Die Typen der Meditation in China

von Erwin Rousselle

 

I. EINFÜHRUNG

Dem Faust, der zu den Müttern hinabsteigt, ruft Mephisto zu: "Versinke, denn! Ich könnt auch sagen: steige!" Mit Recht! Denn wenn wir diese Szene in psychologischer Auslegung als einen Gang in die Tiefe der eignen Seele – wo wir dem Sinn von Welt und Leben am nächsten sind – ansehen, da wird aller Raum sowie alle Zeit wesenlos in der Schau, die sich dem Geiste eröffnet und die die Tiefe der Seele mit den Höhen des Metaphysischen verbindet. Wenn schon Platon dem Menschen eine "Anamnesis" zuschreibt, ein angeborenes "Gedächtnis", eine in ihm ruhende Erinnerung an den idealen Weltengrund (ein Gedanke, der in die Scholastik des Mittelalters übergegangen ist), wenn die Mahayana-Buddhisten dem Menschen den Zugang zu dem universalen kosmischen "Schatzhaus-Bewußtsein" beilegen, so wird damit zugleich an psychologische Erkenntnisse über ein in uns ruhendes überindividuelles, kollektives Erbgedächtnis der Menschheit, ja des Lebens gerührt. Diese erklären uns teilweise, einerseits aus welchen Tiefen im genialen Menschen erleuchtete Schau aufsteigt und wozu andererseits die Meditation taugt. Denn die Meditation will eben nichts anderes als den Weg im Menschen frei machen zu genialer Erkenntnis durch Verbindung des Bewußtseins mit jenem von zeitloser Erfahrung und Weisheit erfüllten "kosmischen Schatzhaus".

Die hier ruhenden angeborenen Urbilder aber sind uns die Organe, mit deren wir, gewissermaßen a priori, den Sinn von Welt und Leben erfassen. Tritt das so Erfaßte in solch rezeptivem und zugleich schöpferischem Zustande in das verstehende Bewußtsein, so wird dieses mit einem ganz anderen tiefen Lichte und einer Wärme erfüllt, die wir als Weisheit oder als Erleuchtung bezeichnen.

 

In diesem Wissen um die Dinge steckt ein Stück genialer, oder sagen wir – vielleicht einseitiger, aber schärfer – mystischer Psychologie. Der tief rauschende Strom dieser mystischen Erfahrung und Tiefsicht begleitet die Entwicklung aller Religionen der Erde. Und das Merkwürdige, aber Verständliche ist, daß sie alle in ihren mystischen Richtungen mehr oder weniger behaupten, daß jedem Menschen der Zugang, wenn auch nicht die Höhe eben jener genialen Wesensschau möglich sei. Sei es, daß er durch ein einzigartiges Charisma hierzu geführt wird oder sei es, daß er durch die Schule der Meditation als der höchsten geistlichen Kunst gegangen ist. Also liegt gerade in der Fähigkeit zu jenem ursprünglichen und intuitiven Erfassen der allein mögliche Ausgangspunkt späterer Weisheit, nicht aber in rein verstandesmäßiger Analyse.

Lächelnd und zugleich ernst mahnend sagt Lao Zi (Vers 81):

"Weiser ist ungelehrt,

Gelehrter ist unweise."

Ist es nicht so, daß wir Abendländer in der neueren Entwicklung die Wissenschaft als unsere Domäne, ja als Kennzeichen unseres Geistes ausgebildet haben, der Osten aber bis in unsere Tage eine Heimstätte der Weisheit gewesen ist? Und ist nicht der Weise doch zugleich in einem unendlich tieferen Sinn der Wissende? Erscheinen nicht unter göttlicher Titanensinn und Tragik des selbstbewußten westlichen Menschen von einer höheren, allumfassenden Warte aus letztlich unwesentlich, als fehlleitend oder vordergründig? Und doch hat es auch bei uns im Westen zu allen Zeiten – meist im Schutze der Religionen – wahre Weisheit gegeben. Und so kann uns denn Beschäftigung mit der Weisheit und der Meditationserfahrung Chinas – und nur das kann der menschliche Sinn einer solchen Beschäftigung sein! – vielleicht dazu führen, die Tiefen unserer abendländischen Menschlichkeit besser zu verstehen und uns wieder zu den Quellen unserer Weisheit leiten.

Die Bedeutsamkeit solcher Weisheit wird uns erst recht eindringlich, wenn wir uns vor Augen führen, daß das Leben in solcher Tiefenschau oder vielmehr von ihr her notwendigerweise ein neues seelisches Gefälle verursacht, eine völlige Verwandlung des Menschen, die im wesentlichen als das Werden einer neuen sittlichen Persönlichkeit ihren Ausdruck findet. Daher lehrt denn der Buddhismus auch ganz richtig, daß die Meditation – diese immer als der Weg zu jener genialen Stufe betrachtet – zwei Dinge erreichen lasse:

1. Wesensschau oder Tiefsicht chin. Guan

2. beruhigenden Ausgleich des einbezogenen Trieblebens chin. She(sa. Samatha). Ohne hier nun näher auf die Stufenfolge des Weges einer solchen Entwicklung einzugehen, die sowohl ein Gang über die Innenwelt wie über die Außenwelt sein kann, sei hier vorweg bemerkt, daß der, der sich dem Ziele nähert, nicht zu einer statischen Größe des Weltgeschehens gelangt, was ihn selber zu einer Passivität abdrängen könnte, sondern zu einer dynamischen Ordnung oder vielmehr einem Ordnenden, das semper agens, semper quietus ist – wenn dieser Ausdruck hier gebraucht werden darf –, chinesisch gesprochen zum Dao, buddhistisch gesprochen zum Dharma.

Erhaben über Tun und Lassen (chin. über You Wei und Wu Wei, über Gewirktes und Ungewirktes (sa. samskrta und asamskrta), nachdem die Versickerung der Seele in die Sinneserfahrungen (chin. Lou,

Betrachten wir nun kurz, was die verschiedenen Religionen Chinas über die Meditation als Mittel zum sich Öffnen der Seele in einigen typischen Ausprägungen zu sagen haben.

 

 

II. KONFUZIANISMUS UND MEDITATION

Der Konfuzianismus bringt in meditativer Hinsicht, obwohl zutiefst in der Idee des Dao verankert, am wenigsten Aufschlüsse. Kein Wunder! Ist doch die Blickrichtung der ihn tragenden "Literaten-Schicht" wesentlich den mehr praktischen Problemen, wie der ethischen Gesinnung, der Familien- und Staatsmoral zugewandt. Ist doch das tatsächliche Ideal der Betätigung des konfuzianischen "Edlen" Jun Zi

Spezialisten auf diesem Gebiet sind überall zunächst einmal die Priesterkasten, die mit der Seelenleitung ihres Nachwuchses oder der Laienwelt betraut sind. Eine solche psychologische Überlieferung besaß eigentlich nur der buddhistische Klerus, dann aber auch die daoistischen Eremitengemeinschaften und die Klöster. Damit soll jedoch dem Konfuzianismus nicht abgestritten werden, daß auch in ihm von vornherein der bedeutsame Zug zur innerlichen Umwandlung des Seelenlebens, wenn auch mehr ethischer Art, angelegt ist. Sagt doch schon Zheng Ci, ein Schüler des Konfuzius (Lun Yu I, 4):

"Täglich prüfe ich mich selbst dreifach: War ich in der Tätigkeit für andere nicht treu? War ich im Verkehr mit Freunden nicht zuverlässig? Habe ich bei der Überlieferung (der Lehre sie selber) nicht ausgeübt?"

Sicherlich ist in dieser Art täglicher "Gewissenserforschung" Bewußtheit und Wille, durch Besinnlichkeit die Verwandlung und Veredelung des Charakters irgendwie zu ermöglichen. Wie sollte auch nicht in einer Lebensanschauung, in der das Ideal des "Edlen" zum erstenmal dem Individualismus Ausdruck und Adel verleiht, eben das Individuum seiner selbst bewußt sein und von da aus zu einer methodischen "self-control" kommen. Aber ebenso sicher kann hier von einer Meditation im Sinne einer hohen psychologischen Kunst noch keine Rede sein.

