Einführung

 

Um die Wasser-Feuer-Achse im Sinne der fünf Wandlungsphasen diskutieren zu können, muß man sich die Spannung innerhalb der Begriffe vor Augen führen: schon für das westliche Denken gibt es keine größere Gegensätzlichkeit als Wasser und Feuer. Diese beiden Elemente sind kennzeichnend und beispielhaft für die Polarität von Yin und Yang, den beiden Grundmustern in der chinesischen Medizin. In der Beziehung der beiden sind alle Regeln des Gegen- und Miteinanders von Yin und Yang enthalten.

Der zweite Aspekt des Themas, der auf das Modell der 6 Schichten (Liu Jing) hinweist, beleuchtet Wasser und Feuer auf eine völlig andere Art: als Partner in der Abwehr von exogenen pathogenen Faktoren.

Bevor wir auf die Wasser-Feuer-Achse und das 6-Schichten-Modell zurückkommen, müssen wir uns zunächst mit den Partnern dieser Beziehung beschäftigen.

 

 

 

Wandlungsphase Wasser

 

Die Wandlungsphase Wasser entspricht dem Norden, dem Winter, der eisigen Kälte. Es fällt leicht, sich vorzustellen, daß ihre Energie keine Richtung hat, sie befindet sich ganz im Inneren. Als neutralisierendes Element löst die zugeordnete Geschmacksqualität "salzig" in moderaten Dosen Verhärtungen und wirkt so dem statischen Moment entgegen. Die Position der Wandlungsphase im Lebenszyklus ist der Tod als unbedingte Voraussetzung für die Entstehung von Neuem, wie das erneute Aufblühen der Natur nach dem Winter.

Weitere Ausdrücke des Wassers und der Funktionskreise seiner Zang-Fu Niere (Shen) und Blase (Pang Guang) sind die Farbe schwarz, der "Zahnspeichel", der faulige Geruch. Die Ohren sind die zugeordneten Sinnesorgane, ihre Funktion ist abhängig von der Ernährung durch die Niere. Die Niere kontrolliert die "beiden Yin": die Ausgänge von Darm und Blase.

Es entspricht ganz der Vorstellung von Stase und Paralyse, daß die Emotion der Wandlungsphase Wasser die Angst ist. Normalerweise ist das Wasser in das Zusammenspiel aller 5 Wandlungsphasen eingebunden und in sich so ausgewogen, daß Angst weder einen beherrschenden Einfluß auf einen Menschen haben sollte, noch eine gefährliche Angstlosigkeit entstehen könnte. Erreicht wird dies im Zusammenspiel der Wu Xing in erster Linie dadurch, daß die Wandlungsphase Wasser von der Wandlungsphase Erde kontrolliert wird, deren Emotion das Nachdenken ist. Ein rationales Ansehen von Situationen besiegt irrationale Ängste oder kann einen Menschen zumindest wieder handlungsfähig machen. Das Wasser wiederum kontrolliert die Wandlungsphase Feuer mit der Emotion Freude und Lust. Ein Übermaß an Angst ist ganz sicher einem freudvollen Leben nicht zuträglich!

Das Wasser wird von der Wandlungsphase Metall hervorgebracht und ernährt, seinerseits nährt es die Wandlungsphase Holz.

Für einen westlich ausgebildeten Menschen nur logisch, sind die Nieren die Beherrscher des Wassers, sie "leiten das Klare nach oben und senken das Trübe nach unten".

Die Niere speichert angeborenes wie erworbenes Jing, die Grundsubstanz, nach Porkert "qi nativum". Der angeborene Teil des Jing (chin.: Xian Tian Zhi Qi) entspricht der westlichen Vorstellung von genetischer Information, sein Ausdruck ist die Konstitution eines Menschen. Dies bezieht sich bei weitem nicht nur auf körperliche und stoffliche Qualitäten, sondern auch auf Geist und Seele — alle Informationen und Weisheiten unserer Ahnen sowie Talente und Anlagen sind im Jing fixiert! Insofern ist die Wandlungsphase Wasser und der Funktionskreis Niere die Basis für unser Menschsein, wenngleich der Ausdruck desselben vom Shen abhängt, der im Herzen wohnenden All-Seele. Außerdem ist das angeborene "vorgeburtliche" Jing die Basis des "nachgeburtlichen" Qi — die Niere ist die Wurzel des Qi.

Die Menge angeborenen Jings und besonders die Menge des ausschließlich daraus entstehenden aktivierten Jings — Yuan Qi — bestimmt die Lebensspanne eines Menschen. Nach Ansicht der Chinesen findet diese Tatsache einen körperlichen Ausdruck in der Form der Ohrmuschel: "Wenn man das Ohr eines Menschen betrachtet, kann man daraus Schlüsse hinsichtlich seiner Lebensdauer ziehen. Ist die Ohrmuschel klein, flach und schwächlich und reicht das Ohrläppchen nicht bis an den Unterkieferknochen heran, bedeutet dies, daß der Mensch keine dreißig Jahre alt wird." (Nei-Jing Ling-Shu, Abschnitt 2, Kapitel 6, S. 76).

Diese radikale Prognose wird durch das Vorhandensein des erworbenen und von der Milz bereitgestellten "nachgeburtlichen" Jing (chin.: Hou Tian Zhi Qi) relativiert, das das angeborene Jing ergänzt und als Grund- und Bausubstanz dienen kann.

