LING- Versuch einer Annäherung

Diplomarbeit von

Raimund Böhr

 

Shou Zhong - Schule für traditionelle chinesische Medizin

 

Mentor: Udo Lorenzen

 

 

 

Stell dir vor
du schaust in einen Spiegel
dieser Spiegel ist leer
und dieses zu beschreiben
ist der Versuch
dieser Arbeit.

 

Inhaltsverzeichnis

Ling - das Schriftzeichen   Seite 1

Ling - Magie ?   Seite 2

Ling - die himmlische Kraft !   Seite 2

Ling und seine Übersetzungsmöglichkeiten   Seite 3

Eine mögliche Geschichte der Erkenntnis des Leidens   Seite 4

Erwachen - Ling - Heilen   Seite 6

Die Wurzeln der Theorie von Ling   Seite 8

Die "Inschrift der HUNDERT Zeichen"   Seite 14

Der Bär und Herr C   Seite 15

Sitzen und Vergessen   Seite 16

Die Ling-Punkte und die sitzende Haltung   Seite 16

Ling, Behandler und Nadel   Seite 19

"Eins und Alles"   Seite 21

 

Literaturverzeichnis   Seite 22

 

Ling - das Schriftzeichen

"Ling represents the influences that fall from above like rain. The lower section represents three people who are exclaiming and asking for rain, the squares are the three mouths." ( aus: Lorre / Rochat de la Vallee: The HEART in Ling Shu Chapter 8, S. 5 ) Drei Menschen rufen, erbitten, fragen nach Regen, der vom Himmel kommt.

Wenn nach einer Trockenperiode Regen fällt, gedeiht das Leben schlagartig. Wasser ist notwendig, viel oder wenig. Es gibt Leben, das braucht viel Wasser (tropischer Regenwald) und es gibt Leben, das braucht wenig Wasser (Kakteen in der Wüste). Es gibt Menschen, die brauchen sehr viel Wasser (z.B. ein Mensch in der Industriegesellschaft, täglich morgens und abends duschen, Auto waschen, täglich drei Bier, usw.) und es gibt Menschen, die brauchen sehr wenig Wasser (Nomaden, die in der Wüste leben).

Ich erinnere mich an eine Erzählung von Antoine de Saint-Exupery in "Wind, Sand und Sterne": Saint-Exupery war Anfang des letzten Jahrhunderts Postflieger in Nordafrika und hatte daher guten Kontakt zu den dort lebenden Menschen. Er beschreibt eine Begegnung mit den Mauretaniern: "Und so vertrauten sie mir eines Tages angesichts der Sahara, die sich einsam um ihr Zelt breitet und ihnen bis an ihr Lebensende so dürftige Genüsse spendet, ihr Bedenken an: 'Weisst du, der Gott der Franzosen, der ist doch viel freigebiger für seine Franzosen als der Gott der Mauretanier für seine Mauretanier'.

Einige Wochen zuvor hatte man sie in Savoyen herumgeführt. Ihr Führer hatte sie zu einem kräftigen Wasserfall gebracht, der wie eine geflochtene Säule herabfiel und dumpf rauschte. Er hatte sie aufgefordert zu kosten.

Und es war süsses Wasser gewesen. Wasser! Wie viele Tagemärsche braucht man hier, um den nächsten Brunnen zu erreichen. Wie viele Stunden muss man dann den Sand erausschippen, der ihn überweht hatte, um zu einer schlammigen Masse mit einer deutlichen Beimischung von Kamelharn zu gelangen. Da heisst es: 'Gib mir ein wenig Wasser'! - 'Ja, aber geh fein säuberlich damit um '!

In der Wüste ist Wasser sein Gewicht in Gold wert. Der kleinste Tropfen lockt aus dem Sande den grünen Funken eines Grashalms. ... Dieses Wasser nun, das hier so karg ist, das kam dort dumpf rauschend geschossen, wie wenn die Wasservorräte der ganzen Welt aus einem lecken Speicher auszulaufen drohten.

Stumm und ernst schauen sie dem Ablauf dieses erhebenden Schauspiels zu. Hier lief aus dem Bauch des Berges das Leben selbst, der heilige Lebensstoff".

