamkeit darauf konzentriert.

 

Was heißt nun "Konzentration der Aufmerksamkeit"? Hier kommen wir auf ein Geheimnis der ganzen Praxis. Wir wissen, daß die Aufmerksamkeit (Yi) unserem Willen (Zhi) unterworfen ist. Wir haben es in unserer Hand, die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Punkt zu richten, auf den wir sie richten wollen. Aber wir wissen auch, daß durch einen solchen Willensakt auf der anderen Seite wieder so unendlich viele Kräfte aufgebraucht werden, daß mehr als eine Hinlenkung kaum möglich ist. Die Aufmerksamkeit zu fixieren ist etwas, das in unserem Willen nicht liegt. Das heißt, wir können es vielleicht erzwingen, aber es wird dann eine unproduktive Aufmerksamkeit werden, und was dabei herauskommt, ist gleich null.

Vielmehr ist zur Fixierung der Aufmerksamkeit eine von unserem Vorsatz unabhängige Führung notwendig. Denn, solange die Aufmerksamkeit nicht gerichtet wird, bedeutet sie keine Kraft. Nur eine gerichtete, eine gleichsam zusammengefaßte, konzentrierte Aufmerksamkeit bedeutet im psychischen Leben tatsächlich etwas Schöpferisches, eine Kraft. Und eine solche Aufmerksamkeit muß auf die Lebenszentren, auf dieses System von Aktivitäten, das das Blut im Gange erhält, gerichtet werden, damit sie aufwachen, sich in Bewegung setzen und so bewirken, daß das Leben aufs neue in Fluß kommt.

Hier ist nun der Punkt, an dem die magische Kraft des Bildes in der Praxis eingesetzt wird. Die Aufmerksamkeit läßt sich zwar nicht durch den Willen festhalten, aber sie läßt sich dadurch festhalten, daß ein Aufmerksamkeit heischendes Bild geformt wird. Dieses Bild kann verschiedener Art sein, es kann entweder eine Vorstellungssumme sein, ein in der Phantasie vorgestelltes visuelles Bild oder unter Umständen auch ein Lautbild, oder es kann eine Wortfolge sein, die nicht lautartig, sondern visuell geschaut wird; es gibt da verschiedene Möglichkeiten. Auf alle Fälle ist aber für ein derartiges, Aufmerksamkeit erregende Bild notwendig, daß es Anziehungskräfte besitzt. Das ist die Magie der Meditation. Und so versucht nun die Meditation, solche aktiven Bilder aufzubauen. Diese Bilder müssen von dem Meditierenden natürlich selbst aufgebaut werden, denn nur dann entsprechen sie seinem Wesen und nur dann besitzen sie, aus seiner Seele selbst genommen, die Kraft, seine Aufmerksamkeit festzuhalten. Sie müssen aber gleichsam nach einem bestimmten Grundriß entworfen sein, sie müssen in einer bestimmten Richtung gehen, und sehr viele dieser Bilder sind so allgemein, daß sie die meisten Menschen, oder zum mindesten Menschen eines Kulturkreises, ohne weiteres brauchen können. Durch solche Bilder, die Anziehungskraft auf das Bewußtsein ausüben, wirkt dann die Aufmerksamkeit konzentriert, und die Bilder werden so gelagert, daß sie mit diesen Lebenszentren in Verbindung treten, so daß die Aufmerksamkeit, auf dieses Bild gerichtet, sogar eine Wirkung auf das körperliche Leben ausübt und durch diese Wirkung dann Säfte produziert werden, die im Blute kreisen und die das Blut, das etwa stocken wollte, wieder mit neuer Lebensenergie versehen und auf diese Weise einen neuen Blutkreislauf erzeugen.