Die Verfeinerung der Methoden ist Sache der Spezialisten, und als solche auf dem Gebiet seelischer Vorgänge und ihrer eventuellen Zusammenhänge müssen wir die Daoisten und Buddhisten ansehen. Bei der überwältigenden Rolle im Geistesleben, die diese beiden Richtungen nacheinander im ersten Jahrtausend unserer Zeitrechnung spielten, ist ihr Einfluß auch auf bedeutende Konfuzianer nicht weiter verwunderlich. Der Raum ist hier zu kurz, um auf die mancherlei Mischgebilde und das interessante Hin und Her der kaiserlichen Staatspolitik zwischen den rivalisierenden Religionen einzugehen. Entscheidend für uns ist jedoch, wie sich die neukonfuzianische Scholastik der Song-Zeit, die ihrem Meister erst endgültig die beherrschende Stellung im Geistesleben gegeben hat, zur Meditation stellt.

Zhou Dun Yi (1017-1073), einer der Väter des Neukonfuzianismus, erklärt auf die Frage, ab man die Heiligkeit erlernen könne: "Man kann es". Gefragt, ob es da etwas Wichtiges zu beachten gebe, erwidert er:

"Ja, und dies Wichtige ist Sammlung. Sammlung aber ist Wunschlosigkeit. Ist man wunschlos, dann ist man still und leer, und die Seelenbewegung ist recht. Ist man still und leer, dann wird man klar. Ist man klar, dann durchschaut man. Ist das Durchschauen recht, dann ist man sozial. Ist man sozial, dann ist man auch universal! Klarheit, Bewegtheit, Gemeinsinn, Universalität, das ist es!"

In der Wahl der Worte "still" Jing und "leer" XuStillesitzen" Jing Zuo im Sinne meditativer Erlebnisse bei seinen großen Schülern und Nachfolgern bekannt.

Yang Shi (1053-1135), ein Schüler der beiden Brüder Cheng, die ihrerseits Jünger des erwähnten Zhou Dun Yi waren, besuchte eines Tages – so erzählt uns seine Biographie – zusammen mit Yu Zuo den Meister Cheng Yi (1033-1107). Sie treffen ihn, wie er völlig im "Stille-Sitzen" versunken ist. Die beiden wagen nicht, seine Schau zu stören, und bleiben ganz ruhig stehen. Als Cheng Yi wieder zu sich gekommen ist, die beiden begrüßt und – sich entschuldigend gleich wieder – entlassen hat, liegt der Schnee vor der Tür drei Ellen hoch! So lange hatte also die Versunkenheit gedauert, soweit die beiden Schüler ihre Zeugen gewesen waren.

Wir wissen auch, daß Yang Shi und die beiden folgenden Meistergenerationen Luo Cong Yan (1072-1135) und Li Tong (1088-1158) die Meditation geübt und sie ihren Schülern gelehrt haben.

Zhu Xi (1130-1200) nun, der Fürst der konfuzianischen Scholastik, wurde eines Tages darüber befragt, ob er der Meditationsmethode seines Lehrers Li Tong beipflichte. Er antwortete darauf, das sei schwer zu sagen. Wenn man die Meditation dazu benutze, um die Wahrheit Dao Li zu erreichen, so sei er nicht dagegen. Er verwerfe aber, was die meisten als Meditation praktizierten; denn deren Meditation sei durch den Wunsch veranlaßt, sich von der Arbeit zu drücken.

Hiermit spielt der große Hasser des Buddhismus wohl auf die buddhistischen Mönche an, deren Daseinssinn er nie verstanden hat. Er wendet sich daher mehrfach gegen deren Meditationstechnik. So schreibt er in einem Brief an Liu Ci Yuo:

"Für einen Buddhisten ist die (metaphysische) Leerheit das Wichtigste, dagegen für uns Konfuzianer gerade das Reale (die Erscheinung), und zwar erkennt man Freude, Zorn, Trauer und Glück schon vor ihrem wirklichen Bewußtwerden."

An einer andern Stelle sagt er, das "Stille-Sitzen" Jing Zuo habe nicht den Zweck wie (notabene angeblich) die buddhistische Meditation, nämlich Gedanken und Sorgen absolut auszuscheiden, sondern lediglich den der Sammlung, damit die Gedanken nicht auf unnötige und falsche Bahnen geraten. So wird die Seele rein und ruhig, sie kann sich sammeln und ist dann im Stande, sich richtig zu entscheiden. Zhu Xi zitiert den Satz aus dem Anfang der "Höheren Ausbildung" Da Xue:

"Kennt man das Ziel Chi, so hat man Festigung Ding; ist man gefestigt, dann kann man still JingAn zu sein; ist man voll Frieden, so vermag man nachzudenken; durch Nachdenken erreicht man (das Ziel)."

In diesen uralten Sätzen kommen die Begriffe vor, die später im Buddhismus und im Daoismus Fachausdrücke der Meditationstechnik sind. So bezeichnet Chi nicht einfach "Haltmachen, Grenze, Ziel", sondern die "Beruhigung der Leidenschaften" (sa. Samatha), Ding nicht Festigung, sondern Versenkung (sa. samadhi) und insbe-sondere vorstellungsmäßige Verlegung des Bewußtseins in das Lebens-zentrum (vergleiche im indischen Yoga dharayä) und Jing nicht einfach Ruhe oder Stille – also Freisein von Störung –, sondern geradezu Versenkungsstufe oder meditativer Zustand (sa. dhyana). An schließlich bedeutet aber nicht nur Friede, Festigkeit, sondern jenen rezeptiven und zugleich schöpferischen Frieden der Seele, in dem allein spontan die tieferen Kräfte wirken können (sa. sthairya).

Die drei Worte Ding, Jing und An sind in daoistischen Kreisen eine feststehende Formel für den Versenkungsablauf zu Beginn jeder Meditation. Man verlegt vorstellungsmäßig sein Bewußtsein zwecks Ausschaltung alles störenden Gedankenspiels in das Lebenszentrum (etwa Sonnengeflecht). Das ist noch ein Willensakt: Ding, die Fixierung des Bewußtseins. Darauf erreicht man einen Zustand völliger Ruhe und Stille. Alle störenden Gemütsbewegungen und alle Vorstellungen sind ausgeschaltet. Das ist Jing, die Ruhe. Darauf wird man, ohne daß man etwas will, von einem Zustand eines erwartungsvollen und zugleich seligen Friedens An erfüllt. Man braucht sich nicht mehr um die Fixierung und Aufrechterhaltung der Ruhe zu bemühen, man ist versunken, hingegeben und auf diese Weise bereit, aufsteigende geniale Erkenntnisse zu erleben und bisher unbewußte oder unbekannte Dinge und Vorgänge zu spüren. Sie treten spontan ins Bewußtsein. Man ist also nicht in Konzentration (willentlicher Anspannung) befangen, sondern frei, gelöst und doch gesammelt, nämlich durch "Kontention" (unwillentliche Gespanntheit). Das ist der schöpferische Zustand.

Zhu Xi ist sich offenbar sehr wohl bewußt, daß die psychischen Eigenschaften, die in dem zitierten Spruch vorkommen, gerade Eigenschaften des Meditationsvorgangs sind und von anderen Richtungen so ausgelegt werden. Er schätzt diese Seelenlagen hoch ein, aber eine Kunstlehre, eine systematische Bearbeitung der Methodik der Meditation (wie auf seinen andern Arbeitsgebieten) hat er nicht geschaffen. Auch als später manche hervorragenden Konfuzianer vom Ausgang der Song-Zeit bis zur Ming-Zeit zum Buddhismus und zum mystischen Subjektivismus neigten, "mehr meditierten als studierten" – um einen Ausdruck von Wieger zu gebrauchen –, hat die konfuzianische Schule den Wert der Meditation zwar wohl erkannt, aber nie eine eigene konfuzianische Systematik der Betrachtung, keine eigne Methodik geschaffen.