Wasser ist Leben. Regen ist hier also nichts anderes als das Symbol für Leben, für die Existenz aller Erscheinungsformen, die ganz natürliche Wirkungskraft, Lebenskraft. In dem Schriftzeichen Ling bittet der Mensch um Lebenskraft, um Natur, um die himmlische Kraft, die das Leben entstehen lässt, dirigiert und wieder verschwinden lässt. Doch nur ein Wesen, das sich selbst ausserhalb der Natur empfindet, kann um diese bitten. In dem Zeichen wird also schon die Trennung von Mensch und Natur ausgedrückt, sichtbar; eine akute Krankheit unserer Zeit und doch schon so alt, chronisch. Der Mensch hat vom Baum der Erkenntnis gegessen und das Paradies verlassen - so das christliche Bild -, sein Verstand will alles erkennen, erklären und kontrollieren.

Ling - Magie ?

Manchmal wird Ling als magische Wirkkraft, Zauberei definiert. Magie ist laut Brockhaus 'die Fähigkeit, durch bestimmte geheimnisvolle Handlungen, Zeichen und Formeln übernatürliche Kräfte dienstbar machen und mit diesen irdische Ereignisse beeinflussen'. Was heisst dies: Wir Menschen, besser unser Verstand, also das, was uns von allen anderen Wesen unterscheidet, den Menschen erhöht, so meint dieses rationale Bewusstsein, betrachtet sich selbst als Natur an sich. Wir Menschen sind die Natur. Alles andere ist uns Untertan ('Macht euch die Erde untertan', so die angeblichen Worte von Gott in der christlichen Religion). Deutlich wird dieses in unserer Sprache, die Ausdruck unseres Bewusstseins ist. Wir sprechen von der Umwelt, die Welt um uns herum, der Mensch als Mittelpunkt, als Herrscher. Umwelt und Mensch, das sind zwei, sie sind getrennt. Und da gibt es noch die übernatürliche Welt, also die, die über den Menschen noch hinausgeht, die wir nicht begreifen, erfassen können. Doch siehe da, auch diese Welt können wir beherrschen, denn es gibt Menschen, die durch bestimmte geheimnisvolle Handlungen, Zeichen und Formeln diese erfassen und sich auch diese Welt unterwerfen, dienstbar machen können, die Magier, Zauberer.

Zauberer sind Menschen wie du und ich, also kann jeder, der Mensch ist, Zauberer werden, sein - und jeder kann sich das Ling dienstbar machen. So ist die Logik unseres rationalen Verstandes. Doch es geht nicht darum, zum Herrscher über das Ling zu werden, um es wie ein Werkzeug einsetzen zu können. Ein Begriff wie Magie beinhaltet den Dualismus, das Getrenntsein - ist dualistisches Denken. Ein Begriff wie Ling entspringt nicht diesem Denken.

 

Ling - die himmlische Kraft !

Elisabeth Rochat de la Vallee und Claude Larre beschreiben in ihrem Kommentar zum Ling Shu Kapitel 8 (The HEART in Ling Shu Chapter 8) das Zeichen für Ling: "Most often ling implies an influence that is received from Heaven, or from the Spirits. There are terraces or places that are raised up, because it is to these places that you go to observe Heaven and to receive influences from Heaven, or to get yourself in a good condition to receive the influences of Heaven. It is always the same idea - that if you receive the best influences but are not capable of understanding and containing them, then the correspondance is not good, and that will do more harm than good. So in this ideogram there has to be a good correspondance between what is given and what is received". (The HEART, S. 5)

Ling ist also ein Einfluss, der vom Himmel (Geist, Shen, absolutes Sein, cosmic order, Gott, ... ) empfangen wird. Dieser Einfluss wird erfahrbar durch Meditation (to observe Heaven), durch innerliches 'Verstehen' gefestigt.Um Regen bitten heisst, bitte lass mich meine menschliche Natur, mein Sein in diesem Universum, erkennen. Das, was gegeben wird und das, was empfangen wird ist eins (there has to be a good correspondance). Geben ist nehmen, nehmen ist geben - dieses erkennen. Nach Innen schauen ist nach Aussen schauen - Mikrokosmos ist Makrokosmos. In einem Sandkorn das Weltall entdecken.