Die verschiedenen Lebensphasen eines Menschen werden durch Veränderungen des Jing bestimmt, sie unterliegen bei Frauen einem 7-, bei Männern einem 8-Jahres-Rhythmus. Die Beschreibung der Lebensphasen einer Frau lautet im Nei Jing Su Wen folgendermaßen:

"Mit 7 Jahren ist das Nieren-Jing im Aufsteigen begriffen: der Zahnwechsel tritt ein, die Haare wachsen. Mit 14 Jahren trifft der "Tau des Himmels" ein: das Diener- oder Konzeptionsgefäß (Ren Mai) öffnet sich, das Gefäß des kräftigen Aufsteigens (Chong Mai) ist gefüllt, die Menstruation kommt regelmäßig, und die Frau kann empfangen. Mit 21 Jahren erreicht das Nieren-Jing sein Plateau: die Weisheitszähne brechen durch, das Wachstum erreicht seinen Höhepunkt. Mit 28 Jahren sind Zähne und Knochen gefestigt, der Körper ist kräftig, das Haar am Wachstumshöhepunkt. Mit 35 Jahren wird die Leitbahn des strahlenden Yang schwach, das Gesicht beginnt zu welken, das Haar auszufallen. Mit 42 Jahren sind die drei Yang-Leitbahnen oben schwach geworden, das Gesicht ist verwelkt, das Haar beginnt zu ergrauen. Mit 49 Jahren vermindert sich der Fluß im Dienergefäß, das Gefäß des kräftigen Aufsteigens ist erschöpft, der Tau des Himmels ausgetrocknet; der Erdenweg ist nicht mehr offen, Schwäche und Unfruchtbarkeit setzen ein." (aus: Kaptchuk, Das große Buch der chinesischen Medizin, S. 55)

Die Anwendung dieses rigiden Modells auf einen modernen Menschen unserer Jugend-fixierten Zeit birgt sicherlich ein nicht geringes Frustrations-Potential! Es wird aber deutlich, daß Reifung, Entwicklung und Fortpflanzung im Jing ihre Basis haben.

Das Jing zirkuliert zum Teil in den Leitbahnen (hauptsächlich in den Außerordentlichen Leitbahnen) und nährt die Organe kontinuierlich.

Das Mark als Grundstoff von Xue (Blut) und Gehirn wird von Jing gebildet, es ernährt die Knochen und ihre "Anhängsel", die Zähne. Somit kann aus dem Zustand dieser Strukturen auf Qualität und Quantität des Jing geschlossen werden. Auch die Kopfhaare sind abhängig von Jing und werden demzufolge der Wandlungsphase Wasser zugeordnet.

Nun noch ein Wort zu dem vorab schon erwähnten Yuan Qi als energetische, aktivierte Form von Jing. Es ist erforderlich für jede Art von Lebensäußerung, als ein "Allround-Katalysator". Sein Wohnsitz ist Ming-Men, das Lebenstor. Der chinesische Arzt Chang Jie-Bin beschrieb diese fiktive Verdichtung von Energie wie folgt: "Der Ming-Men ist die Wurzel des Yuan-Qi, er ist das Haus des Wassers und des Feuers. Ohne ihn kann das Yin-Qi nicht gedeihen. Das Yang-Qi der fünf Speicherorgane kann sich nicht ohne ihn verbreiten." Das Yuan Qi wird von hier aus - einer der verschiedenen Theorien zu diesem nicht faßbaren Gebilde zu Folge - vom San Jiao, dem Dreifachen Erwärmer, durch den Körper transportiert. Das Yuan Qi wärmt alle anderen Organen, es bildet die "Wurzel des Feuers". So kam die Trennung in Wasser- und Feuer-Niere mit zwei unterschiedlichen Pulsstellen und einer Aufteilung der Funktionen insofern zustande, daß die Feuer-Niere Bezug zu Sexualität und Fortpflanzung hat und die anderen Organe und die Wasser-Niere wärmt.

"Die Niere unterscheidet sich von anderen Yin-Organen dadurch, daß sie die Grundlage für alle Yin- und Yang-Energien des Körpers und auch der Ursprung von Wasser und Feuer im Körper ist." (Maciocia, Die Grundlagen der chinesischen Medizin, S. 102)

Die Nieren beherbergen "Zhi", den Willen, einen Aspekt von Shen. Die Kraft dieses Willens ist eine Triebfeder im menschlichen Leben, sie macht Durchhaltevermögen und Ehrgeiz aus.

Zwischen den Zang-Fu der Wandlungsphase Wasser - Niere und Blase - besteht eine sehr enge Beziehung. Die Blase nimmt die unklaren Flüssigkeiten vom Dünndarm entgegen, wandelt sie zu Harn, speichert ihn und scheidet ihn letztlich aus. Diese Arbeit kann sie nur mit Unterstützung durch das Nieren-Yang ausführen.

Interessanterweise führt Maciocia an, daß bei Ungleichgewichten der Blase negative Emotionen wie Eifersucht, Mißtrauen und Mißgunst entstehen können (Die Grundlagen der chinesischen Medizin, Kapitel 13, S. 125). Wenn man diese Aussage ansieht, ist die Vorstellung, wie trübe Substanzen den Menschen vergiften, sehr anschaulich - und wieder ein schönes Beispiel für die Ganzheitlichkeit in der chinesischen Medizin!

 

 

 

Wandlungsphase Feuer

 

Die Wandlungsphase Feuer (chin.: Huo) ist anders als die übrigen durch vier Funktions-kreise repräsentiert: Herz (Xin), Dünndarm (Xiao Chang), Perikard (Xin Bao) und Dreifacher Erwärmer (San Jiao) — kaiserliches bzw. ministerielles Feuer.

Das Feuer entspricht dem Yang im Yang, der Aktivität, dem Sommer, der Himmelsrichtung Süden, der klimatischen Energie Hitze, der Farbe rot, seine Körperflüssigkeit ist der Schweiß, sein Geruch verbrannt.

Feuer kontrolliert die Wandlungsphase Metall, wird seinerseits von Wasser kontrolliert; es bringt die Erde hervor und bezieht seine Nährenergie vom Holz. Diese Abhängigkeiten sind ganz logisch in der Natur wiederzufinden.

Die zugeordnete Emotion ist Freude und Lust (auch sinnliche Lust). Der stimmliche Ausdruck ist demzufolge das Lachen. An dieser stimmlichen Manifestation bzw. dem angebrachten Umgang damit kann man schon sehr schnell im Zuge sozialer Kontakte einen Eindruck bekommen, in welcher Verfassung sich das Feuer eines Menschen befindet.

Die Körperschicht der Wandlungsphase Feuer sind die Gefäße, der Geschmack ist das Bittere, das Sinnesorgan ist die Zunge (als Instrument für die Sprache und für das Schmecken).

Eine Ergänzung des oben gesagten aus dem Nei Jing Su Wen, 2. Buch, Kapitel 5: "Das Übernatürliche läßt die Hitze des Südens im Himmel und Feuer auf der Erde entstehen. Es erschafft den Puls im Körper des Menschen und die Hitze in den fünf Zang-Organen. Unter den Farben erschafft es Rot, unter den musikalischen Noten den Ton ji; der menschlichen Stimme verleiht es die Fähigkeit zum Ausdruck von Freude.