Diese Übung ist mit Atemübungen verknüpft. Das alles sind aber rein technische Fragen, die uns hier nicht interessieren. Jedenfalls sehen wir, daß es sich im Prinzip darum handelt, durch Selbstanalyse, die sich nicht des Nachdenkens über sich selbst bedient, sondern des Zuwartens, das, was aus der Seele, aus dem Blut, emporsteigt, ganz subtil und allmählich zu schauen und dann die Kraftzentren seelischer Art zu bilden, die auf dieses Seelische zu wirken geeignet sind, und durch diese Suggestivkraft dann eine innere Erneuerung des Blutes zu bewirken.

 

 

Aber es kommt dazu ein anderes. Es scheint, daß in der Natur, im Kreislauf des Tages, im Kreislauf des Jahres gewisse Kräfte vorhanden sind, die nicht immer in derselben Stärke, doch von Zeit zu Zeit wie Flutwellen die Welt umkreisen. Es wird von dem Philosophen Meng Zi gesagt, daß solche lebenserneuernden Kräfte in der Zeit vor dem Anbrechen des Tages besonders stark sind und daß sie besonders dann wirken, wenn der Mensch in einen ruhigen, tiefen Schlaf verfallen ist. Denn wenn er nicht diesen Tiefschlaf hat, so ist er nicht gelöst genug, um die kosmischen Kräfte in sich aufzunehmen. Aber diese Gelöstheit ist etwas, das nur durch die richtige Übung errungen werden kann, und indem der Mensch diese Gelöstheit hat, wird er fähig, die kosmischen Lebenskräfte aufzunehmen, gleichsam jede Nacht wieder die Schlacken des Tages hinwegzuspülen und neu erfrischt und gestärkt dem neuen Lebenstag entgegenzutreten. Und diese Technik geht noch einen Schritt weiter, indem man sich bewußt in den Zeitstrom hineinbegibt, nicht am Ufer steht und sich über die Vergangenheit und über die Zukunft besinnt, wobei Furcht und Hoffnung die Seele beunruhigen, sondern indem die Seele ihr ganzes Leben auf das Jetzt konzentriert, auf das Hier und Jetzt, indem man schwinden läßt, was schwindet, und kommen läßt, was kommt, so daß das Herz wie ein Spiegel ist, der frei von Staub ist, in dem die Dinge sich abspiegeln, wie sie kommen und gehen, und auf diese Weise immer die richtige Reaktion hervorrufen, ohne Nachbilder hervorzurufen.

Es ist also das Bestreben, daß nichts von den psychischen Erlebniskomplexen verdrängt wird, sondern daß allen die Gelegenheit sofort gegeben wird, die nötige Reaktion hervorzutreiben, damit die giftigen Kräfte solcher Eindrücke ausgeschaltet werden. So wird die Ruhe der Seele, die hier als Lebensstärke wirkt, bei Meng Zi auf verschiedene Weise als möglich dargestellt. Es kommt auf die Menschen an.

Aber wenn nach Meng Zi diese Seelenruhe auch auf niedrigen Stufen möglich ist, so ist all diesen verschiedenen Arten das eine gemeinsam, daß man keine Aufspeicherungen des Psychischen unangenehmer Art duldet, sondern daß immer alles möglichst rasch wieder ausgeglichen wird. Denn unausgeglichene Spannungen bilden Verdrängungen, die im Unterbewußtsein hemmend wirken, so daß die Seele nicht zu dem freien Atemzug der dauernden Erneuerung aus den in der Natur vorhandenen Kraftquellen gelangen kann.

 