Man kann wohl sagen, daß jener gehobene meditative Zustand, der zugleich voll Frieden und zugleich voll Überwachheit ist, als fruchtbare Basis der Wesensschau und Charakterpflege für den Weisen und Edlen gewürdigt und geübt wurde, dies aber den Konfuzianern genügte. Sie haben sich gescheut vor der ungeheuerlichen Mystik der Daoisten und Buddhisten mit ihrem Zug, ins Unbetretene, nicht zu Betretende einzudringen und von da aus Himmel und Erde aus den Angeln zu heben, um so selber völlig ins Letzte des Universums einzugehen.

 

III. VOM BOGENSCHIESSEN

Ein ganz besonderes Gebiet, auf dem sich der meditative Zustand eingebürgert hat, sind die Künste, die dadurch eine Vergeistigung und Verinnerlichung ohnegleichen erfahren haben. Bekannt ist, daß die Herstellung jener schöpferischen Haltung, unter Verwendung des Weihrauchopfers, für viele Künste zeitweise gepflegt wurde. So ist das Spielen der Laute Qin geradezu ein sakraler Akt. Mit feierlichem Zeremoniell, in besonderem Ornat wird das Qin auf den Tisch gestellt, Weihrauch verbrannt und jener eine Zustand der Gesammeltheit hergestellt, aus dem heraus allein die geradezu kosmische Wirkung des Zitherspiels erreicht werden kann. Aber auch alle Künste, die in Europa nur als Sport bekannt sind, unterliegen der Pflege der Meditation.

Da ist vor allem die Kunst des Bogenschießens zu nennen, die der Edle zu erlernen hat. Schon im Buch der Riten Li Ji, Kap. 43, finden wir eine geistige Durchdringung des Bogenschießens, die es aus der Ebene des rein Technischen geradezu zu einer feierlichen Handlung erhebt und eine Beziehung zwischen sittlicher Haltung und Schießkunst herstellt. Die Rangordnung der Gäste wird beobachtet, die Bewegungen der Schützen gehen nach den Regeln der Sitte vor sich, die sorgfältige und fest zu greifende Handhabung von Bogen und Pfeilen gestattete nach diesem Buche Rückschlüsse auf die sittliche Tüchtigkeit und den Lebenswandel des Schützen.

"Das Bogenschießen war das Dao der Humanität. Man erstrebte die Geradheit im eigenen Innern. War man selbst gerade, dann konnte man schießen. Verfehlte man beim Schießen das Ziel, so zeigte man sich nicht zornig gegenüber dem, der einem überlegen war. Prüfend suchte man in sich selbst (den Fehler) und nicht sonstwo. Kong Zi sprach: Der Edle hat nichts, worum er kämpfen würde; oder etwa beim Bogenschießen? (Vor dem Schuß) läßt er grüßend den Vortritt und steigt (auf die Schießbahn) hinauf. (Nach dem Schuß) kommt er herunter und trinkt (den Siegesbecher). Auch im Kampf ist er ein Edler."

Lie ZiDas ist Schießen des Schießens, nicht Schießen des Nicht-Schießens!" Er führt den Schützen auf einen hohen Berg an einen hundert Klafter tiefen Abgrund und stellt sich selbst so an die Kante, daß zwei Drittel seiner Fußsohlen in die leere Luft ragen. Nun fordert er den anderen auf, es ihm gleichzutun. Der aber kann es nicht, der Angstschweiß bricht ihm aus. Der Meister des Dao belehrt ihn, daß er also kein vollkommener Schütze sei, denn er sei noch äußeren Eindrücken unterworfen! Der Schütze kannte also noch nicht die völlige Versunkenheit in das Ziel, aus der allein heraus meisterhaft geschossen wird, oder vielmehr wo nicht geschossen wird, sondern der Pfeil sich gewissermaßen von selbst löst und unfehlbar ins Schwarze trifft.

Gar mannigfache Schulen dieser edlen Kunst hat es später in China gegeben, vielfach mit daoistischem, aber auch mit buddhistischem Einschlag. Das Wichtigste wird auch heute noch – übrigens wie in Indien – nur als Geheimlehre überliefert. Der Knabe, der diese Kunst erlernen will, bekommt von seinem Lehrer keineswegs gleich Bogen und Pfeil in die Hand gedrückt, sondern muß zunächst einmal lernen, sich geistig in das Ziel zu versenken. Der Lehrer setzt ihn auf einen Hocker oder Stuhl, läßt ihn eine ruhige Haltung einnehmen und hängt an die Wand, zwei, drei Schritt von dem Schüler entfernt, eine rote (etwa zwei Zoll große) Scheibe auf weißem Papier. Der Schüler muß alle störenden Gedanken ausschalten und nur die rote Scheibe, das Ziel, anblicken. Er fixiert seinen Geist dorthin und versenkt sich in völliger Ruhe und voll Seelenfrieden in die Zielscheibe. Da ergreift ihn das Ziel, es kommt ihm so vor, als oh die Scheibe wüchse und größer würde, so etwa bis zu der Größe, wie wir den Mond wahrnehmen. Auch die Täuschung tritt ein, als ob die Zielscheibe auf ihn zukäme. Erst nachdem der Schüler diese geistige Versenkung längere Zeit geübt hat, auch die Entfernung zwischen Mensch und Ziel allmählich immer mehr vergrößert worden ist, lernt er die Handhabung von Bogen und Pfeil. Wer so das Ziel erlebt hat, der trifft auch, wenn er später zu Bogen und Pfeil greifen darf, unfehlbar, und zwar ohne Zielen, ins Zentrum. Aber es kommt eigentlich gar nicht darauf an, ab man wirklich das Ziel trifft – bei einem Knaben reicht oft die Kraft nicht aus, der Pfeil fällt vorher zu Boden; als Mann wird er das Ziel schon erreichen! –, wichtig allein ist die richtige Geisteshaltung, aus der heraus geschossen wird. Es handelt sich also gar nicht um etwas, was wir Sport nennen, sondern um eine geistige Schulung.

Erwähnt sei auch, daß die Haltung beim Schießen – in dieser Schulrichtung – eine eigentümliche ist: die Füße etwas voneinander entfernt und parallel gestellt, die Knie fast im rechten Winkel gebeugt, der linke Arm hält den Bogen waagerecht, der rechte zieht den Pfeil ab. Diese nicht einfach zu erlernende Haltung gibt dem Körper nicht nur, sondern auch der Seele die Haltung einer ganz ungemeinen Festigkeit und Unerschütterlichkeit, ohne jede Verkrampfung.

In andern Schulen des Bogenschießens gibt es natürlich noch allerhand Abwandlungen der Methode und der zu erlebenden Inhalte. Wird z. B. der Bogen senkrecht gehalten, so wird in aufrechter Haltung geschossen. In den buddhistischen Kreisen wird das Ziel zugleich als die dem Weltall zugrunde liegende Buddha-Natur aufgefaßt. Aber auch der Schütze ist ja selber gleich Buddha. Beide sind eins. Der räumliche Abstand zwischen beiden ist eigentlich Illusion, Illusion auch die Bewegung des Pfeils...

Es handelt sich also gar nicht um etwas "Sportliches", sondern um eine Ausbildung der Seele. Ein meditativ geschulter Schütze trifft mit Sicherheit ins Zentrum. Warum? Er zielt nicht mehr mit Absicht, mit Verkrampfung, auch ist er durch keinerlei störende Momente mehr zu beeinflussen, er schießt meditativ, spontan, d. h. hier reflexmäßig, ohne zielen zu müssen.

 

 

IV. DAOISTISCHE MEDITATION

P ALIGN="JUSTIFY">Dem mystischen Daoismus lag die Meditation von seinem Wesen aus besonders, desgleichen auch all die anderen Ratschläge zur Entwicklung eines Lebens auf einem verfeinerten geistigen Niveau, so die Empfehlung der Einsamkeit, der Pflege der Atemtechnik, die Luft-, Sonnen- und Mondbäder, die körperliche und seelische Diätetik usw., kurz das, was man später (unter dem – auch sonst sehr starken – Einfluß des Buddhismus) gern mit dem indischen Worte "Yoga" Yu Jia bezeichnete.

