Vom Sinn des Leidens: (aus: Victor Frankl – Ärztliche Seelsorge, München, 1973)

Bei der Besprechung der Frage nach dem Sinn des Lebens haben wir ganz allgemein drei mögliche Wertkategorien unterschieden. Wir sprachen vom schöpferischen Werten, von Erlebniswerten sowie von Einstellungswerten. Während die erste Kategorie durch ein Tun verwirklicht wird, werden die Erlebniswerte durch das passive Aufnehmen von Welt (Natur, Kunst) in das Ich realisiert. Die Einstellungswerte jedoch werden überall dort verwirklicht, wo ein Unabänderliches, etwas Schicksalhaftes, als solches eben hingenommen werden muss. In der Weise, wie einer diese Dinge auf sich nimmt, ergibt sich eine unabsehbare Fülle von Wertmöglichkeiten. Das heißt aber, daß nicht nur im Schaffen und im Freuen das menschliche Leben sich zu erfüllen vermag, sondern auch noch im Leiden!

Solche Gedankengänge sind jeder trivialen Erfolgsethik verschlossen. Eine Rückbesinnung jedoch auf das ursprüngliche, auf unser alltägliches Urteil über Wert und Würde menschlichen Daseins erschließt sofort jene Erlebnistiefe, in der die Dinge auch jenseits von Erfolg oder Erfolglosigkeit, ganz und gar unabhängig vom Effekt überhaupt, ihre Geltung bewahren. Erst recht wird dieses Reich der inneren Erfüllung trotz äußerer Erfolglosigkeit durch jene Sicht zugänglich, die uns die Kunst zu vermitteln pflegt. Wir brauchen nur an Darstellungen zu erinnern wie etwa Tolstois Geschichte vom "Tod des Iwan Iljitsch". Hier wird eine bürgerliche Existenz geschildert, deren abgründige Sinnlosigkeit ihrem Träger erst unmittelbar vor seinem unvermuteten Tode aufbricht. Mit der Einsicht in diese Sinnlosigkeit wächst jedoch dieser Mensch noch in seinen letzten Lebensstunden weit über sich hinaus, zu einer inneren Größe, die rückwirkend sein ganzes bisheriges Leben – trotz dessen scheinbarer Vergeblichkeit – zu einem sinnvollen weiht. Ist es doch so, daß nicht nur – wie beim Helden – das Leben seinen letzten Sinn durch den Tod erhalten kann, sondern auch im Tod. Dass also nicht nur das Opfern eigenen Lebens ihm Sinn gibt, sondern daß sich das Leben noch im Scheitern zu erfüllen vermag.

Erfolglosigkeit bedeutet nicht Sinnlosigkeit. Dies wird auch deutlich, wenn man die eigene Lebensvergangenheit beispielsweise in bezug auf das Liebesleben betrachtet. Fragt einer sich ehrlich, ab er bereit wäre, die unglücklichen Liebeserlebnisse zu missen, das unlustbetonte und leidvolle Erleben aus seinem Leben gestrichen zu wissen – dann wird er wohl verneinen; die Leidfülle war ihm nicht Unerfülltheit. Im Gegenteil, im Leiden ist er gereift, an ihm ist er gewachsen, es hat ihm mehr gegeben als so mancher erotische Erfolg ihm hätte geben können.

Überhaupt neigt der Mensch dazu, das positive oder negative Vorzeichen der Lust- bzw. Unlustbetontheit seiner Erlebnisse zu überschätzen. Die Wichtigkeit, die er diesen Vorzeichen beimisst, erzeugt in ihm eine ungerechtfertigte Wehleidigkeit gegenüber dem Schicksal. Wir haben schon gehört, in welch vielfachem Sinne der Mensch "nicht zum Vergnügen" auf der Welt" ist. Wir haben auch gehört, daß die Lust gar nicht imstande wäre, dem Leben des Menschen einen Sinn zu geben. Solange sie dies nicht vermag, kann aber auch der Mangel an Lust dem Leben den Sinn nicht nehmen. Wieder ist es so, daß die Kunst einen Hinweis gibt auf die Art, in der das schlichte, unbefangene und unmittelbare Erleben den Sachverhalt richtig sieht; man denke bloß daran, wie irrelevant für den künstlerischen Gehalt die Frage ist, ob eine Melodie in Dur oder Moll gesetzt ist. Nicht nur unvollendete Symphonien gehören trotzdem zu den wertvollsten Musikstücken, worauf wir in einem andern Zusammenhang schon hingewiesen haben, – sondern auch die "Pathetiques".