Wenn allerdings die Kommunikation zwischen Mensch und Himmel, zwischen dem, was gegeben und dem was empfangen wird nicht gut ist, wenn ein falsches Verständnis da ist, unser Verstand, unser Denken alles seiner Kontrolle unterwirft, dann kann mehr Schaden als Gutes angerichtet werden. In einem Kommentar zu einer alten Schrift "Das Zusammenströmen des Yin" sagt Liu Yiming, ein Daoist, der von 1737 - 1826 lebte: "Menschen, die auf einer niedrigen Stufe der Entwicklung stehen und nur über geringe Tugenden verfügen, werden selbstzufrieden und selbstgefällig, sobald sie zufällig von diesem Reichtum schmecken. Sie schätzen die Essenz und das Leben nicht, sie glauben, etwas zu besitzen, das sie nicht besitzen, sie glauben, erfüllt zu sein, wenn sie leer sind, und sie glauben alles sei bestens, wenn sie in Wirklichkeit beschränkt sind. So werden sie in die falsche Richtung gehen, und sie werden nicht nur keinen Gewinn erzielen, sondern sogar noch Schaden erleiden". (aus Thomas Cleary, Herausgeber: "Die drei Schätze des Dao", S. 269)

 

Ling und seine Übersetzungsmöglichkeiten

Was beinhaltet der Begriff Ling, wenn er in die deutsche Sprache übersetzt wird. Es ist interessant, in die Übersetzungen des Chinesisch-Deutsch-Wörterbuch zu schauen. Zum einen ist Ling mit Geist, Seele, Intelligenz, Innenwelt übersetzt. Dann bedeutet Ling aber auch: gewandt, geschickt, flink, gewitzt, schlau, empfindlich, sensibel, fein. Dieses sind alles Begriffe, die aus meiner Sicht eines gemeinsam haben, sie sind nur zum Teil unserer Rationalität zugänglich, das heisst erlernbar; für alle diese Eigenschaften ist sicher eine Portion Intuition notwendig (Intuition ist eine weitere Übersetzung von Ling). Laut Brockhaus ist Intuition unter anderem definiert als: ahnendes Erkennen, bzw. unmittelbare Anschauung.

Ich erinnere eine Geschichte, die Carlos Castaneda in seinem Lernen bei Don Juan erlebt hat. Beide laufen nachts durch einen Wald, alles ist stockduster. Leichtfüssig läuft Don Juan vorne weg, muss immer wieder warten, denn Carlos Castaneda kommt nicht mit, stolpert wieder und wieder und fällt zu Boden. Don Juan erklärt dann: "Du darfst nicht mit deinem Bewusstsein laufen, nicht nach Lücken zwischen den kaum sichtbaren Bäumen suchen, nicht mit Blicken den Boden nach Unebenheiten absuchen; du musst deine Beine frei geben und sie laufenlassen, deinen Körper ganz dem Laufen überlassen. Dein ganzer Körper muss Laufen sein. Deine Füsse und der Boden finden zueinander, sie verbinden sich, werden eins. Nicht dein umherirrender Geist läuft, sondern dein ganzer Köper mit deinem gelösten, an nichts haftendem Geist". (Erzählung aus meiner Erinnerung)

In diese Richtung von Erfahrung geht eine kleine Übung, die jeder für sich mal anschauen kann. Du fährst in der Dunkelheit mit dem Auto oder mit dem Fahrrad und hältst an einer roten Ampel. Normalerweise schaust du auf das rote Licht der Ampel und wartest darauf, dass sie auf gelb und dann auf grün umschaltet. Dieses Mal schaust du nach vorne, aber so, dass die rote Ampel noch in deinem Blickfeld ist. Aber du siehst die Ampel nicht bewusst. Schau einfach nach vorne in die Ferne, ohne irgendetwas bestimmtes anzuschauen. Sobald die Ampel auf Gelb schaltet, gibt dieser Lichtwechsel automatisch ein Signal in deine Augen, das heisst, du, deine Augen registrieren direkt den Wechsel von Rot auf Gelb. Aber warte nicht darauf, lass es einfach geschehen. Das Licht kommt zu dir, bzw. Licht und Augen kommunizieren direkt miteinander. Wenn das gelbe Licht in der Ampel erscheint, ist das gelbe Licht gleichzeitig in dir. Diese Übung ist auch ganz ungefährlich, denn solltest du den Wechsel auf Gelb nicht mitbekommen, weil deine Gedanken ganz woanders sind, du dich in deinen Gedanken verloren hast, dich hast mitnehmen lassen in Träume; du bist sicher, dir passiert nichts, denn die hinter dir Wartenden werden dich durch Hupen wecken - das kann natürlich unangenehm und peinlich sein - und du kannst weiterfahren. Eine kleine und doch interessante Erfahrung.