Es ist hier nicht der Ort, auf die Geschichte der daoistischen Meditationstechnik einzugehen. Statt dessen möchte ich mit kurzen Strichen ein Bild von der Eigenart eines heutigen philosophischen Bundes geben, der die alte Mystik und die Technik der Meditation in einer – in seiner Art – vollendeten Weise lehrt.

Der Bund, der über ganz China verbreitet ist, schart sich um einen Meister, der das Charisma der Erleuchtung und eines hohen Seins besitzt. In dem weiteren Kreise dieser Gesellschaft wird lediglich die philosophische Beschäftigung mit der Mystik gelehrt, denn diese wird als der Kern aller Weltreligionen angesehen. In einem engeren Ringe dagegen unterrichtet der Meister persönlich seine Schüler – einzeln und individuell verschieden – in der Kunst der Meditation. Die Tradition ist – wie in Indien – eine von Geschlecht zu Geschlecht fortgepflanzte mündliche. Die Seelenleitung durch einen erfahrenen Meister ist – wegen der teilweisen seelischen Gefährlichkeit bestimmter Meditationen – unbedingt notwendig.

Bezüglich des Verhältnisses der großen Religionen der Erde untereinander wird gelehrt, daß die sittlichen Ideale des Buddhismus und des Christentums, wenn sie buchstäblich genommen werden, so hoch gegriffen seien, daß sie in Wirklichkeit kein Mensch erfüllen könne. Die menschliche Gesellschaft müsse nun als erstes von ihren Mitgliedern verlangen, daß sie wenigstens die menschlichen Beziehungen richtig regelten. Dies lehre am besten Konfuzius. Mit ihm müsse man also anfangen.

Sein vornehmes, sittliches Ideal vom Menschen, der "Edle" Jun Zi, und seine sozialethischen Lehren seien nicht so hoch gegriffen, daß man ihre Verwirklichung nicht von jedem Menschen verlangen könne.

Freilich für eine wahrhaft tiefe Gestaltung des Innenlebens des Menschen reiche der Konfuzianismus nicht aus, da müsse man zu den anderen Meistern der Menschheit weiterschreiten – Buddha, Lao Zi, Mohammed, Christus –, die alle von einem mystischen Leben erfüllt gewesen seien.

Als das Ziel des Menschen wird die Vereinigung mit dem Urgrund des Weltgeschehens, dem "Großen Dao" Da Dao, das in besonderer Beziehung mit der Gottheit eins ist, angesehen. Der Weg hierzu ist die Wiedergeburt. Diese wird demjenigen Menschen zuteil, der sich einerseits durch Meditation die Empfängnis des puer aeternus – des ewigen Kindes – in seinem Innern erschließt und der zugleich charismatisch erwählt ist.

Die Vorbedingung der Zulassung zu der Seelenleitung durch den Meister ist die religiöse Haltung des Glaubens oder Vertrauens Xin, (vgl. die buddhistische sraddha) zu den ewigen Mächten und zu der – durch die Jahrtausende nur mündlich überlieferten – Lehre und Anweisung, die der Meister erteilt.

Die Zulassung ist daher verbunden mit einem Devotionsakt vor dem obersten Gott Shang Di, und zwar sowohl seiner sich offenbarenden (You Wei) wie seiner verborgenen (Wu Wei) Seite. Der sich offenbarende Gott wird als der "allerheiligste, höchste Herr sämtlicher Religionen (der Menschheit)" bezeichnet. Dieser Akt religiöser Hingabe an Gott wird zugleich metaphysisch als etwas betrachtet, das dem Menschen die Anwartschaft gibt auf ein innigeres Verhältnis zu ihm.

Zu dieser Eigenschaft des Glaubens oder Vertrauens treten nun vier äußere Ratschläge, die zu beobachten sind: 1. arbeitsam sein, 2. sich Muße nehmen, 3. heiteren Gemütes sein, 4. täglich an das Dao denken.

Wer den Glauben oder das Vertrauen hat, der bewahrt auch in sich die ursprüngliche himmlische Natur Xing. Diese hält zugleich den .Menschen in Bewegung und am Leben – so wie das Dao das Weltall in Bewegung und am Leben hält. Es gibt jedoch außer dieser geistigen Kraft seiner Natur noch die reine Lebenskraft Ming.

Als Sitz der beiden Kräfte wird in der Meditation angenommen: Für die "himmlische Natur" Xing eine Stelle kurz über dem Herzen (am sogenannten "Polarstern des Himmels"), für das "Leben" Ming kurz unter der Nabelgegend im Innern des Leibes (etwa Sonnengeflecht), auf der sogenannten "Erde". Die Natur des Menschen, die Anlage, ist das Schöpferische Qian; sein Leben, sein Schicksal, ist das Empfangende Kun. Beide zusammen sind sein Dao. Die Aufgabe des Menschen ist es, diese beiden Kräfte, die sich wie Yang und Yin zueinander verhalten, in Einklang, ja zur Einheit zu bringen.

Ferner aber muß eine Selbsterziehung geübt werden, die den ganzen Menschen umspannt: das irdische Ich, das von den Eltern stammt, das seelische Ich, das die Keime von Himmel und Erde enthält, und das metaphysische Ich, das letztlich mit dem Dao eins ist.

Entsprechend der angeborenen Natur des Menschen und seiner Lebenskraft umfaßt die geheime Überlieferung zwei Gebiete:

1. die "Pflege des Lebens" oder die "Arbeit an der Lebenskraft"

Ming Gong

2. die "Pflege der Natur" Xing Gong

Die Pflege des Lebens umfaßt ihrerseits wieder drei Abteilungen, die den "drei Flüssen" San H

1. Atem oder Odem Qi

2. Same oder Keim Jing

3. Geist oder Genius Shen

Zu bemerken ist, daß die beiden ersten nicht identisch sind mit den körperlichen Entsprechungen und daß der Geist nicht gleich unserem Bewußtsein ist.

Die "Pflege der Natur" umfaßt zwei Gebiete:

1. Ethische Vervollkommnung des Charakters

2. religiöse Vertiefung des Geistes

Zur rechten Pflege von "Natur" und "Leben" ist es nun notwendig, zu meditieren. Denn durch die Meditation bereitet man sich in einer Art innerer Alchimie unter Verwendung der drei Flüsse zur Wiedergeburt und zur Vereinigung mit dem Dao vor. Bei diesem Vorgange einer Alchimie kann es nicht ausbleiben, daß das wahre Heilmittel eines verlängerten Lebens eben durch die Pflege der Lebenskraft gefunden wird. Jedoch ist das nicht wesentlich, wichtiger ist die Gewinnung des wahren Goldes Zhen Jin, des unsterblichen unauflösbaren, ewigen Ichs.

Zur Meditation setzt man sich in völlig entspannter Seelenstimmung hin, entweder mit verschränkten Beinen, oder indem man – auf einem Stuhl oder einer Bank sitzend – die Beine auf den Boden stellt (Knie und Füße entfernt voneinander und die Fußspitzen etwas nach außen). Es kommt lediglich darauf an, daß eine ungezwungene Haltung angenommen wird, die der Körper – ohne sich rühren zu müssen und dadurch abgelenkt zu werden – etwa eine halbe Stunde lang ertragen kann. Der Rücken ist gerade aufgerichtet, die Nasenspitze senkrecht über dem Nabel (als der Gegend des Lebenszentrums). Die Augen sind halb offen und senden zum Lebenszentrum ihre Blicke, wie die Sonne ihre Strahlen zur Erde sendet. Die Hände ruhen bequem im Schoß. Die rechte Hand ist zur Faust geformt, die Linke umschließt die Rechte, so daß der linke Daumen über den rechten zu liegen kommt. Das ist wie die Vereinigung von Yang, der schöpferischen männlichen Kraft (links), mit Yin, der empfangenden weiblichen Kraft (rechts), zugleich eine Andeutung der unio mystica.

Nachdem das "Meer des Odems" Qi Hai in der Bauchhöhle durch ganz ruhiges dreimaliges (höchstens fünfmaliges) Tiefatmen angeregt ist, achtet man weiter nicht mehr auf die Atmung. Sie soll sich während der Meditation von selbst beruhigen. Man atmet immer mit geschlossenem Munde. Alle Muskeln sind entspannt.