Das ist die Art, wie im Chinesischen das Leben verlängert werden soll. Es kommen dann noch gewisse Regeln hinzu, die sich mit der Trainierung auch des Körpers beschäftigen, die wir in unserem modernen Sport erfüllt sehen könnten, wenn im Chinesischen nicht eine wesentlich andere Art, die Sache zu betrachten, herrschen würde. Denn diese körperlichen Übungen dienen in China nicht dazu, einen Rekord aufzustellen. Diese Auffassung der körperlichen Übung würde in China im Gegenteil als lebenverwüstend betrachtet werden, weil auf dieses äußerliche Ziel, das nicht im Körper begründet ist, sondern in einer vagen Meinung der Leute, nicht nur körperliche, sondern auch seelische Kräfte in unverhältnismäßiger Menge verwendet werden. Aber davon abgesehen ist die körperliche Übung etwas, das auch in China gepflegt wurde, nur immer so, daß es nicht auf das materielle Was ankam, sondern auf das Wie. Die Harmonie war das Höchste auch bei diesen Körperübungen, nicht der Maßstab maß die Leistungen; ein Pfeil, der das Zentrum traf, war gut, auch wenn er die Lederscheibe nicht durchdrang, denn beim Schießen kommt es aufs Treffen an und nicht auf das Durchdringen des Fells, wie Kong Zi sagt. So sind körperliche Übungen mit einbezogen in diese Bestrebungen, das Leben zu verlängern, nur aber in dem Sinne, daß sie als harmonische Trainierung des Körpers zu seinen ihm innewohnenden Zwecken aufgefaßt werden. Was auf diese Weise erreicht werden kann, ist aber nur, den vorzeitigen Tod zu vermeiden, nicht früher zu sterben, als eben in der angelegten Lebenskraft begründet ist. Also sterben müssen wir so oder so.

Es besteht eine Vorstellung im Chinesischen, daß das Leben eine naturgemäße Grenze hat. Das sind die "himmlischen Jahre" (Tian Ming) , die zu erreichen dem Menschen vergönnt ist, wenn er das Leben nicht hemmt. Das Leben ist also aufgefaßt als eine in der Zeit ausgebreitete Größe mit einem Anfang und einem Ende. Man kann nicht sagen: dieses Leben ist vorbestimmt. Aber die Fülle, die Dauer des Lebens und auch der Rhythmus des Lebens ist angelegt vom ersten Moment an, wie etwa eine Kurve sich von den ersten drei Punkten an ihrem ganzen Verlaufe nach berechnen läßt. So wird dieses körperliche Leben auch als etwas durchaus Einheitliches aufgefaßt. Es ist nicht Zufall, wann der Tod eintritt, sondern jedes Leben hat eine von Natur gesetzte Schranke, die der Vitalität und der Rhythmik dieses einmal in die Zeit wie in den Raum eintretenden Lebens entspricht. Das ist weder ein Glück noch ein Unglück, sondern eine Tatsache, wie etwa die Tatsache der dreidimensionalen Ausdehnung unseres räumlichen Lebens, die von uns auch einfach hingenommen wird. Vielleicht gibt es Menschen, die sind traurig, daß sie nicht einen Zoll größer sind, und einige möchten schlanker sein; aber das sind Unbequemlichkeiten, mit denen man sich abfindet, ohne daß sie zu einem Problem werden. Und so ist auch die Zeitdauer dieses körperlichen Lebens an sich gar kein Problem, wenn man sie richtig auffaßt. Aber hier kommt nun eben der Punkt, der zum Problem wird: daß ich Unendlichkeit will. Der Leib ist endlich, der Leib empfindet seine Endlichkeit nicht unangenehm, sondern er stirbt, wenn es Zeit ist. Aber der Leib hat sozusagen eine Innenseite, er hat Bewußtsein und stellt sich den Tod vorher vor, ehe er eintritt. Und diese Vorstellung des Todes ist es, die den Menschen seit uralten Zeiten immer wieder beschäftigt hat, die vielleicht eine der allerstärksten historischen Kräfte geworden ist. Wenn wir uns ausmalen, was alles aus diesem Gedanken an den Tod produziert worden ist, so ist es geradezu ungeheuerlich. Nicht nur die Pyramiden, nicht nur ganze Religionssysteme, nicht nur ganze politische Verfassungen der Menschen, nicht nur – und das ist das allermerkwürdigste – Kriege und Schlachten mit Vernichtung von Millionen von Leben sind die Folge dieser Vorstellung, sondern die Sache geht so weit, daß wir gerade bei diesem Gedanken fast in geologische Größen hineinkommen, wenn wir uns denken, wie z. B. die Pyramiden und ähnliche Dinge Wirkungen dieses Gedankens an den Tod und dieses Widerstrebens gegen das Vergängliche sind.