In Zeiten der Anspannung und Veränderung verleihen die Übernatürlichen Trübsal und Traurigkeit. Unter den Körperöffnungen haben sie den Mund mit seinem Gaumen geschaffen; unter den Geschmäckern ließen sie das Bittere entstehen, und unter den Emotionen sind sie verantwortlich für Glück und Freude."

 

 

Der Funktionskreis Herz innerhalb der Wandlungsphase ist dadurch ausgezeichnet, daß er der Sitz des Kaisers ist. "Der Orbis cardialis hat unter allen Orbes die Rolle des "Fürsten" inne, von dem richtungsweisender Einfluß und klare Einsicht ausgehen. Mit anderen Worten, der Orbis cardialis ist der Sitz und Speicher der konstellierenden Kraft schlechthin, mithin jenes Einflusses, der der Persönlichkeit Gepräge und Zusammenhalt verleiht. Deshalb kann man in ihm auch die Basis der Lebensfunktionen insgesamt sehen." (Porkert, Die theoretischen Grundlagen der chinesischen Medizin, S. 105)

Das Zang Herz und seine Anatomie hat die alten chinesischen Gelehrten ausdrücklich beschäftigt. Im Nan Jing findet man folgende Aussagen:

"Nur das Herz von Menschen mit überragendem Wissen (Weisheit) hat sieben Höhlen und drei Fäden; ein Mann von mittlerer Weisheit hat fünf Höhlen und zwei Fäden, ein Mann von geringem Wissen hat drei Höhlen und einen Faden. Das Herz eines gewöhnlichen Menschen hat zwei Höhlen und keinen Faden. Das Herz eines einfältigen Menschen hat eine Höhle und keinen Faden. Das Herz eines sehr dummen Menschen hat nur eine sehr kleine Höhle. Diejenigen, die sich ihr Leben lang wie Dummköpfe verhalten, haben zwar ein Herz, aber keine Höhle darin. Es gibt also kein Tor, durch das der Geist (Shen) ein- oder austreten kann. Von solch einem Menschen (Herzen) kann man nichts erwarten." (aus: Lorenzen, Das Herz - Kaiser im Mikrokosmos, VHK 6/91)

Was das Herz so wertvoll und seine Anatomie so interessant macht, ist Shen — der Geist, die All-Seele eines Menschen, nach Porkert die konstellierende Kraft. Im Moment der Zeugung und der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle entsteht Jing, Shen kommt dazu und beseelt die Materie. Shen ist unsere Persönlichkeit, Individualität, Ausdrucks-möglichkeit, unser Bewußtsein und geistige Kapazität schlechthin. Ist das Jing mit seinen gesammelten Informationen die "Hardware" eines Menschen, so entspricht Shen der "Software", ohne die wir keine Aktionsmöglichkeit hätten. Porkert definiert so: "... jener Kraft, die die Präsenz und Kohärenz der Lebensäußerungen bedingt: den Zusammenhalt, die Integrität und die Intaktheit der Persönlichkeit, die im einzelnen dann als Folgerichtigkeit des Denkens, Klarheit der Sprache, Stetigkeit des Blicks, Geistesgegenwart, Koordination von Lebensfunktionen einschließlich des Zusammenspiels der Pulse faßbar werden." (Systematische Akupunktur, S. 84)

Dieses Shen wohnt im Herzen, es muß die Möglichkeit haben, sich nachts ungestört und gut geschützt und versorgt dorthin zurückzuziehen. Tagsüber strahlt es aus den Augen, es macht den "Glanz" des Gesichtes aus. Nachts bedingt es die Qualität des Schlafs.

Jedem Zang ist ein bestimmter Teil des Shen zugeordnet:

1. Geist-Seele Hun in der Leber Þ verantwortlich für Kreativität, Phantasie und Intuition;

hat ihren Ausdruck sowohl physiologisch als auch pathologisch im Träumen; steigt nach

dem Tod zum Himmel auf.

2. Körper-Seele Po in der Lunge Þ formt den Körper aus Jing, organisiert somit Jing;

gibt dem Menschen die Fähigkeit, seine Sinnesorgane zu nutzen; sinkt nach dem Tod

zur Erde und geht in sie über.

Fühlt sich Po in den Lungen nicht wohl, verspürt der Mensch Jucken, leidet an psycho-

somatischen Störungen. Das Ling Shu kennt noch weitere Folgen: "Ist sie geschädigt,

führt das zur Verrücktheit, zum Wahnsinn des Patienten. Er verliert sein Selbstvertrauen

und nimmt auf andere Menschen keine Rücksicht mehr. Sein Körper, seine Haut werden

trocken. Die Haare fallen aus, die Haut wird bleich. Solch ein Patient stirbt im

Sommer." (2. Abschnitt, 8. Kapitel, S. 91)

3. Das Denken: Yi in der Milz Þ wiederum Ling Shu: "In der Milz sitzt nach dem System

der fünf Elemente die Fähigkeit zur Vorstellung. Wenn der Mensch viele Sorgen hat und

diese lange Zeit nicht überwindet, schadet das seiner Vorstellungskraft. Ist diese

geschädigt, legt sich ihm ein Druck auf das Herz und umklammert die ganze Brust. Er

empfindet Unruhe, hat keine Kraft mehr in Armen und Beinen und verliert seine Körper-

behaarung. Seine Haut trocknet aus, die Hautfarbe wird grau. Er stirbt, wenn das Früh-

jahr kommt." (ebenda, S. 90)

4. Willenskraft Zhi in der Niere Þ siehe oben

5. Shen selbst im Herzen.

Die Fähigkeit, Shen zu behausen, ist abhängig von Xue (Blut). Xue ist die Wurzel von Shen, verankert es. Andererseits ermöglicht nur Shen das Erfüllen einer weiteren Aufgabe des Funktionskreises Herz: er beherrscht das Blut, indem er A. an seiner Umwandlung von "weißem" zu "rotem" Blut beteiligt ist und B. die Blutgefäße und den Blutfluß darin kontrolliert. Die Symptomatik einer Herz-Xue-Leere verdeutlicht den Zusammenhang mit Shen: bei diesem Krankheitsbild kommt es zu Herzklopfen, Schlaflosigkeit, Träumen, Gedächtnisschwäche, Ängstlichkeit, Schwindel.