Wir sagten, im Schaffen verwirklicht der Mensch schöpferische Werte, im Erleben Erlebniswerte und im Erleiden Einstellungswerte. Darüber hinaus hat aber das Leiden auch einen immanenten Sinn. In paradoxer Weise führt uns die Sprache zu diesem Sinn hin: wir leiden unter etwas deswegen, weil wir "es nicht leiden mögen" – deshalb also, weil wir es eben nicht gelten lassen wollen. Die Auseinandersetzung mit dem schicksalhaft Gegebenen ist letzte Aufgabe und eigentliches Anliegen des Leidens. Im Leiden unter einer Sache rücken wir innerlich von ihr ab. schaffen wir Distanz zwischen unserer Person und dieser Sache. Solange wir unter einem nicht sein sollenden Zustand noch leiden, ebenso lange stehen wir in der Spannung zwischen dem faktischen Sein einerseits und dem Seinsollenden andererseits. Dies gilt, wie wir bereits gesehen haben, auch vom Menschen, der an sich selbst verzweifelt: gerade durch die Tatsache seiner Verzweiflung hat er auch schon keinen Grund mehr zu ihr, da er ja die eigene Realität auf eine Idealität hin wertet, an ihr mißt; die Tatsache, daß er der (unverwirklicht gebliebenen) Werte überhaupt ansichtig geworden, impliziert bereits einen gewissen Wert an diesem Menschen selbst. Er könnte ja gar nicht über sich selber zu Gericht sitzen, wenn er nicht von vornherein Weihe und Würde des Richters besäße – als eines Mannes, der des Seinsollenden gegenüber dem Seienden innegeworden ist. Das Leiden schafft also eine fruchtbare, man möchte sagen: eine revolutionäre Spannung, indem es den Menschen das, was nicht sein soll, als solches überhaupt empfinden lässt. In dem Maße, in dem er sich mit dem Gegebenen gleichsam identifiziert, eliminiert er die Distanz zum Gegebenen und schaltet die fruchtbare Spannung zwischen Sein und Seinsollen aus.

So offenbart sich in den Emotionen des Menschen eine tiefe Weisheit, die vor aller Rationalität steht, die rationaler Nützlichkeit sogar widerspricht. Betrachten wir etwa die Affekte der Trauer und der Reue: vom utilitaristischen Standpunkt müssen beide sinnlos erscheinen. Denn etwas unwiederbringlich Verlorenes zu betrauern muss vom Standpunkt des "gesunden Menschenverstandes" ebenso unnütz und sinnwidrig erscheinen wie etwas untilgbar Verschuldetes zu bereuen. Aber in der inneren Geschichte des Menschen haben Trauer und Reue ihren Sinn. Die Trauer um einen Menschen’, den wir geliebt und verloren haben, lässt ihn irgendwie weiterleben, und die Reue des Schuldigen lässt diesen von Schuld befreit irgendwie auferstehen. Der Gegenstand unserer Liebe bzw. unserer Trauer, der objektiv, in der empirischen Zeit, verloren ging, wird subjektiv, in der inneren Zeit, aufbewahrt: die Trauer vergegenwärtigt, ihn. Die Reue jedoch vermag, wie Scheler gezeigt hat, eine Schuld zu tilgen: zwar wird die Schuld nicht von ihrem Träger genommen, aber dieser Träger selber – durch seine moralische Wiedergeburt – gleichsam aufgehoben. Diese Möglichkeit, das Geschehene in der inneren Geschichte fruchtbar zu machen, steht mit der Verantwortung des Menschen in keinem Widerspruch, sondern in einem dialektischen Verhältnis. Denn Schuldig werden setzt Verantwortlichkeit voraus. Verantwortlich aber ist der Mensch angesichts der Tatsache, daß er keinen Schritt zurücknehmen kann, den er im Leben tut; die kleinste wie die größte Entscheidung bleibt eine endgültige. Nichts ist auslöschbar von dem, was er tut und lässt. Nur für eine oberflächliche Betrachtungsweise steht damit in Widerspruch, daß trotzdem, im Akte der Reue, der Mensch von einer Tat innerlich abzurücken vermag und im Vollzug dieses Aktes, also eines inneren Geschehens – das äußere Geschehen auf moralischer Ebene irgendwie ungeschehen machen kann.