Was ist hier zu tun? Im Chinesischen gibt es eine Tradition, die ganz kühn die Psyche sozusagen auseinandernimmt und nun sieht, was zu tun ist. Ein Zhuang Zi hat die Philosophie, daß er sich gleichsam abseits stellt und dem Wandel der Dinge zuschaut, sein Ich nicht mehr auf seinen Körper beschränkt, sondern sein Ich erweitert. Aber damit ist die Sache doch noch nicht erschöpft, sondern es ist dazu, wenn es sich nicht bloß um Übersteigerung des Gefühls handeln soll, sondern um Sicherheit einer Position, noch ein anderes notwendig, nämlich eine Ablösung des Ich vom Körperlichen.

Hier haben wir den Punkt, in dem auch alle Religionen einig sind. Das Leben wird vom Ich gewollt; aber wer sein Leben behalten will, der wird es verlieren. Das Haften des Ich am Leben ist eben der Weg dazu, daß dieses Leben auf eine Weise endigt, daß es dem Ich sich entzieht. Das Problem ist nun im Chinesischen, einen neuen Leib zu bilden innerhalb des irdischen Leibes. Das ist das Problem einer Wiedergeburt, wie sie ja auch im Christentum in den esoterischen Überlieferungen der ersten Jahrhunderte, von denen wir zum mindesten in der evangelischen Kirche heute gar nichts mehr wissen, sich findet.

 

Die Wiedergeburt ist nicht nur eine fromme Phrase, und wenn Paulus kämpft und ringt, daß er überkleidet werden möchte und nicht entkleidet, so ist es nicht eine Phantasievorstellung von irgendeinem neuen Fleischesleib, der ihm als Mantel umgehängt werden soll, sondern er hat da ganz reale Dinge im Auge. Und so sehen wir auch im Chinesischen den Versuch, einen neuen Ich-Leib zu bilden. Aber das ist eine sehr schwierige Sache, die sehr genau durchmeditiert werden muß. Dieser neue Leib ist nicht ein grob stofflicher Leib, sondern er ist sozusagen ein Energieleib.

Es wird versucht, durch Konzentrations- und Meditationsübungen diese Energien gleichsam loszulösen und die Entelechie, dieses Samenhafte, das latent vorhanden ist, mit diesen Energien zu umgeben. Es ist also letzten Endes nichts anderes als, auf das physische Gebiet übertragen, die Formung des Samenkorns. Denn was ist ein Samenkorn anderes als die Entelechie des Baumes ins Unsichtbare konzentriert und doch nicht körperlos, denn die Möglichkeit zum Körperlichen ist immer da. Diese Konzentration ist eine latente Kraftspannung, die durch den Vorgang der Verwesung, wenn das Samenkorn in die Erde fällt, angeregt wird zu einem neuen rechtläufigen Gange. Es ist also eine rückläufige Bewegung, die in letzter Konzentration gleichsam eine Auslösung ermöglicht. Diese Auslösung geschieht durch die Verwesung der den Keim umgebenden Stoffe. Etwas Ähnliches wird im Chinesischen auf psychischen Gebiete erstrebt dadurch, daß ein seelisches Samenkorn gebildet, dieses Samenkorn mit Energien des Körperlichen umhüllt wird und so eine konzentrierte latente Kraft entsteht, die nun auf einen Punkt kommt, da es sich von der primären, d. h. vergänglichen Zeit loslöst.