Zu der Verfassung des Herzens führt das Ling Shu aus: "Wenn das Herz sehr stark ist, ist Shen ruhig. Ein solcher Mensch ist sehr selbstsicher. Ist das Herz außergewöhnlich schwach, neigt der Mensch dazu, an Tuberkulose zu erkranken; in diesem Fall ist der Mittlere Erwärmer mit Hitze angefüllt. Wenn das Herz gerade und richtig im Körper sitzt, ist die Herz-Energie ruhig und ausgeglichen. Äußere Störungen oder das Gerede anderer Leute können den Menschen dann nicht aus der Fassung bringen. Wenn das Herz schief im Körper sitzt, ist die Geist-Seele nicht einheitlich und der Mensch ist recht wankelmütig. Solch einem Menschen fällt es schwer, sich auf etwas zu konzentrieren und sich zu beherrschen." (7. Abschnitt, 47. Kapitel, S. 330)

Das Herz-gekoppelte Fu Dünndarm ist der "kaiserliche Berater und Informant". Er verhilft zu Entscheidungen und Beurteilungen, indem er Wichtiges von Unwichtigem trennt (die Gallenblase gibt dann Mut für die eigentliche Entscheidung). Insofern hat er auch Teil an geistiger Klarheit und Urteilsfähigkeit. Menschen mit Störungen in diesem Funktionskreis könnten ihre brillanten Ideen ständig an falsche Projekte verschwenden oder sie einzig auf dem Papier behalten.

Auf der körperlichen Ebene trennt der Dünndarm klare und trübe Nahrungsbestandteile und leitet sie zu Milz, Dickdarm und Blase.

Die beiden anderen Zang-Fu in der Wandlungsphase Feuer, Perikard und San Jiao, können wir relativ kurz behandeln, denn sie spielen für die Diskussion von Tai Yang und Shao Yin keine Rolle. Andererseits sind sie geradezu ein direktes Beispiel für die Wasser-Feuer-Achse, denn das Perikard hat eindeutig Kontakt zum Herzen, während der San Jiao teilweise als Bestandteil des Nieren-Yang bewertet wird!

Das Perikard ist noch mehr als das Herz das zuständige Organ für das Empfinden von Lust und Freude. Es stellt Kontakt zur Außenwelt her. Seine größte Aufgabe ist jedoch, den Kaiser im Herzen zu schützen! Alle exogenen pathogenen Faktoren, die das Herz betreffen könnten, werden vorher umgeleitet und greifen dann das Perikard an. Dies hat therapeutische Konsequenzen: haben wir eine exogene Shen-Störung, sollten wir das Perikard, nicht das "Zentralorgan" Herz behandeln.

Zu Anatomie und Physiologie des San Jiao existieren verschiedene Denkmodelle, an dieser Stelle soll der San Jiao als Transportweg für das Yuan Qi , als "Straße der Wärme" (Modell aus dem Nan Jing) angenommen werden.

 

 

 

Die Wasser-Feuer-Achse

 

Das Konzept der Wu Xing = Fünf Wandlungsphasen ist relativ neu, seine erste Erwähnung stammt aus der Periode der Kämpfenden Staaten (476-221 v.Chr.). Seine Popularität und Anwendung in der Medizin unterlag im Laufe der Zeit großen Schwankungen.

Wie der Name schon deutlich ausdrückt, dürfen die Wandlungsphasen nicht als voneinander getrennte, statische Elemente verstanden werden. Im Gegenteil gibt es vielfältige Beziehungen und Veränderungen unter ihnen. In verschiedenen Zyklen ernähren sich die Wandlungsphasen (Sheng-Zyklus, Reihenfolge Holz - Feuer - Erde - Metall - Wasser - Holz etc.), kontrollieren sich (Ke-Zyklus, Reihenfolge Holz - Erde - Wasser - Feuer - Metall - Holz etc.) oder üben auch negative Einflüsse wie Überkontrolle oder Verachtung aufeinander aus.

Die Anordnung der Wandlungsphasen erfolgte aufgrund ihrer Zuordnungen zu Himmels- richtungen und Jahreszeiten, wobei die Wandlungsphase Erde eine besondere Rolle ein- nimmt. Als ernährendes, transformierendes, harmonisierendes Element steht sie in der Mitte zwischen Holz, Feuer, Metall und Wasser. Die ihr zugeordnete Jahreszeit sind jeweils die letzten 18 Tage von Frühling, Sommer, Herbst und Winter.

 

 

 

 

Bildlich ausgedrückt sieht die Stellung der 5 Wandlungsphasen nach dem oben gesagten wie folgt aus:

Feuer

Sommer

Süden



Holz Metall

Frühling Erde Herbst



Osten Westen

Wasser

Winter

Norden

 

 

Porkert bezeichnet die Wandlungsphasen Wasser und Feuer als etwas Aktuelles, da ihre jeweiligen Einflüsse in dem jeweiligen Moment sehr deutlich vorhanden und "in voller Entfaltung" sind, während Metall und Holz die Potenz zu etwas besitzen, die Ausprägung jedoch noch nicht vollständig ist.

Weiterhin differenziert er nach Yin- und Yang-Qualität: Holz entspricht potentieller Aktivität, Feuer aktueller Aktivität, Metall potentieller Struktivität, Wasser aktueller Struktivität.

Die jeweiligen Achsen Wasser-Feuer bzw. Metall-Holz bezeichnet er als Achse der Aktualität bzw. Achse der Potentialität. (Die theoretischen Grundlagen der chinesischen Medizin, S. 43 f.)

Die Erde bildet dabei immer den Ort der Umwandlung, Vermittlung, Umpolung.

Wir haben es also bei der Wasser-Feuer-Achse mit der größten Gegensätzlichkeit zu tun, auf der einen Seite der momentanen Aktion, auf der anderen der materiellen Manifestation, dem Status Quo.

Wasser bildet die stoffliche Basis für alle anderen Wandlungsphasen, indem es der Speicher vorgeburtlichen Jings als erster Manifestation von Leben ist. So ist auch die Reihenfolge der Wandlungsphasen in der ersten Erwähnung Wasser - Feuer - Holz - Metall - Erde. Das Jing ist die materielle Grundlage für Qi und Shen, ist Yin im Yin.