Diese äußerlichen, rein technischen Vorschriften bezwecken nichts weiter als die Herstellung eines körperlichen Zustandes, aus dem keine Störungen für die Meditation erwachsen. Man hat also keine erzwungene oder unbequeme Haltung, aus der man sich durch eine plötzliche Bewegung befreien müßte, wodurch man in der Meditation gestört würde. Man kann also eigentlich in jeder Lage meditieren. Die oben angegebene ist nur eine als erprobt empfohlene.

Nunmehr kann die geistige Stimmung der Meditation hergestellt werden. Das geschieht, indem man durch die oben schon erwähnten drei Stufen des "Ding, Jing, An" ins Reich des Halbbewußten gleitet und so jene Aufnahmefähigkeit in sich herstellt, in der dann die großen Erlebnisse und Erfahrungen als schöpferische Erkenntnisse aufflammen, so den Menschen vertiefen und ihn zugleich verwandeln.

Man schaltet also zunächst alle Gedanken aus, erweckt jedoch ein Gefühl religiöser Verbundenheit und tritt darauf in die erste Stufe der Versenkung ein.

1. Ding, die Festlegung des Bewußtseins. Man denkt an das Lebenszentrum, und zwar so, daß man in sich die Vorstellung erweckt, man denke nicht mit dem Gehirn, sondern das Bewußtsein befinde sich in eben jenem Zentrum. So vereinigt man den Geist mit dem Leben, das Yang mit dem Yin. Auf diese Weise wird mit Leichtigkeit jeder störende Gedanke ausgeschaltet. Tauchen trotzdem welche auf, so muß man "die Affen festbinden" (Shuan Hou Ci. "Das Herz ist wie ein Pferd, die Gedanken sind wie die Affen."

Jegliche Gedanken, die im Hirn auftauchen sollten, werden vorstellungsmäßig gepackt und im Lebenszentrum festgebunden, dann sind sie erledigt, denn die Vereinigung von Gedanke (Logos) und Leben (Eros) wirkt wie ein Kurzschluß.

2. Jing:Jing = die Stille. Aber etwas Willentliches ist noch in dieser Stille vorhanden, ein Bestreben, die Stille zu erhalten.

3. AnAn = der Frieden. Der Meditierende bemüht sich nicht mehr um Stille, er hat sie, er wird – versunken in sich selbst – erfüllt von unaussprechlichem Frieden und einer seligen Heiterkeit.

Jetzt ist der rezeptive Zustand hergestellt, in dem nun die ersten Erkenntnisse aufleuchten können, das Merken auf innere Vorgänge stattfinden kann, der rezeptive Zustand also in einen schöpferischen, überwachen umschlägt.

Das erste Erlebnis, das man erfährt, ist das "Erwachen des Menschen". Dies wird spürbar in zwei Zeichen (und häufig in einer vorübergehenden Störung). Wer diese Zeichen erlebt – die er vorher nicht ahnen kann! –, der bekommt die nächste Meditation mitgeteilt, und so geht es fort. Aber niemandem wird weiteres mitgeteilt, ehe er nicht die "Zeichen" erlebt hat. Diese Seelenleitung ist also eine Einweihung im geistigsten Sinne des Wortes. Das Gesagte mag zur Darstellung der ersten Meditation genügen.

Durch diese Meditation wird nun der Fluß des Odems geweckt, der durch eine Reihe späterer Meditationen in bestimmter Weise rückwärts zum Rückgrat (dem "Himmelsfluß", d. h. der Milchstraße) geleitet und diesem entlang vorstellungsmäßig zum Kopf (am Hinterkopf ist das Tor der himmlischen "Nephritstadt"!) hochgezogen wird. Die Einzelheiten können hier wegbleiben.

Auf der Stirne tritt er in das "dritte Auge" ein, das – schon vorher durch Verschmelzung der beiden Augen geweckt – nunmehr gewaltig aufleuchtet, das ist der "Glanz der (angeborenen) Natur" Xing Guang, ein Gefühl der religiösen Erleuchtung durchströmt den Menschen, dann wird der Strom bis zum Lebenszentrum herabgeschickt und kreist so wieder den selben Weg. Das "Rad des Dharma" (Dharmacakra, wie man auch gelegentlich mit einem Ausdruck buddhistischer Meditationstechnik sagt) dreht sich jetzt, der "Fluß des Odems" kreist.

Hier hat man nun zum ersten Male auf dem Meditationsweg ein ganz großes metaphysisches Erlebnis, nämlich das des eigenen Sterbens, das mit namenlosem Grauen beginnt, aber in ein Gefühl der Seligkeit und Freiheit umschlägt, sofern man gleichgültig gegen alles, was geschehen mag – "und wenn ich auch jetzt sterben muß!" –, die Meditation entschlossen fortsetzt. In dieser Erscheinung kündigt sich das "Sterben des natürlichen Menschen" an. Die erste Abteilung auf dem mystischen Pfade, die eine Art Läuterung oder Reinigung darstellt, geht zu Ende.

Mit diesem Erlebnis schließt die eigentliche Ausbildung in der "Pflege des Flusses des Odems". Die Lebenskraft ist jetzt derartig angeregt (die innere Sekretion spielt dabei eine bestimmte Rolle), daß eine Stärkung der Lebenskraft resultiert. Das Erlebnis des eigenen Todes ist dabei von grundlegender Bedeutung, denn es ruft eine neue Einstellung des Menschen hervor. Der Mensch verliert die Verhaftung an die Welt. Dies ist natürlich ein Prozeß, der nicht auf einmal abgeschlossen ist, aber der im wesentlichen im Laufe von zwei Jahren zu einem Grundmotiv eines neuen Lebens wird. Hiermit gewinnt der Mensch Überlegenheit über Welt und Leben.

Nunmehr aber beginnt erst zweitens das eigentliche große Werk der Zeugung und Wiedergeburt in einem neuen Menschen aus Feuer und Wasser – unter Verwendung des Stromes der Keime –, der dann seinerseits drittens wieder zum göttlichen Grunde des Weltgeschehens in innigster Beziehung – durch den Strom des Geistes oder des Genius – steht.

Das Gesagte mag genügen, um eine Vorstellung von der daoistischen Meditationstechnik zu geben und zugleich zu zeigen, daß sie ganz schlicht und mit rein äußerlichen Verhaltungsmaßregeln beginnt, um aber in den ungeheuersten Erlebnissen einen neuen, völlig gewandelten Menschen zuzubereiten, einen Menschen, der in der Welt, nicht von der Welt ist.

Eine Tabelle mag ein Bild der drei Flüsse, Prinzipien usw., die im Grunde eins sind, geben (die Stellung des himmlischen Drachen als des höchsten Symbols – übrigens auch in der westlichen Alchimie – ist dadurch ohne weiteres verständlich, desgleichen die Stellung des erdgebundenen Tigers – im Westen "grüner Löwe").

 

 

 

V. VOM UNBEWAFFNETEN HANDKAMPF

Schon beim Bogenschießen hatten wir die Vermutung ausgesprochen, daß diese edle Kunst durch daoistische Einflüsse, aber bestimmt auch durch buddhistische, eine Vertiefung und Vergeistigung erfahren hat, so daß an Stelle eines "Sportes" über die Wandlung zu einer konfuzianischen Zeremonie etwas getreten ist, das von innen her gesehen auf einem meditativen Zustand beruht, aus dem heraus rein reflexmäßig geschossen wird. Die Pflege einer solchen Kunst dürfte den Menschen auch irgendwie zu einer Art Instinktsicherheit zurückführen.

Eine ähnliche Vergeistigung können wir nun auch bei anderen Waffenkünsten beobachten. So gibt es unter den "Kampfgeräten" Wu Qi oder Bing Qi außer Bogen, Schwert, Lanze usw. auch eine Gruppe der sog. "verborgener Geräte" An Qi, die geheim in einer Tasche, im Gürtel oder im Stiefel mitgeführt werden und deren Handhabung rein reflexmäßig zu geschehen hat. So wird z. B. ein nadelartiger Dolch plötzlich auf den Gegner geschleudert oder ein einfacher Stein. Dies Werfen muß ohne bewußtes Zielen vor sich gehen. Auch hier besteht die Erziehung in der Erlernung der reflexmäßigen Handhabung.