Schopenhauer hat bekanntlich gemeint und beklagt, das menschliche Leben pendle zwischen Not und Langeweile hin und her. In Wirklichkeit haben beide ihren tiefen Sinn. Die Langeweile ist ein ständiges Memento. Was führt zur Langeweile? Untätigkeit. Aber das Tun ist nicht etwa dazu da, daß wir der Langeweile entgehen; sondern die Langeweile ist dazu da, daß wir dem Nichtstun entgehen und dem Sinn unseres Lebens gerecht werden. Der Lebenskampf hält uns in "Spannung", weil der Lebenssinn mit der Erfüllungsforderung von Aufgaben steht und fällt; diese "Spannung" ist also wesensverschieden von jener, die von neurotischer Sensationslust oder hysterischem Reizhunger gesucht wird.

Der Sinn der Not liegt gleichermaßen in einem Memento. Schon auf der biologischen Ebene stellt der Schmerz einen sinnvollen Wächter und Warner dar. Im seelisch-geistigen Bereich hat er nun eine analoge Funktion. Das, wovor das Leiden den Menschen bewahren soll, ist die Apathie, die seelische Totenstarre.

Solange wir leiden, bleiben wir seelisch lebendig. Ja, im Leiden reifen wir sogar, an ihm wachsen wir – es macht uns reicher und mächtiger. Die Reue, haben wir gesehen, hat den Sinn und die Macht, ein äußeres Geschehen in der inneren Geschichte (im moralischen Sinne) ungeschehen zu machen; die Trauer hat den Sinn und die Macht, das Vergangene irgendwie fortbestehen zu lassen. Beide korrigieren also irgendwie die Vergangenheit. Damit aber lösen sie ein Problem – im Gegensatz zur Ablenkung und Betäubung: Der Mensch, der sich von einem Unglück abzulenken oder sich zu betäuben versucht, löst kein Problem, schafft ein Unglück nicht aus der Welt; was er aus der Welt schafft, ist vielmehr eine bloße Folge des Unglücks: der bloße Gefühlszustand der Unlust. Durch Ablenkung oder Betäubung "macht er sich nichts wissen". Er versucht, der Wirklichkeit zu entfliehen. Er flüchtet sich etwa in den Rausch. Damit begeht er einen subjektivistischen, ja geradezu psychologistischen Fehler: den Fehler, so zu handeln, als ob mit dem emotionalen Akt, den man durch die Betäubung zum Schweigen bringt, auch der Gegenstand der Emotion aus der Welt geschafft würde; als ob das, was man in die Ungewusstheit bannt, damit auch schon in die Unwirklichkeit gebannt würde. Aber der Akt des Hinsehens erzeugt nicht den Gegenstand, der Akt des Wegsehens vernichtet ihn nicht – und so annulliert auch die Unterdrückung einer Regung der Trauer nicht den Sachverhalt, der betrauert wird. Das gesunde Empfinden eines Trauernden pflegt auch tatsächlich sich dagegen aufzulehnen, beispielsweise Schlafmittel zu nehmen – "statt die Nächte durchzuweinen"; der banalen Verordnung von Schlafmitteln wird vom Trauernden jeweils entgegengehalten: damit, daß er besser schlafe, werde der Tote, dem sein Weinen gilt, nicht erweckt. Der Tod – dieses Paradigma eines irreversiblen Geschehens – wird also keinesfalls dadurch ungeschehen gemacht, daß er in die Ungewusstheit verjagt wird; aber ebenso wenig auch dadurch, daß der Trauernde selber in die absolute Unbewusstheit flieht – in die Unbewusstheit des eigenen Todes.