Auf der anderen Seite steht das Shen als Repräsentant der "aktuellen Aktivität" = Yang im Yang, ohne das alles materielle, noch so hochwertige Substrat unbewegt und unbelebt, ohne das ein Mensch ein "Zombie" wäre.

Dieser mächtigen Polaritäten wegen ist die Zusammenarbeit zwischen Wasser und Feuer für ein Gleichgewicht und Gesundheit von existentieller Bedeutung. Und ebenfalls dieser Extreme wegen ist die Rolle der Erde als Vermittler nicht zu vergessen.

Die also komplettierte Achse Wasser-Erde-Feuer ist Symbol für Jing-Qi-Shen. Diese drei werden in der chinesischen Lehre "San Bao" (Drei Schätze) genannt. "Gesundheit, Kraft, Vitalität, Glück, Wille, psychische Stabilität und Klarheit hängen alle von einer ausreichenden Versorgung durch diese drei Vitalen Substanzen und von ihrem harmonischen Zusammenwirken ab." (Maciocia, Die Grundlagen der chinesischen Medizin, S. 332)

Die San Bao sind an drei Stellen unseres Körpers konzentriert: den Dan Tian (Drei Zinnoberfelder) und über diese zu erreichen.

— das untere Dan Tian als Sitz des Jing befindet sich 2-3 cun unter dem Bauchnabel

— das mittlere Dan Tian mit Bezug zum Qi ist im Bereich des Punktes Ren Mai 17

— das obere Dan Tian als Einflußbereich für das Shen befindet sich 2-3 cun hinter dem

Extrapunkt Yintang (zwischen den Augenbrauen) und ist über Du Mai 20 zu erreichen

Konkret besteht die Zusammenarbeit über die Wasser-Feuer-Achse darin, daß Nieren-Yin zum Feuer aufsteigt und das Herz-Yin nährt, das Feuer seinerseits zu den Nieren absteigt und sie wärmt. (Dieses Modell ignoriert die Existenz der Feuer-Niere als Bedingung für ausreichende Energie im Feuer.)

Ich erlaube mir noch einmal, auf Maciocia zu verweisen: in den "Grundlagen der chinesischen Medizin" (S. 68) zitiert er Zhang Jing-Yue wie folgt: "Feuer ist die Wurzel der Hitze, wenn es kein Wasser im Feuer gibt, wird die Hitze zu stark und leert das Yin, was zur Austrocknung und zum Verwelken des Lebens führt. Wasser ist die Wurzel der Kälte; wenn es kein Feuer im Wasser gibt, wird die Kälte zu stark und verletzt das Yang, was zur Folge hat, daß die Dinge leblos und ohne Feuer sind."

Es gibt zwei grundlegende Störungen in dem Zusammenspiel zwischen Niere und Herz:

1. Das Nieren-Yin ist zu schwach, um aufzusteigen, das Herz-Yin zu nähren und das

Herz-Yang zu bändigen. Die Symptome (neben denen des Nieren-Yin-Mangels wie

Rückenschmerz bei Bewegung, warmen bis heißen Füßen, Tinnitus etc.) resultieren

aus der Leere-Hitze im Herz: Herzklopfen, Gesichtsröte, eventuell Hitzewallungen,

Zungengeschwüre. Gleichzeitig meldet sich das seiner gemütlichen Schlafstatt beraubte

Shen: Schlaflosigkeit, traumgestörter Schlaf, Unruhe, Gedächtnis- und Konzentrations-

störungen treten auf.

2. Ein Herz-Yang-Mangel hat einen Nieren-Yang-Mangel zur Folge, da das Herz-Yang

nicht absteigt, um die Nieren zu wärmen. Besonders deutlich wird der Mangel an

Nieren-Yang bei der nicht mehr funktionierenden Umwandlung der Flüssigkeiten — es

entstehen Ödeme. Das überfließende Wasser verletzt das Herz, es reagiert wieder mit

Palpitationen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Begriffe Tai Yang und Shao Yin

 

Die Begriffe Tai Yang und Shao Yin bedeuten zunächst soviel wie "Großes Yang" und "Kleines Yin" (nach Porkert "Mächtiges Yang", "Junges Yin"), also in erster Linie eine quantitative Einschätzung ihrer Energie. Insofern entsprechen diese beiden Bezeichnungen nicht den Organen der vorab besprochenen Wasser-Feuer-Achse, diese sind Tai Yang und Tai Yin!

Es existiert aber in der chinesischen Medizin eine Einteilung der Leitbahnen und der von ihnen versorgten Areale in sechs energetische Schichten:

Tai Yang — Dünndarm + Blase

Shao Yang — Dreifacher Erwärmer + Gallenblase

Yang Ming — Dickdarm + Magen

Tai Yin — Milz + Lunge

Shao Yin — Niere + Herz

Jue Yin — Leber + Perikard

Die einzelnen Schichten haben gemäß ihrer Stellung eigene Funktionen:

Tai Yang öffnet sich nach außen, hier befindet sich die größte Konzentration von Wei Qi (Abwehrenergie). Shao Yang hat die Funktion eines "Angelpunktes" oder Scharniers zwischen Tai Yang und Yang Ming. Yang Ming schließlich hat schließende Funktion, es verschließt das Innere.

Dementsprechend öffnet sich die Tai Yin-Schicht nach außen zum Yang, vermittelt
Shao Yin zwischen Tai Yin und Jue Yin und ist Jue Yin das Innerste.

(Nach Porkert ist die Gliederung in jeweils 3 Yin- und Yang-Qualitäten nicht aufgrund praktischer Überlegungen erfolgt, sondern enstammte dem "Bedürfnis numerologischer Symmetrie" und wurde als "Pendant zum ungradigen Zyklus der Fünf Wandlungsphasen" erstellt (Die theoretischen Grundlagen der chin. Medizin, S 31 f.))