Das wird in China in verschiedenen Bildern ausgedrückt. Man sieht etwa einen in tiefer Meditation versunkenen Heiligen, in dessen Herzen ein kleines Kind sich bildet. Dieses kleine Kind wird dann genährt und schwebt schließlich aus der Schädelhöhle in die Höhe. Das ist etwas, das im Leben den Vorgang des Sterbens reproduzieren soll. Dieses Hinausgehen der höheren Kräfte durch die oberen Körperöffnungen bedeutet, in unsere moderne Sprache übertragen, nichts anderes, als daß wir hier von einer Zeit zweiter Ordnung aus, wenn wir das ganze Leben vor uns liegen sehen, uns von diesem Leben mit unserem Bewußtsein loslösen und dennoch energiemäßig mit diesem materiellen Dasein verbunden bleiben, daß wir dieses Leben reflektieren können, aber reflektieren nicht im gewöhnlichen Sinne, sondern in einem ganz eminent starken, meditativ gesättigten Sinne.

Dieser Vorgang kann sich sogar stufenartig steigern. Wir leben ja nicht in einer Zeit, sondern gleichsam in einer ganzen Zwiebel von verschiedenen Zeitschalen. Ich bin mir z. B. bewußt, diesen Stuhl zu sehen. Nun kann ich mein Subjekt eine Schicht dahinter verlegen und dieses stuhlsehende Subjekt als Objekt nehmen; ich sehe mir sozusagen zu, wie ich den Stuhl betrachte. Ich kann dann sogar noch einen Schritt weiter gehen und sehen, wie ich mir zusehe, wie ich den Stuhl betrachte. Ja, es geht das ins Unendliche; es kommt einfach auf die psychische Kraft, auf die Konzentrationsfähigkeit der einzelnen Menschen an, wie weit sie diesen Prozeß nach oben verlängern können. Im Chinesischen finden sich Meditationsübungen, die diese Potenzierung des Subjekts im Anschluß an die Bewußtmachung der in der Ich-Monade vorhandenen Sinnesdominanten sehr weit führen. Dieser Vorgang wird bildlich so dargestellt, als ob aus dem meditierenden Menschen zunächst das überzeitliche Ich sich ablöse, das dann fünf Emanationen entsendet, die ihrerseits wieder je weitere fünf menschliche Spiegelungen aus sich entlassen. Ein solches Bild sieht als Bild sehr merkwürdig aus, aber was damit gemeint ist, ist der serienhaft in der Zeit sich vollziehende Loslösungsprozeß des Ich von dem zunächst allein bestehenden materiellen Leibe.

Es ist eine sehr ernste und strenge Denkarbeit, die hier nötig ist. Aber dieses Denken dürfen wir uns nicht so vorstellen, wie man im Westen das Denken zu verstehen pflegt, daß es einfach ein rein intellektueller Hergang wäre. Wir sprechen von Denken und Sein als zwei unversöhnlichen Gegensätzen. Dieses chinesische Denken ist aber als aktives Denken gedacht, als ein Denken, das so konzentriert ist, daß durch dieses Denken etwas in der Welt des Seins bewirkt wird.

Das Zeichen "Denken" (Si) wird im Chinesischen geschrieben als ein Feld und darunter das Herz, das Bewußtsein, also ein Feld, in dem das Bewußtsein sich betätigt. Das Bild für "Gedanken" (Yi) sind Klänge, die im Bewußtsein entstehen. Es sind sozusagen Klangbilder, die aus dem bewußt bearbeiteten Felde hervordringen. Wir kommen natürlich hier auf Begriffe und Vorstellungen, die nur mit Mühe das anzudeuten suchen, was mit ihnen gemeint ist. Wie ja unsere philosophischen Begriffe auch nur sehr übertragen und sehr ungenau sind. Es handelt sich hier also um eine ganz reale Arbeit während des Lebens die Unabhängigkeit von diesem Leben zu erreichen, und zwar eine Unabhängigkeit, die nicht rein theoretisch, sondern die praktisch ist, indem sich ähnlich wie in einem Samenkorn das formt, was wir mit Goethe eine Entelechie nennen können, d. h. eine Kraft von einem ganz bestimmten Rhythmus, von einer ganz bestimmten Richtung – und, was dazu gehört, die in sich geschlossen ist. Eine Entelechie in diesem Sinne ist gleichsam ein in sich geschlossenes kleines Weltsystem. Und das ist im ganzen chinesischen Denken, im Konfuzianismus ebenso wie im Daoismus oder im Buddhismus, vorhanden, daß man in Laufe des Lebens nun das zur Harmonie bildet, was von seelischen und körperlichen Anlagen man als Kapital mitbekommen hat, indem man es vereinheitlicht und von einem Zentrum aus gestaltet.