Ganz besondere Methoden aber haben sich bei der unbewaffneten "Faustkampf-Kunst" Kuan Shou herausgebildet, und zwar unter buddhistischem Einfluß. Boxen ist also im Gegensatz zum Westen geradezu eine geistige, eine buddhistische Angelegenheit. Bekanntlich spaltete sich die Meditationssekte nach dem 5. Patriarchen in zwei Richtungen, eine südliche unter Hui Neng, mit der Lehre von der plötzlichen Erleuchtung, und eine nördliche unter Shen Xiu, der eine allmähliche, immer mehr zunehmende Erleuchtung lehrte. Eine gleiche Unterscheidung von Süd- und Nordsekte treffen wir nun auch – wohl unter buddhistischem Einfluß – in der Malerei.

Aber auch bei der Faustkampfkunst finden wir eine "Südsekte" Nan Zong und eine "Nordsekte" Bei Zong. Gemäß der Überlieferung wurde diese waffenlose Kampfkunst zuerst von buddhistischen Mönchen systematisch durchgebildet und zugleich aufs höchste vergeistigt. Die "Nordsekte" des Faustkampfes hat ein "äußerliches Training" Wai Gong, sie bringt starke muskulöse Typen hervor. Die südliche Sekte dagegen hat ein "inneres Training" Nei Gong, das auf Geschicklichkeit, Verfeinerung des Körpergefühls und Vergeistigung beruht. Eine besonders feine Art des Faustkampfes ist der "Faustkampf (nach Art) des Urprinzips" Tai Ji Qua. Bei diesem werden die Hande flach ausgestreckt, die Daumen rechtwinklig eingebogen und an die Wurzel der Zeigefinger gelegt. Man bewegt nun vor sich beide Hände nebeneinander etwa in Form unseres Unendlichkeitszeichens: und bringt den Gegner durch dessen eigene Kraft und Wucht zu Fall.

Die beiden Hände werden bei ihrer Bewegung bald vor, bald mehr zurück gehalten, immer in leichter Fühlung mit der Faust oder den Händen des Gegners. Merkt man, daß man durch Nachdrücken oder durch Herüberziehen der Bewegungen des Gegners diesen zu Fall bringen kann, so führt man die Bewegung aus, sonst zieht man bereits wieder die Hand zurück, um das eigene Gleichgewicht nie zu gefährden und um Kraftvergeudung zu vermeiden. Der Gegner dagegen stößt z. B. mit der Faust stark vor, er verausgabt hierzu Kraft, ferner verliert er die Sicherheit des Stehens, da er sich zu weit nach vorne beugt. Der "Urprinzipkämpfer" aber stößt nicht gegen ihn, sondern weicht aus, er fängt mit beiden Händen den Stoß ganz leise auf und lenkt ihn nach rechts oder links an sich vorbei. Das muß so geschmeidig und leicht ausgeführt werden, daß der boxende Gegner das Gefühl hat, er stieße ins Leere. Er verausgabt nutzlos seine Kraft und muß nun außerdem noch die Anstrengung machen, sein Gewicht wieder in die Ausgangshaltung zurückzuverlegen und den Arm zurückzuziehen. Ist er aber zu weit ausgefallen und dadurch erheblich unsicher auf den Füßen geworden, so zieht ihn der "Urprinzipkämpfer" noch weiter mit beiden Händen seitlich an sich vorbei, so daß der Boxer durch die Wucht seines eigenen Stoßes hinstürzt. Zieht sich der Boxer zu heftig zurück, so daß er ebenfalls erheblich unsicher steht, so drängt der "Urprinzipkämpfer" mit beiden Händen nach, so daß der Boxer im Schwung des eigenen Rückzuges nach hinten stürzt.

Besonders zu beachten ist, daß der Boxer nutzlos seine Kraft verausgabt und immer ins Leere stößt, bis er bei zu heftiger Bewegung und ermüdet zu Fall gebracht wird. Der Urprinzip- Kämpfer gleicht aber wirklich dem Urprinzip: mühelos, wie spielend bewegt er in der seltsamen Linienführung die beiden Hände bald näher, bald weiter, niemals zu fassen, niemals zu treffen wie die "Leerheit" des Prinzipes selber. Nie angreifend, drängt er doch den überlaufenden Gegner in dessen eigene Richtung weiter, so daß dieser sich selber in seiner sich vor- und zurückbeugenden Verblendung zugrunde richtet.

Das "innere Training" der "Südsekte" umfaßt nun "die acht Brokatübungen" Ba Duan Jin eine von diesen ist das "Kreisenlassen des Odems" Yun Qi, eine regelrechte Yoga-Meditation. Zu deren Erklärung ist vorauszuschicken, daß bestimmte physiologische Ansichten in China geläufig sind, über deren Berechtigung hier nicht weiter zu sprechen ist. Zu diesen Ansichten gehört z. B., wie wir schon bei der daoistischen Meditation bemerkten, daß die chinesische Ärztekunst und ebenso alle Yoga-Übungen den Sitz der Lebenskraft im Innern des Unterleibes suchen.

Auch die Bezeichnung des Unterleibs als "Meer des Odems" lernten wir dabei kennen. Nun wird der ganze Unterleib medizinisch in drei Gegenden zerlegt: die oberste Abteilung etwa in Magenhöhe, die mittlere etwa in Nabelhöhe, die untere etwa in Blasenhöhe, in allen dreien wirkt der "Odem" Qi besonders stark. Endlich ist noch zu sagen, daß der Speichel von der chinesischen Ärztekunst geradezu als eine Verdichtung des Odems angesehen und hoch geschätzt wird.

Die Yoga-Übung des "Kreisenlassens des Odems" Yun Qi besteht nun in folgendem:

Man wölbt die Zunge nach oben, so aß sie den Gaumen berührt. Dann kitzelt man mit der Zunge leicht den Gaumen, und es wird eine starke Speichelabsonderung stattfinden. Diesen verschluckt man, bis man etwa einen Mundvoll hervorgebracht und hinuntergeschluckt hat. Die Speichelmasse ist also jetzt im Magen, und da sie als verdichteter Odem gilt, so wird der oberen Abteilung des "Meeres des Odems" eine ganz besondere Stärkung zuteil. Wenn man die Bauchwand von außen betastet, muß man den Speichel so etwa wie eine feste, aber elastische Kugel oder einen Ball in diesem Magen spüren.

Man dreht nun durch die Kraft der Vorstellung Yi diese Kugel dreimal nach links und dreimal nach rechts, darauf versenkt man die Kugel in die zweite Abteilung (Nabelgegend), wiederholt hier dieselben Drehungen, dann versenkt man sie in die Blasengegend, wo die gleiche Bewegung ausgeführt wird. Zuletzt lenkt man diesen zusammengeballten Odem rückwärts zum Rückgrat-Ende und läßt dann die Kugel durch das Rückgrat zum Gehirn hinaufsteigen; oben angekommen träufelt der Odem alsbald wieder als Speichel in die Mundhöhle. Diese für westliche Medizin höchst absonderliche Prozedur soll nun eine besondere Wirkung haben: der also Geübte vermag die Kraft des Odems jederzeit beim Kampf an die Stelle zu lenken, wo er gefährdet ist, dort wird der Körper fest, ja unverwundbar. Schlägt ein Feind mit dem blanken Schwerte auf ihn ein, so verlegt er "Odem" in seine rechte Hand und packt mit dieser das bloße Schwert – er ist unverwundbar geworden! Dieses wird von Augenzeugen behauptet.