Zurück zu den Deutungen von Ling. In Zusammenhang mit anderen Schriftzeichen gibt es noch: Leichenwagen, Totenbahre, Sarg; aber auch Lebenselixier, Wunderarznei, Allheilmittel. Leben und Tod sind eins, die zwei Seiten einer Medaille. Beides ist in Ling enthalten. Ohne Tod gibt es kein Leben, ohne Leben gibt es keinen Tod. Tod ist eine Transformation von einem Leben zum nächsten - Leben ist eine Transformation von einem Tod zum nächsten.

"Ich starb als Mineral und wurde Pflanze

als Pflanze starb ich und wurde Tier

Ich starb als Tier und wurde Mensch

Warum also fürchten, im Tod zu Nichts zu werden?

Bei meinem nächsten Tod

werde ich Schwingen hervorbringen und Federn wie Engel

dann, mich höher noch aufschwingend wie Engel

was ihr nicht erdenken könnt

ich werde es sein".

(Mevlana Celaleddin Rumi, ein Sufi-Meister früherer Zeit; aus: "Ich ging den Weg

des Derwisch" von Reshad Feild, S. 44)

 

Eine mögliche Geschichte der Erkenntnis des Leidens

Als der Mensch vom Baum der Erkenntnis gegessen hatte, wurde er sich seiner selbst bewusst. Der Mensch bekam das rationale Denken, das Grosshirn entstand und seine Hirnmasse wurde immer grösser. Das unterscheidet uns bis heute von anderen Lebewesen. Wir können etwas wahrnehmen und benennen, haben dafür Sprache entwickelt, die versucht, immer präziser die Dinge zu beschreiben. Das ist so weit gegangen, dass es heute Sprachen gibt mit denen sich nur ganz wenige Menschen verständigen können. Selbst hoch intelligente Wissenschaftler verstehen einander nicht mehr, wenn sie aus unterschiedlichen Bereichen kommen.

Wie könnte es in der Urzeit ausgesehen haben? Ein Lebewesen, das mittlerweile aufrecht geht und verschiedene Techniken einsetzen kann (z.B. eine Nuss mit einem Stein aufschlagen kann; einen Stein zum gezielten Wurf auf ein anderes Tier benutzen kann; usw.), sieht sich im klaren, ruhigen Wasser eines Sees. Wenn Affen in einen Spiegel schauen, erkennen sie durchaus, da ist nicht ein anderer Affe. Sie sind in diesen Momenten sehr aufgeregt, sind ein grosses Fragezeichen. Sie schauen rein, schneiden Grimassen, bewegen sich hektisch hin und her. Das Gegenüber zeigt nicht das Bekannte, nämlich reaktives Verhalten (z.B. Drohgebärde oder Unterwerfung). Was fehlt ist diese bewusste Erkenntnis: Das bin "ICH". Diese bewusste Erkenntnis wurde irgendwann in der Vergangenheit geboren, das Ego war geboren, die Trennung von Ich und Du. Jahrtausende später brachte diese revolutionäre Erkenntnis ein Philosoph in den weltberühmten Spruch: "Ich denke, also bin ich" (Descartes). Die Entdeckung der Dualität (Ich und Du, Hell und Dunkel, Gut und Böse, ....) geschah auf der individuellen Ebene und damit zugleich auf der Ebene der Spezies Mensch. Als ein Mensch das Ego erkannte, erkannte der Mensch das Ego.

Von nun an gab es kein Halten mehr. Das Grosshirn wurde gross und grösser, der Wissensdrang nahm ungeahnte Ausmasse an und das gesammelte Wissen war bis vor ein paar Jahren noch in einem zwanzigbändigen Brockhaus mit jeweils über eintausend Seiten zusammengefasst. Heute haben wir dafür Computer mit Speicherkapazitäten von......, aber da kenne ich mich nicht aus. Es heisst. "Wissen ist Macht", und das Ego braucht Macht, am besten alle Macht für sich. Schön zu sehen in der Realität oder in Filmen, wo ein Mensch die 'Herrschaft über die Welt' anstrebt.

Der Mensch wurde also allem Leben gegenüber übermächtig, er hat heute keine natürlichen Feinde mehr, der natürliche Feind des Menschen ist der Mensch selbst geworden. (Im Frankfurter Zoo hängt im Raubtierhaus ein grosser Spiegel. Daneben steht: Mensch, das schrecklichste Raubtier, das die Erde hervorgebracht hat).