Das bedeutet natürlich eine ungeheuer starke Kraft wenn es gelingt. Ob es aber gelingt, das ist die Frage. Es besteht die Möglichkeit, daß es vielleicht einem Menschen nicht gelingt, die in ihm vereinten Seelenwesen beisammenzuhalten, sondern daß das eine oder andere dieser Seelenwesen gelegentlich entwischt und auf eigene Faust seine Spaziergänge in der Traumwelt macht. Aber solche Dinge, die den Menschen in Beziehung bringen können mit abgeschiedenen Geistern oder mit Geistern von nicht menschlichem Wesen, bilden im Chinesischen eigentlich weniger einen Glaubensgegenstand als den Stoff vielfältiger Unterhaltung in Märchen.

Aber solche Vorkommnisse sind nur gelegentliche Erscheinungen, das Ziel ist eine Vereinheitlichung der Seele durch konsequente Übung. Die Voraussetzung ist die, daß diese in sich gefaßte Entelechie ein Zustand ist, der wohl potentiell ein höherer Zustand ist – es ist ein Zustand des Schauens nicht nur der Vergangenheit, sondern auch der Zukunft, etwas Intuitives, das also dem Intellekt als solchem überlegen ist –, aber daß dieser höhere Zustand sozusagen in unserem gegenwärtigen Entwicklungsstadium noch unentwickelt ist.

Es ist das ein sehr merkwürdiger Gedanke, daß Höhere, Intuitive, erzogen und gebildet werden muß vom Bewußtsein, das an sich doch ihm gegenüber etwas Niedrigeres ist, also daß das Göttliche – wenn wir diesen Ausdruck hier gebrauchen wollen – im Menschen etwas ist, das erst der Leitung des Menschlichen bedarf, damit es sich entwickelt. Das Höhere muß durch die Leitung des Bewußtseins erst unterrichtet und gebildet werden. Das wird im Chinesischen sehr wichtig genommen. Das Unwillkürliche, das aus dem Unbewußten Hervorsprudelnde und Herausbrodelnde, das in Europa häufig oder wenigstens zeitweise für besonders genial gehalten wird, ist nicht etwas, das man in China besonders schätzt; sondern das sind vergeudete Kräfte, unentwickelte Geburten ewigen Lebens, die eben, weil sie an sich nicht konzentriert sind, dann doch schließlich wieder zerflattern.

Es handelt sich also darum, während man im Leben ist, einige Bekanntschaft mit dem Zustand nach dem Tode zu machen, und wir haben Gelegenheit dazu im Schlaf. Ja, im Schlaf wandert der Geist, sagt Zhuang Zi, im Schlaf wohnt die Seele in der Leber. Er meint damit: nicht im Gehirn, nicht im Bewußtsein, sondern im Vegetativen. Und der Tiefschlaf, die völlige Abwesenheit des Bewußtseins, ist ein Zustand, der dem Zustand nach dem Tode sehr verwandt ist. Es gilt nun, daß man seine Träume erzieht; durch Erziehung der Träume erzieht man sich für das Leben nach dem Tode. Der Weise träumt nicht mehr, der Weise ist diesen Bildern, die sich chaotisch, visuell oder akustisch in der Phantasie bilden, nicht mehr unterworfen; sondern er ist so im Einklang mit dem Weltgeschehen während des Schlafes oder im Tiefschlaf, daß diese schüchternen Reste des Bewußtseins von ihm abfallen. Und wie ein ganz klares Wasser kein Bild mehr zeigt, sondern bis zum Grunde alles klar sehen läßt, so ist auch sein Schlaf etwas ganz Reines, Klares.