 

 

 

VI. BUDDHISTISCHE MEDITATIONEN

Wenden wir uns nun endlich zum chinesischen Buddhismus, so betreten wir damit ein feenhaftes Geistesreich, das in der systematischsten und anziehendsten Weise die Kunst der Meditation auf allen Gebieten ausgebildet hat. Nichts Vordergründiges und nichts Tiefes, das hier nicht durch die Versenkung erst Kraft, Leben und Glut erhielte. Erleuchtung strahlt aus allen diesen Übungen von den einfachsten bis zu den erhabensten, und eine wunderbar feine Seelenkenntnis offenbart sich in allen Anweisungen und Ratschlägen der durch die Jahrhunderte überlieferten und vervollkommneten Meditationstechnik. Hier sind die religiösen Mystiker in ihrem Wesenselement, hier auch die geistesklaren Philosophen genialer Tiefenschau. Hatte doch Buddha selbst die Meditation als notwendige Stufe auf dem viergliedrigen Heilspfade erklärt, als das unerläßliche Mittel zur Erlangung der erlösenden Erkenntnis. Ist der Mensch durch "Zucht" gereinigt, so bereitet er sich durch "Meditation" auf die Erlangung der "Erkenntnis" vor, und diese endlich bringt ihm die "Befreiung", die Erlösung.

Genau werden von Buddha die verschiedenen Stufen der Versenkung unterschieden und beschrieben, und als Themen der Betrachtung finden wir vorzüglich die verschiedenen Wahrheiten, die Buddha lehrt, aber auch "Anmutungen" erhabener Gefühle sind Gegenstand der Meditation, ja auch – wohl nicht von Buddha selbst herrührend – die Stufen der fortschreitenden Abstraktion des "Vorstellens". Im Pãli-Kanon finden wir aber auch bereits eine systematisch angeordnete Kette von Meditationen, also Exerzitien, die wie der Heilspfad selber im Vierer-Rhythmus schwingt. Dies Exerzitienbüchlein finden wir sogar zweimal im Kanon, nämlich einmal in der Längeren Sammlung der Lehrreden Buddhas (Nr. 22) und zweitens in der Mittleren (10). Sein Titel lautet: "Die Pfeiler der Einsicht".

Zu diesen alten Gegenständen der buddhistischen Versenkung traten in der Folgezeit, befördert durch die Eigenart verschiedener Sekten, eine ganze Reihe andere. Hierher gehört zunächst einmal alles, was mit Yoga im engeren Sinne zusammenhängt, die beruhigende Atembetrachtung, der Schlangenkraft-Yoga, der die Sexualkraft alchemistisch zum Geiste sublimiert, die Erzeugung des unvergänglichen "Diamantleibes" Jin Shen aus der Lotosblume auf dem Scheitel als der Geburtsstätte des wiedergeborenen Menschen, kurz eine ganze Reihe von Übungen, die uns in gleicher oder ähnlicher Form im indischen Yoga und im chinesischen Daoismus begegnen.

Eine weitere Bereicherung erfährt das Meditationswesen durch den Ritualismus und alles, was mit der Magie des Tantrawesens zusammenhängt. Die symbolisch-magischen Fingerstellungen, die mystischen Silben, die Verehrung des Kultbildes und anderer Symbole usw. boten der verinnerlichten Auffassung durch Meditation neue Gegenstände. Die sog. buddhistische "Messe" in der – in China heute erloschenen – "esoterischen Sekte" Mi Zong

Ein neues Gebiet erschloß sich der Betrachtung durch die "Sekte des reinen Landes", die die bildhafte Betrachtung des Amitabha bzw. Amitayus Buddha und seines westlichen Paradieses lehrt (z. B. im Amitäyur-dhyana-sutra).

Endlich aber ist die philosophische und dogmatische Entwicklung in den neu entstandenen Sekten in China von ungeheurer Bedeutung für das Meditationswesen geworden. So bildet z. B. in der Tian Tai-Sekte das Mou He Zhi Guan, der große Text über Beruhigung der Leidenschaften Qi (sa. samatha) und über Wesensschau oder Tiefsicht Guan (sa. vipasyana), also über die beiden Wirkungen der Versenkung, eine fortlaufende Kette von philosophischen Wahrheiten, die einzeln nacheinander durchmeditiert werden müssen und von den einfachsten zu gewaltigsten Erkenntnissen fortschreiten.

Gegenüber dieser mehr scholastischen Richtung steht die Methode der Meditationssekte, die mit einer äußerst geringen Zahl allgemeinster Dogmen auskommt und das Wesentliche in der persönlichen inneren Erfahrung des Einzelnen sieht. Ihr kommt daher alles darauf an, im Einzelnen den Durchbruch genialer Erkenntnis herbeizuführen, und sie hat hierfür eine einzigartige Methode ersonnen: die Seelenleitung durch das Paradox. Am Gegensatz, ja Widerspruch der vereinten – meist in Form einer Anekdote gegebenen – Gedankenreihen soll sich das Aufflammen der Erkenntnis der übergegensätzlichen letzten Einheit des Sinnes von Welt und Leben entzünden.

Es sei mir nun gestattet, aus der ungeheuren Fülle des Materials zwei Typen herauszugreifen, die im Gegensatz ihrer Methode etwa anzudeuten vermögen, in wie verschiedener Weise die Meditation im Gebiete des chinesischen Buddhismus verwandt werden kann. Das eine Beispiel will ich aus der esoterischen Sekte Mi Zong nehmen, nämlich die sogenannte "Mond-Meditation", da dieses Meditationsthema auch von andern Sekten übernommen worden ist.

Zwar ist diese Sekte heute, wie schon oben erwähnt, in China erloschen, aber ihre Schriften werden nach wie vor studiert, in Japan blüht sie unter den Namen Shingon (Mantra) -Sekte noch heute ungemein stark, und ich gebe diese Meditation in der Form, wie sie mir selber von den Priestern an ihrem Patriarchatssitze auf dem heiligen Berge Koyasan gelehrt worden ist.

Man setzt sich in Meditationshaltung und völlig entspannter Seelenverfassung hin und stellt sich vor, man sähe vor sich die klare Scheibe des Vollmondes. Nachdem man das Bild eine Zeitlang betrachtet hat, bekommt man den Eindruck, es nähere sich. Auf einmal hat man den Eindruck, der Mond sei nicht außerhalb des Betrachtenden, sondern ruhe im eigenen Inneren. Es tritt also eine mystische Vereinigung mit dem betrachteten Symbol ein. Nun hat der Mond eine von alters her feststehende Bedeutung, er ist das Symbol der Erkenntnis der ewigen Wahrheit. Diese ist aber die göttliche Buddha-Natur des ganzen Weltalls, insbesondere also auch die Buddha-Natur, die das letzte Wesen unsrer selbst ist. Diese Natur hat drei Eigenschaften:

1. sie ist erleuchtet,

2. sie ist rein von Begierden,

3. sie ist ungetrübt von zornigen Leidenschaften.

Ich fühle also nun den Mond in mir ruhend als meine eigene Buddha-Natur. Jetzt lasse ich in der Vorstellung den Mond langsam und schrittweise größer werden. Zunächst ist er so groß wie mein Leib, dann wie mein ganzer Körper, dann größer als mein Körper, jetzt so groß wie das Zimmer, dann so groß wie das ganze Haus, jetzt schwebt er, oder vielmehr ich als Mond, über der Erde, jetzt ist er so groß wie die Erde, jetzt ist er größer als die Erde, jetzt umfaßt er Erde und alle Sterne, nun ist er so groß wie das Weltall: "Ich, Buddha-Natur, bin das Weltall, außer mir ist nichts".

Nachdem man eine Zeitlang in dieser Vorstellung und ihren begleitenden Gefühlen verharrt hat, läßt man den Mond genau in denselben Stufen wieder kleiner werden, bis er wieder in der Herzgegend ruht, dann entläßt man ihn aus sich heraus.