 

 

Die erste Erwähnung fand dieses "Modell der 6 Schichten" (chin.: Liu Jing) im Nei Jing Su Wen, wo im 31. Kapitel die zeitliche Entwicklung und Symptomatik von fieberhaften Erkrankungen diskutiert wird. Demzufolge tritt eine exogene Kälte am 1. Tag in das
Tai Yang ein, erreicht am 2. Tag das Yang Ming, am 3. Tag das Shao Yang. Von hier aus befällt die Krankheit am 4. Tag das Tai Yin, am 5. das Shao Yin und zuletzt das Jue Yin. Weiter heißt es dort: "Wenn die 3 Yins und die 3 Yangs, die 5 Zang und 6 Fu alle angegriffen werden, werden Ying Qi (Nährenergie) und Wei Qi (Abwehrenergie) sowie die 5 Zang blockiert, der Patient wird sterben."

Auf dieser Basis entwickelte der chinesische Arzt Zhang Zhong Jing ca. 220 n.Chr. eine ausdifferenzierte und praktisch verwertbare "Abhandlung über schädigende Kälte", das
Shang Han Lun. (Seine Motivation dabei war, daß er miterleben mußte, wie 70% der Bewohner seines Heimatdorfes an fieberhaften Erkrankungen starben.) Er erklärt darin explizit das Eindringen von Kälte über die einzelnen Schichten und die entsprechende Symptomatik, an der der Behandler erkennen kann, in welchem Stadium sich die Erkrankung befindet. Die Präzision der Ausführungen und die ausführlichen Therapie-Angaben (Kräutertherapie!) machten das Shang Han Lun zu einem Klassiker der chinesischen Medizin und stellten es in eine Reihe mit dem Nei Jing und Nan Jing.

Die Anwendung des 6-Schichten-Modells in der modernen chinesischen Medizin erlaubt Aussagen über:

1. Abwehrlage des Menschen gegen exogene pathogene Faktoren (Wie heftig ist die

Reaktion in den Schichten? Wie schnell und wie weit kann das Übel eindringen?)

2. Lokalisation der Krankheit und dementsprechend Ort der Therapie

3. Prognose und Entwicklung einer Krankheit (Schreitet sie weiter von außen nach innen

fort oder entwickeln sich Symptome der vorausgegangenen Schicht als Zeichen der

Besserung?)

Um zu Tai Yang und Shao Yin zurückzukommen, müssen wir uns zunächst mit der "Anatomie" dieser Schichten beschäftigen.

 

 

 

Dünndarm-Leitbahn = Shou Tai Yang

Die Dünndarm-Leitbahn beginnt am äußeren Nagelfalz-

winkel des kleinen Fingers, läuft auf der Außenkante

von Hand und Unterarm bis zum Ellenbogen, weiter an

der Rückseite des Oberarms bis zur Achselfalte, zackt

über den Musculus trapezius bis zu dem Punkt Du Mai 14

und teilt sich hier in

a. äußerer Verlauf: seitlich am Hals bis hinter den Kiefer-

winkel und weiter nach oben, endet mit Dü 19 vor dem

Tragus des Ohres

b. innerer Verlauf zum Herz und auf der Mittellinie des

Körpers zum Dünndarm.

Ein weiterer innerer Ast zieht von Dü 18 zum Punkt

Bl 1 im inneren und Gb 1 im äußeren Augenwinkel.

 

 

Blasen-Leitbahn = Zu Tai Yang

 

Die Blasen-Leitbahn bekommt ihre Energie aus dem

Punkt Dünndarm 18, beginnt am inneren Augenwinkel

mit Bl 1, zieht nach oben über den Kopf (innere Äste

1. zu Du Mai 20 und Gehirn, 2. zur Gallenblasen-Ltb.)

zum Nacken, wo sie sich in 2 Äste teilt, die nach unten

bis zum Kreuzbein ziehen. Von dort verläuft sie auf der

Rückseite des Beines zum äußeren Malleolus, den sie

umkreist, um weiter zum äußeren Nagelfalzwinkel der

kleinen Zehe zu gelangen und dort mit dem Punkt Bl 67

zu enden.

Nieren-Leitbahn = Zu Shao Yin

Sie beginnt an der Unterseite der kleinen Zehe, kommt

an der Fußsohle mit dem Punkt Ni 1 an die Oberfläche.

Sie läuft zum inneren Malleolus, umkreist ihn, zieht an der

Innenseite von Unter- und Oberschenkel nach oben bis zur

Wirbelsäule. Von Du Mai 1 aus zieht sie innen zu den

Nieren und nach unten zur Blase, kommt dann wieder an

die Oberfläche, läuft neben dem Ren Mai (zunächst 0,5 cun,

dann 2 cun lateral) nach oben und endet am Unterrand der

Clavicula.

Ein innerer Ast läuft von den Nieren aus über die Leber zu

den Lungen und endet an der Zungenwurzel, in der Lunge

wiederum zweigt ein Ast zum Herz und der Perikard-Ltb.

ab.

 

 

 

Herz-Leitbahn = Shou Shao Yin

 

Sie beginnt im Herzen, läuft innen 1. nach unten zum

Dünndarm, 2. nach oben zu den Augen, 3. durch die

Lunge zur Mitte der Achselhöhle, kommt dort in dem

Punkt H 1 an die Oberfläche. Von hier aus zieht sie an

der Innenseite des Ober- und Unterarms zum Handgelenk

und über die Handinnenfläche zur radialen Seite

des kleinen Fingers, sie endet dort am äußeren Nagel-

falzwinkel mit dem Punkt H 9.

 

Krankheit im Tai Yang

 

Das Tai Yang (also Dünndarm- und Blasenleitbahn) ist die äußerste Schicht des Körpers und infolgedessen meistens die als erstes von einer exogenen Krankheit Betroffene.

Sind bei der Beschreibung der Syndrome der einzelnen Schichten auch ursprünglich akute Erkrankungen gemeint, findet man die Symptome jedoch auch bei chronischen Erkrankungen, dann über längere Zeit. Insofern kann man Menschen regelrecht in Konstitutionstypen einteilen, weil sie vornehmlich über und mit einer bestimmten Schicht reagieren.

Tai Yang-Symptome findet man an der Außenseite des Körpers, insbesondere in den von den Leitbahnen durchzogenen Arealen. Besonders betroffen sind Kopf, Nacken und Schultern. Der Puls ist entsprechend des Kampfes oberflächlich.