Wie tief im Menschen das Gefühl für den Sinn des Emotionalen wurzelt, zeigt sich in folgendem Tatbestand. Es gibt Melancholien, in deren symptomatologischem Vordergrund nicht (wie gewöhnlich) der Affekt der Traurigkeit steht, sondern in denen die Patienten gerade darüber klagen, daß sie eben nicht traurig sein können, daß sie sich nicht ausweinen können, daß sie gefühlskalt und innerlich abgestorben sind: es handelt sich um die Fälle von sogenannter Melancholia anaesthetica. Wer solche Fälle kennt, der weiß nun, daß es wohl kaum eine größere Verzweiflung gibt, als die Verzweiflung dieser Menschen darüber, daß sie nicht traurig sein können.

Diese Paradoxie zeigt wieder einmal, wie sehr das Lustprinzip eine bloße Konstruktion ist, ein psychologisches Artefakt, aber kein phänomenologischer Tatbestand; aus der emotionalen «logique du coeur» heraus ist der Mensch in Wirklichkeit immer bestrebt, ab nun in freudiger oder trauriger Erregung, auf jeden Fall seelisch "rege" zu sein und zu bleiben und nicht in Apathie zu versinken. Die Paradoxie, daß der an Melancholia anaesthetica Leidende unter seiner Unfähigkeit zum Leiden – leidet, ist also nur eine psychopathologische Paradoxie; existenzanalytisch aber findet sie ihre Auflösung. Denn in der Existenzanalyse erweist sich der Sinn des Leidens, erweist sich das Leiden als sinnvoll zum Leben gehörig. Das Leiden, die Not gehört zum Leben dazu, wie das Schicksal und der Tod. Sie alle lassen sich vom Leben nicht abtrennen, ohne dessen Sinn nach-gerade zu zerstören. Not und Tod, das Schicksal und das Leiden vom Leben abzulösen, hieße dem Leben die Gestalt, die Form nehmen. Erst unter den Hammerschlägen des Schicksals, in der Weißglut des Leidens an ihm, gewinnt das Leben Form und Gestalt.

Das Schicksal, das ein Mensch erleidet, hat also erstens den Sinn, gestaltet zu werden – wo möglich –, und zweitens, getragen zu werden – wenn nötig. Andererseits dürfen wir aber auch nicht vergessen, daß der Mensch auf der Hut sein muss davor, nicht zu früh die Waffen zu strecken, nicht zu früh einen Tatbestand als schicksalhaft anzuerkennen und sich vor einem bloß vermeinten Schicksal zu beugen. Erst wenn der Mensch keinerlei Möglichkeit mehr hat, schöpferische Werte zu verwirklichen, erst wenn er wirklich außerstande ist, das Schicksal zu gestalten, erst dann können Einstellungswerte verwirklicht werden, erst dann hat es einen Sinn, "sein Kreuz auf sich zu nehmen". Das Wesen eines Einstellungswertes liegt darin, wie ein Mensch sich in das Unabänderliche fügt; die Voraussetzung für die wahre Verwirklichung von Einstellungswerten liegt also darin, daß es sich wirklich um ein Unabänderliches handelt. Um das, was Brod "edles Unglück" nennt und dem "unedlen" Unglück gegen-überstellt, welch letzteres nicht eigentlich schicksalhaft ist, sondern vermeidbar oder (sobald eingetreten) verschuldet.