Mit dem Sprung zur Erkenntnis des 'Ich und Du' war gleichzeitig das Erkennen des Leidens geboren. In Krankheit und Tod schliefen Traurigkeit und Angst. Durch die bewusste Wahrnehmung treten auch diese hervor. Der Tod brachte die bewusste Einsicht, das ist das Ende des Ich. Leiden.

"Die Menschen fürchten für gewöhnlich den Tod. Wenn sie jedoch schwer erkranken, dann sehnen sie sich nach einem schnellen Tod, der sie von ihren Leiden erlöst. Sind sie in einer gefährlichen Situation am Ende ihrer Kräfte angelangt, wollen sie schnell sterben, um dem Leiden zu entrinnen. Wenn du Leben und Tod einmal von einem derart umgekehrten Standpunkt betrachtest, dann durchbrichst du deine geistige Blockade". (Unterweisung zu Urahn Lü's "Inschrift der Hundert Zeichen" in: Drei Schätze des Dao, S. 132)

In der Erkenntnis: Ich leide, steckt also gleichzeitig schon die Frage (und nur ein denkendes, Ich-Bewusstsein-habendes Wesen kann fragen) : Was ist Leiden, was ist das Geheimnis von Leben und Tod?

Und so gingen Menschen in ihrem Leben dieser Frage nach und suchten eine Antwort. So auch der Königssohn Siddharta.

Siddharta war ein indischer Königssohn. Er wuchs in einem Pallast auf. Er hatte alles, was eine glückliche Kindheit ausmachen soll: Viele Spielsachen, immer die neuesten; Köstlichkeiten zu essen, Kinderschokolade mit viel Milch und wenig Kakao, Gummibärchen so viele er wollte, usw. Mit 8 Jahren bekam er den zur Zeit besten Computer und konnte ganz viele Computerspiele machen, kurz gesagt: Er wurde vom Leben auf der Erde ferngehalten, er sollte nur glücklich sein.

Als Siddharta herangewachsen war, verliess er eigenmächtig seinen Pallast, um all die anderen Glücklichen zu sehen, doch er war tief im Inneren erschrocken über das, was er draussen sah: Geburt, Leben-Glück-Leiden, Tod. In diesem Augenblick tauchte eine Frage in ihm auf:"Was ist das Geheimnis von Leben und Tod"? Und er machte sich auf den Weg, diese Frage zu klären, eine Antwort zu finden. Er besuchte alle Wissenden Indiens, doch selbst die angesehendsten Gelehrten, die alle Bücher der Zeit auswendig kannten, konnten diese Frage nicht zufriedenstellend beantworten. Danach unterzog er sich allen möglichen Techniken der Bewusstseinserweiterung, er kiffte, übte sich im Feuerlaufen, versuchte es mit asketischem Hungern, enthielt sich der Unzucht, machte mit seinem Körper die ungewöhnlichsten Übungen und Verrenkungen; doch nichts half, keine Antwort, die Frage blieb offen. Und als er nicht mehr weiterwusste, setzte er sich unter einen Baum, legte die Beine übereinander (wir nennen das heute Lotussitz), legte die Hände in den Schoss, richtete seine Wirbelsäule auf, die Atmung floss frei. Er war bereit zu sterben. So sass er da, und sass, und ..... . In seinem Geist tauchte sein ganzes bisheriges Leben auf und zog vorbei. Eine Stimme in ihm sagte: Was machst du für einen Blödsinn, sitzt hier einfach nur rum, das ist doch langweilig!; doch er kümmerte sich nicht um die Stimme und so liess sie ihn in Ruhe. Gespenster und Dämonen kamen und wollten ihm Angst machen, er liess sie gewähren, sie verloren das Interesse und zogen weiter.