"Ein oberflächlicher Puls, Kopfschmerzen, steifer Nacken und ein Gefühl des Fröstelns sind immer die Leitsymptome eines Tai Yang-Syndroms." (Treatise on febrile diseases caused by cold (Shang Han Lun), S. 9)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wenn wir akute wie chronische Krankheiten betrachten wollen, müssen wir eine Fülle- und eine Leere-Symptomatik unterscheiden, die von der Reaktionsfähigkeit des Patienten abhängt. "Menschen mit unterschiedlicher Konstitution bilden unterschiedliche Symptome und Zeichen aus, wenn sie von den exogenen pathogenen Faktoren Wind und Kälte angegriffen werden. Ein Patient mit Fülle- und Hitze-Muster wird ein Yang-Syndrom mit Fieber entwickeln. ... Ein Mangel- und Kälte-Typ wird ein Yin-Syndrom ohne Fieber entwickeln." (Shang Han Lun, S. 14) Ein weiteres differentialdiagnostisches Zeichen für Fülle (= Yang) und Leere (= Yin) ist der Puls: ist er weich oder hart gespannt?

Als einen drastischen Zustand im Tai Yang beschreibt das Nei Jing Ling Shu: "Sind die Energien des Dünndarm- und Blasen-Meridians völlig erschöpft, stellt man dies an folgenden Zeichen fest: Die Augen des Patienten starren unbeweglich nach oben, seine Wirbelsäule ist krampfhaft nach hinten gebogen. Arme und Beine sind verspannt; das Gesicht ist blaß, die Haut blutleer. Der Kranke schwitzt dicke Schweißperlen, die an der Haut hängenbleiben. Dies sind Zeichen des sicheren Todes." (S. 108 f.) Das westliche Krankheitsbild Meningitis entspricht also einem Tai Yang-Syndrom.

Bei akuten Tai Yang-Syndromen gilt als therapeutische Regel (wie für alle Yang-Schichten), den pathogenen Faktor zu vertreiben. Außerdem ist wichtig, Akupunkturnadeln nur sehr oberflächlich zu setzen, um den pathogenen Faktor nicht ins Innere zu transportieren!

Aus der Praxis wissen wir, daß es häufig Patienten gibt, die chronische Erkrankungen nur im Bereich einer Leitbahn aufweisen oder immer wieder entsprechende Probleme haben - sie haben ein konstitutionelles Muster. Wenn wir die beiden Partner des Tai Yang nun nicht mehr als gemeinsam agierende und reagierende Einheit sehen, können wir einen "Typus Dünndarm" und einen "Typus Blase" unterscheiden.

 

 

 

 

 

a. Typus Dünndarm

Die Patienten haben vornehmlich Erkrankungen rheumatischer und nervaler Art im Verlauf der Dünndarm-Leitbahn. Nach Schmidt (Konstitutionelle Akupunktur) sind weitere charakteristische Merkmale dieses Typus: Probleme mit der Schweißsekretion, feuchte und kalte Hände, livide Lippen, Neigung zu Durchfall.

Bei Fülle-Zuständen bestehen akute Schmerzzustände. Es sind folgende Akupunkturpunkte druckschmerzhaft: Dü 7, 8, 10, 11, 14 und 17, das Gesicht ist gerötet, Wärme bekommt nicht.

Leere-Zustände führen zu mehr chronischen oder chronisch-rezidivierenden Schmerzen bei blassem Gesicht, Wärme bessert.

 

b. Typus Blase

Menschen mit einer besonderen Affinität zu Störungen in diesem Bereich leiden an Kopfschmerzen, die vom Nacken über die Stirn zu den Augen ziehen (ein relativ häufiges Beschwerdebild!), Rückenschmerz mit Ausstrahlung in die Beine, und neben Blasen- und Prostata-Problemen möglicherweise an chronischem Schnupfen und Nasenbluten.

Bei Fülle haben wir eine verstärkte Schmerzsymptomatik durch einen erhöhten Muskeltonus im Verlauf der Blasen-Leitbahn (möglicherweise regelrechte Ischialgien), gleichzeitig u.U. Schlaflosigkeit, stechende Augenschmerzen. Druckschmerzhafte Punkte sind im besonderen Bl 10, 56, 60 und 65.

Eine Blasen-Leere führt zu physischer wie psychischer Erschöpfung, Müdigkeit, dem Bedürfnis, sich immer wieder auszuruhen. Schlaf bessert diesen Zustand nicht befriedigend. Es besteht Kälteempfindlichkeit (besonders im Rücken), Nykturie, tagsüber häufiges Wasserlassen. Das sexuelle Verlangen läßt stark nach. All das entspricht dem Bild eines gravierenden Yang-Mangels!

 

 

Krankheit im Shao Yin

 

Wenn eine Krankheit das Shao Yin erreicht, hat sie normalerweise schon den Weg durch vier der sechs Schichten hinter sich (sehr starke pathogene Faktoren bzw. ein sehr schwaches Qi des Patienten können allerdings auch ein rascheres Vorschreiten oder Überspringen von Schichten bedingen). Das heißt, daß wir es hier schon mit einem ungleich ernsteren Krankheitsbild zu tun haben als dem eben beschriebenen.

Wenn die Syndrome der ersten drei Yang-Schichten vor allem für Infektionskrankheiten Anwendung finden, beschreiben die der Yin-Schichten Folgeerkrankungen oder endogen auf der Basis von Defizienzen entstandene Erkrankungen. Deshalb unterscheidet man eine Shao Yin-Kälte- und eine Shao Yin-Hitzeerkrankung.

Leitsymptome einer Shao Yin-Kälteerkrankung sind ein tiefer, fadenförmiger Puls und ein großes Schlafbedürfnis des Patienten als Zeichen des Yang-Mangels. Der Patient fröstelt, er hat kalte Extremitäten, "insbesondere sind die Füße kalt und erwärmen sich nicht im Bett, so daß auch im Sommer eine Wärmflasche benötigt wird". (Schmidt, Konstitutionelle Akupunktur, S. 88) Trotz der Müdigkeit ist der Patient unruhig, er empfindet Übelkeit (kein Erbrechen). Weil das Milz-Qi nicht genügend erwärmt wird, entsteht Durchfall mit unverdauten Speiseresten. Es ist Durst auf heiße Getränke vorhanden, von denen aber nur wenig getrunken wird.

Eine Shao Yin-Hitzeerkrankung entsteht auf der Basis eines Yin-Mangels in Niere und Herz. Hier findet sich Fieber, große Unruhe, Schlaflosigkeit, dunkler Urin, u.U. Übelkeit und Erbrechen. Der Puls ist schnell und fadenförmig.