So oder so bietet jede Situation die Chance einer Wertverwirklichung– sei es nun im Sinne schöpferischer Werte, sei es im Sinne von Einstellungswerten. "Es gibt keine Lage, die man nicht veredeln könnte entweder durch leisten oder dulden" (Goethe). Wenn man will, könnte man freilich auch sagen, noch im Dulden liege irgendwie eine "Leistung"; vorausgesetzt, daß es sich um das rechte Dulden handelt, um das Dulden eines nicht durch Tun veränderliehen oder durch Lassen vermeidbaren Schicksals. Nur bei diesem "rechten" Dulden liegt eine Leistung vor – nur dieses unvermeidliche Leiden ist sinnvolles Leiden. Dieser Leistungscharakter des Leidens ist aber auch dem schlichten Empfinden des alltäglichen Menschen nicht fremd. Auch er hat Verständnis beispielsweise für folgendes Ereignis: Als vor vielen Jahren englische "Pfadfinder" für höchste Leistungen prämiiert werden sollten, wurden die Auszeichnungen drei Knaben zuteil, die wegen unheilbarer Krankheiten im Spital lagen und trotzdem tapfer und mutig geblieben waren und ihr Leiden standhaft ertrugen. So wurde ihr Leiden als höhere "Leistung" anerkannt als so manchen andern Pfadfinders Leistung im engeren Wortsinn.

"Das Leben ist nicht etwas, es ist immer nur die Gelegenheit zu etwas." Dieses Wort Hebbels bestätigt sich angesichts der alternativen Möglichkeit, entweder das Schicksalhafte (also ursprünglich und an sich Unveränderliche) im Sinne schöpferischer Wertverwirklichung zu gestalten oder, falls dies wirklich unmöglich sein sollte, sich im Sinne von Einstellungswerten zum Schicksal so zu verhalten, daß noch im rechten Leiden eine menschliche Leistung liegt. Es klingt nun wie eine Tautologie, wenn wir sagen, Krankheiten geben dem Menschen "Gelegenheit" zum "Leiden". Fassen wir jedoch "Gelegenheit" und "Leiden" im obigen Sinne, dann ist der Satz gar nicht so selbstverständlich. Vor allem deshalb nicht, weil zwischen Krankheit – auch seelischer – und Leiden grundsätzlich unterschieden werden muss. Nicht nur, daß der Mensch krank sein kann, ohne im eigentlichen Sinne zu "leiden"; es gibt andererseits ein Leiden, das jenseits allen Krankseins liegt, ein schlechthin menschliches Leiden, eben jenes Leiden, das zum menschlichen Leben wesensmäßig und sinngemäß dazugehört. Es kann sonach der Fall eintreten, daß die Existenzanalyse einen Menschen leidensfähig machen muss – während ihn etwa die Psychoanalyse nur genussfähig oder leistungsfähig machen will. Es gibt nämlich Situationen, in denen der Mensch in echtem Leiden und nur darin sich erfüllen kann. Und die "Gelegenheit zu etwas", die das Leben bedeutet, kann auch im Falle einer Gelegenheit zu echtem Leiden, also im Falle einer Möglichkeit zur Verwirklichung von Einstellungswerten, versäumt werden. Jetzt verstehen wir, wieso Dostojewski sagen konnte, er fürchte nur eines: seiner Qual nicht würdig zu sein. Nun ermessen wir aber auch, welche Leistung im Leiden von Kranken liegt, die darum zu ringen scheinen – ihrer Qual würdig zu sein.

Ein geistig außergewöhnlich hochstehender Mann in jüngeren Jahren wird eines Tages aus seinem regen Berufsleben plötzlich herausgerissen, nachdem eine ziemlich rasch sich entwickelnde Querschnittsunterbrechung des Rückenmarks (auf Grund einer tuberkulösen Erkrankung der Wirbelsäule) zu Lähmungserscheinungen an den Beinen geführt, hat. Eine Operation wird erwogen. Einer der bedeutensten Neurochirurgen Europas wird von Freunden des Patienten interpelliert, äußert sich aber in prognostischer Hinsicht pessimistisch und lehnt die Operation ab. Darüber berichtet einer der Freunde in einem Brief an eine Freundin des Kranken, in deren Landhaus er untergebracht ist. Das ahnungslose Stubenmädchen übergibt den Brief während des gemeinsamen Frühstücks der Herrin des Hauses mit dem kranken Gast.