Nach einer Ewigkeit an Zeit war da der Augenblick, in dem aus Siddharta, dem Königssohn, Buddha, der Erwachte wurde. Und Buddha Shakyamuni sagte: "Mit mir zusammen sind alle Wesen erwacht!" (eine freie Erzählung)

"Das Geheimnis der Geheimnisse existiert nicht, und doch existiert es; es ist leer, und doch ist es erfüllt. Es ist in weisen Menschen nicht in grösserem Ausmass vorhanden als in nichtwissenden Menschen". (Drei Schätze des Dao, S. 128)

Es gab in der Geschichte der Menschheit nicht nur den Königssohn Siddharta, der eine Praxis, ein Tun fand, woraus eine tiefe Antwort auf die Frage nach Leben und Tod auftaucht; ein Erwachen, das durch unser rationales, abgespaltenes Denken nicht erfassbar ist. Natürliches Denken, Denken aus dem Grunde des Nicht-Denken; Natürliches Handeln aus dem Grunde des Nicht-Handeln (chinesisch Wu Wei)

 

Erwachen - Ling - Heilen

Nun, was hat dieses alles mit Ling, der himmlischen Kraft, zu tun? Ein Mensch, der erwacht ist, sieht das Leiden nicht auf der körperlichen Ebene. "Was Weise lernen, ist nichts anderes, als ihre Natur wieder an den Beginn zurückzuführen und ihren Geist frei in der offenen Weite wandern zu lassen. Was vollendete Menschen lernen, ist nichts anderes, als ihre Natur mit der weiten Leere zu verbinden und des lautlosen Unendlichen gewahr zu sein. Das Lernen, wie es gewöhnliche Weltmenschen verstehen, ist anderer Art. Sie greifen nach der Tugend und engen ihre Natur ein, sie sorgen sich innerlich um ihre Organe, während sie aussen ihre Augen und Ohren missbrauchen". (aus: Huainanzi, ein daoistischer Klassiker etwa 200 v. Chr. in: Drei Schätze des Dao, S. 47)

Was solchen Menschen möglich ist, das zu tun, was wir heilen nennen, möchte ich durch eine Geschichte darstellen, die Swami Rama erzählte. Swami Rama, ein indischer Meister des Yoga, kam in den sechziger Jahren in den Westen (USA) und gründete mehrere Zentren des Yoga. Die Menninger Foundation ist ein anerkanntes Forschungsinstitut der USA. Swami Rama stellte sich sozusagen als Versuchskaninchen zur Verfügung. Für die westliche Medizin ist der Herzschlag autonom, d.h. nicht vom Willen des Menschen beeinflussbar. Swami Rama wies in Versuchen nach, dass es dem Menschen möglich ist, seinen Herzschlag zu bestimmen.

In dem Buch "Mein Leben mit den Meistern des Himalaya" erzählt Swami Rama: "Als ich zwölf Jahre alt war, reiste ich mit meinem Meister zu Fuss durch die Ebenen Indiens. Wir machten halt an der Eisenbahnstation von Etah. Dort ging mein Meister zum Bahnhofsvorsteher und bat: 'Ich habe mein Kind bei mir, und es ist hungrig. Bitte, geben sie uns etwas zu essen.' Der Bahnhofsvorsteher ging nach Hause, um etwas zu essen zu holen. aber als er dort ankam, schrie ihn seine Frau an: 'Du weisst, dass unser einziger Sohn die Pocken hat. Wie kann es dich da bekümmern, diesen wandernden sadhus Essen zu besorgen? Mein Sohn stirbt! Verschwinde hier! Ich bin am Verzweifeln.' Er kehrte mit einem langen Gesicht zurück und entschuldigte sich: 'Was kann ich machen? Meine Frau sagt: 'Wenn er ein wirklicher Swami ist, warum erkennt er dann nicht unsere Situation und heilt unser Kind? Unser einziges Kind liegt im Sterben, und er sorgt sich um eine Essensgabe.'

Mein Meister lächelte und bat mich, ihm zu folgen. Wir gingen zum Haus des Bahnhofsvorstehers. Das war eine Herausforderung, und er freute sich immer, herausgefordert zu werden. Ich aber jammerte: 'Ich habe Hunger, wann gibt es etwas zu essen?' - Er erwiderte: 'Du wirst warten müssen.'