In beiden Fällen ist das therapeutische Prinzip natürlich Ausgleichen des Mangels, im Falle der Shao Yin-Kälteerkrankung vorzugsweise mit Moxibustion.

Der krasseste Fall soll wieder vom Ling Shu beschrieben werden: " Ist die Energie von Herz- und Nieren-Meridian völlig am Ende, wird das Gesicht des Kranken schwarz. Sein Zahnfleisch zieht sich zusammen und legt die Zahnwurzeln bloß, so daß es aussieht, als seien die Zähne gewachsen. Die Zähne haben außerdem eine schmutzige Färbung. Der Bauch des Kranken ist gebläht, die Eingeweide sind verstopft. Es besteht zwischen Ober- und Unterkörper keine Energieverbindung mehr. Der Patient hat keine Chance, zu überleben." (S. 109)

Wieder kann man bestimmte konstitutionelle Muster festlegen und in einen "Typus Niere" und einen "Typus Herz" differenzieren.

a. Typus Niere

Nach Schmidt hat dieser Typ Zeichen einer chronischen Nebenniereninsuffizienz: dunkle Haut, allgemeine Körperschwäche, leichte Ermüdbarkeit, Übelkeit, Erbrechen, Salzhunger, Hypotonie, Ohnmachtsneigung. Außerdem können auftreten: Nachtschweiß, Pollakisurie, Impotenz, kalte Füße mit dem Gefühl heißer Fußsohlen.

Bei Nieren-Fülle entstehen Globus hystericus, "Empfindung einer vom Unterbauch bis zum Hals aufsteigenden Kugel", Kreuzschmerzen am Anfang einer Bewegung, heiße oder brennende Fußsohlen sowie innere Unruhe. Der Unterbauch ist gespannt, die Zone um
Ren Mai 4 und 5 (inclusive des Nieren-Meridians 0,5 cun lateral) ist druckschmerzhaft.

Nieren-Leere äußert sich in psychischen Symptomen wie Schreckhaftigkeit, Entschluß- losigkeit, Minderwertigkeitsgefühlen. Die Patienten haben keine Reserven. Es handelt sich um Menschen, die morgens müder sind als abends. Sie frieren schnell und stark, besonders am Unterkörper. Es kommt zu Durchfall, Poly- oder Pollakisurie, Parästhesien. Auch bei diesem Syndrom ist die Region um Ren Mai 4 und 5 druckschmerzhaft, der Bauch ist allerdings kraftlos und eingesunken.

Schon im Nei Jing Ling Shu wird über verschiedene Konstitutionstypen gesprochen, so auch über einen Typ Tai Yin. Die Bezeichnung Tai Yin hat in diesem Fall keinen Bezug zu den Meridianen oder Schichten, sondern verweist auf die Wandlungsphase Wasser mit dem Funktionskreis Niere, die energetisch Tai Yin (= großes Yin) ist. "Der Menschentyp Tai Yin möchte alles an sich raffen, ist unmoralisch in seinem Vorgehen, nach außen aber freundlich und diplomatisch. In Wirklichkeit ist er nur auf seinen Vorteil bedacht und sehr gerissen. ... Äußerlich wirken solche Menschen recht nett und anziehend, sie sind aber äußerst schlau in ihrem Wesen. ... Leute des Typs Tai Yin haben sehr dunkle Haut. Ihre Willenskraft und ihre geistigen Fähigkeiten sind nicht besonders hoch. Sie gehen scheu, etwas gebückt und halten den Blick gesenkt. Selbst wenn solche Menschen sehr groß sind, wirken sie stets gekrümmt; sie können sich nie völlig aufrichten." (10. Abschnitt,
72. Kapitel, S. 451 ff.)
Bei dem Lesen dieses Typs muß man berücksichtigen, daß Yin auch dunkel, gefährlich, schädlich bedeutet.

b. Typus Herz

Bei diesem Konstitutionstyp findet man Symptome eines gestörten Shen: Ängstlichkeit, Gereiztheit, Schlaflosigkeit, unangebrachtes Weinen und/oder Lachen. Außerdem treten nervöse Herz- und Kreislaufstörungen, Schwindel, nervöser Durchfall und Harndrang auf. Ein Zeichen der Leere-Hitze im Herz ist eine Rötung der Wangen.

Herz-Fülle existiert im Sinne der chinesischen Medizin nicht, sondern äußert sich in Mut und Tapferkeit!

Leere-Symptom ist in erster Linie Angst (vor allem vor Ereignissen wie Prüfungen, Auftritten etc. Jeder kennt die Symptome: Herzklopfen, Polyurie, kalte feuchte Hände! Hinzu kommen Kurzatmigkeit, leichte Erschöpfbarkeit, Nachtschweiß und Hypotonie.

Auch zu diesem Typ existiert eine Auslassung im Ling Shu: "Der Menschentyp Tai Yang kann überall wohnen; er fühlt sich überall sofort zu Hause. Er liebt es, über große Dinge zu reden, es fehlt ihm aber an geistiger Kraft. Er hat einen großen Mund und erzählt allen Menschen von den gewaltigen Plänen, die er hat. Ein solcher Mensch ist grob und ober- flächlich, macht unerhört viele Dummheiten, hat jedoch ein unerschütterliches Selbst- vertrauen. Das meiste, was er beginnt, endet ohne Erfolg. Trotzdem ist er unermüdlich und beginnt stets von vorn. ... Der Typ Tai Yang gibt sich hochnäsig und selbstzufrieden. Er läuft mit vorgestrecktem Bauch und schlenkernden Armen herum. Dabei knickt er oft in den Knien ein."

 

 

 

 

 

Ausklang

 

Diese Arbeit erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, dies ist ob des großen Themas und der verschiedenen Sichtweisen und Ansatzpunkte auch in diesem Umfang unmöglich. Was sie aber hoffentlich kann, ist Interesse und Faszination für das Zusammenspiel der Energien und Substanzen analog der chinesischen Philosophie auszudrücken.

Wenn man beginnt, sich näher mit der Thematik zu beschäftigen, kann man sich verlieren. Ich hoffe aber, daß ich den roten Faden trotzdem behalten habe.