Was nun geschieht, schildert der Patient in einem Schreiben an einen Freund; wir entnehmen diesem Schreiben folgende Stellen: "... Eva konnte nicht umhin, auch mich den Brief lesen zu lassen. So gelangte ich zur Kenntnis meines Todesurteils, das in den Äußerungen des Professors enthalten war. – Lieber Freund! Ich erinnere mich an den,Titanic‘-Film, den ich vor vielen Jahren gesehen habe. im besonderen erinnere ich mich jener Szene, in welcher der von Fritz Kortner dargestellte gelähmte Krüppel, das Vaterunser betend, eine kleine Schicksalsgemeinschaft dem Tod entgegenführt, während das Schiff untergeht und das Wasser an ihren Körpern immer höher steigt. Ich kam erschüttert aus dem Kino. Ich dachte, es müsse ein Geschenk des Schicksals sein, bewusst auf den Tod zuzugehen. Nun hat meines mir’s gewährt! Ich darf nochmals das Kämpferische in mir erproben; aber in diesem Kampf geht es von vornherein nicht um Sieg, sondern um ein letztes Anspannen der Kräfte als solcher, um eine letzte gymnastische Übung gleichsam... Ich will die Schmerzen, solange es irgend geht, ohne Narkotika ertragen... Kampf auf verlorenem Posten? Dieses Wort darf es gar nicht geben! Aufs Kämpfen allein kommt es an... Es kann keine verlorenen Posten geben... Abends haben wir die ,Vierte‘ Bruckner, die Romantische gespielt. Es war alles voll strömender, wohltuender Weite in mir. – Im übrigen arbeite ich täglich Mathematik und bin gar nicht sentimental."

Ein andermal mag eine Krankheit und die Nähe des Todes das Letzte aus einem Menschen herausholen, der bis dahin sein Leben in "metaphysischem Leichtsinn" (Scheler) verbracht hat und an seinen eigensten Möglichkeiten vorbeigegangen ist. Eine junge Frau, vom Leben recht verwöhnt, wurde eines Tages unvermutet in ein Konzentrationslager gebracht. Dort wurde sie krank und verfiel von Tag zu Tag.

Wenige Tage bevor sie starb, äußerte sie: "Eigentlich bin ich meinem Schicksal dankbar dafür, daß es mich so hart getroffen hat. In meiner früheren, bürgerlichen Existenz war ich sicherlich irgendwie zu lax. Mit meinen schöngeistigen Ambitionen war es mir nicht ganz ernst." Dem Tod, den sie kommen sah, blickte sie fest ins Auge. Von dem Platz im Krankenrevier, wo sie lag, konnte man durchs Fenster einen soeben in Blüte stehenden Kastanienbaum sehen; wenn man sich zum Kopfe der Kranken hinabneigte, erblickte man gerade noch einen Zweig mit zwei Blütenkerzen. "Dieser Baum ist der einzige Freund in meinen Einsamkeiten", sagte die Frau; "mit ihm unterhalte ich mich". Sollte sie halluzinieren, war sie vielleicht delirant? Meinte sie doch, er "antworte" ihr auch. Aber es fehlten alle Anzeichen für einen deliranten Zustand. Was war das für eine merkwürdige "Zwiesprache" – was hatte der blühende Baum der sterbenden Frau "gesagt"? "Er hat gesagt: Ich bin da – ich bin da – ich bin das Leben, das ewige Leben."

(vergl. auch La Mamma Morta aus Andrea Chenier v. Umberto Giordano im Film Philadelphia mit Tom Hanks)

Viktor von Weizsäcker hat einmal davon gesprochen, daß der Kranke als der Leidende dem Arzt gegenüber irgendwie überlegen sei. Das kam einem so recht zu Bewusstsein, wenn man jene Kranke verließ. Ein Arzt, der feinfühlig genug für die Imponderabilien einer Situation ist, wird gegenüber einem unheilbar Kranken oder einem Sterbenden immer das Gefühl haben, diesem Menschen nicht ohne eine gewisse Beschämung gegenübertreten zu können. Ist doch der Arzt selber ohnmächtig und unfähig gewesen, dem Tod das Opfer zu entreißen; der Patient aber steht als ein Mensch da, der dem Schicksal standhält, indem er es in stillem Leiden auf sich nimmt und damit auf einer metaphysischen Ebene eine echte Leistung vollbringt – während der Arzt in der physischen Welt, im ärztlichen Leistungsbereich, soeben versagt.