Hier haben wir nun das geistige, das dritte und höchste Ich neben dem leiblichen und dem seelischen Ich. Daß das seelische Ich sich so weit entwickeln kann, das ist möglich eben durch dieses dritte und höchste Ich, das im Unterschied zu dem individuellen, seelischen Ich ganz allgemein ist. Dieses Ich ist nicht körpergebunden, ist auch nicht psychegebunden, sondern es ist das große Menschheits-Ich, das Welt-Ich. Und indem die eigene psychische Entelechie mit dem Rhythmus dieses Ich zusammenschwingt, indem also das Ich-Erlebnis dahin transponiert wird, und zwar nicht nur für Momente, sondern für eine tiefe, starke Ruhezeit, dadurch gelingt es, den Zustand nach dem Tode auf eine Weise zu erleben, die nicht mehr furchterregend ist.

So ist es die Aufgabe des Lebens, sich für den Tod vorzubereiten, nicht in dem Sinne, daß man buchführungsmäßig eine bestimmte Anzahl von guten Taten tut, damit man nachher in den Himmel komme, sondern in der Weise, daß man in sich einen Zustand erzeugt, der losgelöst von der Endlichkeit das Unendliche repräsentiert, und daß man in diesem unendlichen und ewigen Zustand sein Ich zentriert. Das ist sozusagen ein Weltflug. Es ist natürlich da ein Punkt, wo dieses Ich sich loslösen muß, das ist ein Sterben. Und dieses Sterben ist es, das mit dem Neuwerden verknüpft ist, das dann vor dem Weitersterben schützt.

Es ist hier ein ähnlicher Punkt wie bei der Geburt. Ja, die Geburt ist die große Revolution, da Himmel und Erde sich für den Menschen verdrängen, da Himmel und Erde die Plätze tauschen. So ist die Neugeburt wieder eine Umzentrierung geistiger Art, da Himmel und Erde die Plätze vertauschen, da unten wird, was früher oben war, und oben wird, was früher unten war, wodurch nun eine neue Daseinsform ermöglicht wird, die ewig ist. Der Mensch, der diesen Standpunkt erreicht hat, wird sich nicht mehr vor dem Tode fürchten, sondern er betrachtet ihn wie den Schlaf, als einen physiologischen Vorgang, der allen Menschen gemeinsam ist und um so leichter erledigt wird, je weniger wichtig man ihn als Prozeß nimmt. Und er wird nun auch im Leben eben dadurch, daß er gleichsam ein Wiedergeborener ist, eine wesentlich andere Stellung bekommen. Er wird einen Ernst bekommen den Dingen der Ewigkeit gegenüber, und er wird das zeitlich Fließende leicht nehmen; das kann ihn nicht mehr zutiefst beschäftigen.

Das bedeutet für den Daoisten eine ironische, humorvolle Haltung, die des ganzen irdischen Betriebes lacht. Für den Konfuzianer aber bedeutet es die souveräne Erhabenheit, die sich darin zeigt, daß er aus den höchsten Höhen herunterkommt an den Platz, an dem er steht, und das sachgemäß erfüllt, was mit diesem Platz an Pflichten verbunden ist, nicht aus besonderer Tugend oder aus dem Bedürfnis, dadurch sich Verdienste zu erwerben, sondern einfach, weil das die jetzt ihm entsprechende Art ist, sich im Leben zu betätigen. Denn, wo er steht, das ist für ihn jetzt bedeutungslos geworden. Er braucht nicht mehr ins Jenseits hinüber, denn sein Leben ist, während er im Diesseits ist, schon im Jenseits. Dieses Jenseits aber ist weder zeitlich noch räumlich vom Diesseits getrennt, sondern es ist das Dao, es ist der Sinn, der alles Sein und Werden gleichmäßig durchdringt; es ist der Ernst, der heilige, das, was den Tod nicht mehr als etwas Fürchterliches erscheinen läßt, und dasjenige, was das Leben zur Ewigkeit macht.