Diese Übung kann man zwei-, dreimal hintereinander vornehmen. Die besten Tageszeiten für Meditationen sind der frühe Morgen und der späte Abend. Die Wirkung dieser Meditation soll dem Menschen zur Erkenntnis seiner Buddha-Natur verhelfen, insbesondere aber soll sie drei Einzelwirkungen haben, die psychologisch ganz richtig als aus dem Symbol selber hervorgehend angesehen werden:

1. Diese Meditation wirkt beruhigend auf das Triebleben der Begierden, denn der Mond ist kühl und rein

2. wirkt die Mondmeditation beruhigend auf die zürnenden Leidenschaften, denn der Mond ist klar und hell. Diese beiden Wirkungen bilden also die schon mehrmals erwähnte eine Hauptwirkung aller Meditationen, die sittliche Veredlung des Menschen durch. "Beruhigung" des Trieblebens, das in einen höheren Weltzusammen-hang einbezogen wird

3. endlich hat die Mond-Meditation noch eine dritte Wirkung, sie erleuchtet den Menschen und lehrt ihn, die allem zugrunde liegende eine Wahrheit, die auch in ihm enthaltene Buddha-Natur, zu schauen, denn der Mond ist die "himmlische Lampe", die Leuchte in der Nacht. Das ist also die andere Hauptwirkung jeglicher Meditation, die Wesensschau oder "Tiefsicht".

Die Methode dieser Betrachtung ist eine synthetische (im Gegensatz zu aller abendländischen Analyse). Ein Bild imprägniert oder tingiert mit der ihm eigenen Eindruckskraft die Seele, und zwar gerade ihre tieferen Schichten. Alle Gefühlswerte, die sich an das Bild knüpfen, werden damit ebenfalls der Seele eingeprägt. Die bildhafte Meditation, die "Imagination", wirkt auf diese Weise – um mit Paracelsus zu reden – zeugend auf den Seelengrund ein. Dadurch entsteht ein Neues, eine Seelenform, die bisher nicht so da war, oder, wie wir auch sagen können, eine Verwandlung oder Überformung der Seele findet statt.

 

 

 

Die Meditationssekte Mi Zong, die alles noch einmal neu gedacht hat, hat auch den alten buddhistischen Heilspfad umgedacht. Sie hat das Bodhisattva-Ideal des Heiligen, der – obwohl letzter Erkenntnis teilhaftig – nicht der Welt entschwindet, sondern an ihrer fortschreitenden Erlösung weiterarbeitet, mit der älteren Anschauung folgerichtig verbunden.

Sie hat ferner das daoistische Ideal erfüllt: verborgen wie der Urgrund der Welt selber, im Alltag bescheiden weiter zu leben, trotzdem oder gerade weil die letzten Höhen des Menschseins erreicht sind. Zum Abschluß unserer Betrachtungen wollen wir daher noch einen Blick auf die Lehre vom Heilspfad werfen, wie ihn die Meditationssekte lehrt.

Der Heilspfad hat eine psychologische Begründung für die Stufen seiner Entwicklung – wenn wir von der Besprechung des Metaphysischen absehen – in den Stufen der seelischen Reifung des Menschenlebens von der Volljährigkeit bis zum Alter. Eigentlich findet aber keine Aufeinanderfolge von streng getrennten Stufen statt, vielmehr wird bei zunehmender Reife eine immer tiefere Schicht des Menschen mit seinem Bewußtsein verbunden, aber alle Schichten und alle Stufen erklingen schon auf der ersten Stufe mit. Da nun die Meditation ganz den gleichen Gang geht wie diese Reifung der menschlichen Seele, so hilft sie einerseits am besten mit, den Menschen reifen zu lassen, und fördert ihn bei dem einzig möglichen Fortschritt, eben dem der Reifung seines Seins. Umgekehrt erscheint von da aus vergleichsweise der ganze Heilspfad wie eine ins Riesige ausgedehnte Meditation, die den Menschen bis zur letzten Tiefe gelangen läßt und ihn dann wieder zur Welt der Erscheinung gewandelt zurückholt.

 

 

VII. SCHLUSSBETRACHTUNG

Werfen wir einen Blick zurück auf die mancherlei verschlungenen Wege, die wir gegangen sind. Manch helles Licht einer tieferen Erkenntnis unseres Lebens leuchtete da plötzlich auf, aber auch manch Gefährliches aus unseren Tiefen sah man wohl – nur eben mit Namen angedeutet – im Dunkel sich regen. Sehr vieles wäre hier noch zu sagen. Beschränken wir uns darauf, daß die Weisheit, die auf solchem Wege gefunden wird, allumfassend Himmel und Erde miteinander verbindet und gerade dadurch mutig sich als Besitzerin des echten Ringes ausweisen will. Auch auf allerhand Magie oder allerhand okkulte Erscheinungen ist hier nicht eingegangen. Ihre Beherrschung ist noch lange kein Zeichen einer höheren Reife, wenn auch ungewöhnliche Fähigkeiten, gewissermaßen als Nebenprodukt, bei der Durchmessung des Weges und bei den Meditationen auftreten.

Die hohe Weisheit verachtet diese Dinge, und man bekommt als Schüler gerne folgende Anekdote in gewissen chinesischen Bünden erzählt: Ein buddhistischer Meister unterrichtete seine Schüler in der geheimen Lehre. Nun war unter den Schülern ein vorwitziger Novize, der sich allerhand magische Kenntnisse und Fähigkeiten erworben hatte und nun gerne damit prahlen wollte. Eines Tages also, als der Meister die Menge der Schüler vor sich sitzen hatte und sie in die Geheimnisse der seelischen Reifung einführte, schnalzte der junge Novize nur mal eben magisch mit den Fingern. Der ganze Raum erbebte unter einem gewaltigen Blitz und Donnerschlag. Entsetzt fuhren die anderen Novizen in die Höhe. Der Meister aber fuhr ruhig in seinem Vortrage fort, als ob überhaupt nichts geschehen wäre, und nach dem Unterricht bestrafte er den vorwitzigen Schüler wegen Unfugs.

Es handelt sich eben bei der hohen Kunst der Meditation nicht um Absonderliches, nicht um die Erreichung ungewöhnlicher Seelenlagen – obwohl das natürlich auch vorkommt –, sondern um die Gewinnung der "himmlischen Perle", mit der der göttliche Geist der seraphischen Drachen spielt.

Dies wiederum nicht aus freventlicher Neugier, sondern als Mittel der völligen Verwandlung des Menschen zu einem reiferen, vertieften Wesen, das in Einklang mit dem Sinn von Welt und Leben ist. Nun wird zwar angenommen, ein jeder könne in dieser genialen Weise zu denken lernen, aber die Erfahrung zeigt, daß den meisten die Einstellung fehlt, die sie diesen Weg – den doch ihre eigene Natur sie selber leise durch die Lebensalter führt – auch wirklich ernst bewußt einschlagen.

Kehrt nun auch der Vollendete – alles zusammengenommen – wieder zu seinen Kohlen zurück, so kann man mit den Meistern der Meditationssekte sagen:

"Es gibt keinen Weg! Es gibt kein Tor der Erkenntnis! Wir lehren euch also den Nicht-Weg und das Nicht-Tor! Wer es fassen kann, der faßt es."

Wer es aber faßt, der kann mit Faust zum Erdgeiste – nach Goethes ursprünglicher Absicht zum Weltengeiste – sagen, da ihm in ihm selbst, in der Natur und in der Geschichte seine Eingegliedertheit in deren letzten Sinn zur Eigennatur geworden ist:

 

 

"Erhabner Geist, du gabst mir, gabst mir alles,

worum ich bat. Du hast mir nicht umsonst

Dein Angesicht im Feuer zugewendet.

Gabst mir die herrliche Natur zum Königreich,

Kraft., sie zu fühlen, zu genießen. Nicht

kalt staunenden Besuch erlaubst du nur,

vergönnest mir, in ihre tiefe Brust,

wie in den Busen eines Freunds, zu schauen.

Du führst die Reihe der Lebendigen

vor mir vorbei und lehrst mich meine Brüder

im stillen Busch, in Luft und Wasser kennen,

dann führst du mich zur sichren Höhle, zeigst mich dann mir selbst, und meiner eignen Brust geheime tiefe Wunder öffnen sich.

Und steigt vor meinem Blick der reine Mond besänftigend herüber, schweben mir

von Felsenwänden, aus dem feuchten Busch

der Vorwelt silberne Gestalten auf

und lindern der Betrachtung strenge Lust."