Ich beklagte mich oft auf diese Weise. Häufig weinte ich auch: 'Du gibst mir nie rechtzeitig zu essen', um dann heulend fortzulaufen. Aber er lehrte mich, Geduld zu haben. - Er sagte: 'Du bist in diesem Moment sehr aufgebracht. Warte fünf Minuten, und du wirst wieder in Ordnung sein. In einer solchen Situation ist es richtig zu warten.' Ich aber fuhr fort zu jammern, und die Frau wollte mich schon aus dem Haus jagen. Es war das erstemal, dass ich jemanden sah, der die Pocken hatte. Der Junge hatte grosse Beulen am ganzen Körper, sogar im Gesicht, aus denen Eiter floss. Mein Meister sagte zu den Eltern: 'Macht euch keine Sorgen, in zwei Minuten wird euer Sohn vollkommen gesund sein.' Er nahm ein Glas Wasser und ging rund um das Kinderbettchen, auf dem der Junge lag. Das tat er dreimal, dann trank er das Glas Wasser aus. Daraufhin schaute er die Frau an und meinte:'Er wird gesund, siehst du nicht?' Zu unserem Erstaunen begannen die Beulen vom Körper des kleinen Jungen zu verschwinden, aber zu meinem grossen Schrecken erschienen sie im gleichen Moment auf dem Gesicht meines Meisters. Ich war entsetzt und fing an zu weinen. Er sagte ruhig:'Sei unbesorgt, nichts wird mir geschehen.' Innerhalb von zwei Minuten war das Gesicht des Jungen ganz klar, und wir verliessen das Haus. Ich lief hinter meinem Meister her bis zu einem Banyanbaum. Er setzte sich unter den Baum, und alsbald begannen die Beulen bei ihm zu verschwinden und am Stamm des Baumes aufzutauchen. Nach zehn Minuten verschwanden sie dann auch vom Baum. Als ich sah, dass mein Meister wieder in Ordnung war, umarmte ich ihn und weinte.

Die Weisen finden Freude daran zu leiden, um anderen zu helfen. So etwas liegt jenseits des Fassungsvermögens eines gewöhnlichen Geistes. Die Geschichte der Menschheit hat uns viele Fälle von spirituellen Führern überliefert, die für andere gelitten haben. Solche Weisen werden zu Vorbildern, und viele Menschen folgen bis heute den Fussstapfen solcher grossen Menschen. Wenn sich das individuelle Bewusstsein eines Menschen zum kosmischen Bewusstsein ausdehnt, wird es für ihn leicht, am Leiden um anderer Menschen willen Freude zu finden. Für ihn bedeutet es dann kein Leiden, obgleich gewöhnliche Menschen das glauben. Wenn aber das Bewusstsein nur auf seine individuellen Grenzen beschränkt bleibt, dann leidet der Mensch. Ein grosser Mensch leidet nicht, wenn ihm selbst etwas passiert, sondern er empfindet Schmerz, wenn andere leiden". (S. 141)

Jetzt kann die Frage auftauchen, warum diese Weisen nicht jeden kranken Menschen heilen, dem sie begegnen. Dazu die Antwort eines indianischen Medizinmannes:"Kein Individuum und keine Gruppe von Menschen kann den Weg eines anderen Individuums oder einer anderen Gruppe versperren oder gegen seine Natur und Bestimmung ändern. ... Selbst beim Heilen berücksichtigen wir diesen Punkt. Ein guter Heilkundiger verliert nie das Karma und die Bestimmung eines Menschen aus den Augen. Er besitzt die Fähigkeit, das zu erkennen und zu verstehen, was unweigerlich zur persönlichen Entwicklung und Entfaltung eines jeden Menschen gehört." ( aus Doug Boyd: "Rolling Thunder", S. 48) Und weiter: "Verstehen fängt bei Liebe und Achtung an, Achtung vor dem grossen Geist; und der grosse Geist wiederum ist das Leben, das in allen Dingen steckt - in allen Lebewesen und Pflanzen, ja selbst in Steinen und Mineralien. Alle Dinge, und ich unterstreiche 'alle', haben ihren eigenen Willen, ihren eigenen Weg und ihre eigene Bestimmung, und das sollten wir endlich respektieren." (S. 61)

Der grosse Geist, der in allen Dingen steckt; wieder sind wir dem Ling begegnet.

 

Die Wurzeln der Theorie von Ling

Ein Erwachter lebt seine, lebt die menschliche Natur. Durch seine aussergewöhnliche Präsenz zieht es andere Menschen zu ihm und sie werden Schüler. Manche dieser Schüler meinten und meinen es auch heute noch, tiefe Einsicht erlangt zu haben und so entstanden die unterschiedlichsten Philosophien, Erklärungssysteme, Theorien. Im allgemeinen religiösen Leben Chinas entstanden drei Lehren: Konfuzianismus, Buddhismus, Daoismus.

Eine Wurzel chinesischen Denkens liegt also im Daoismus. Anhand des Kommentars zweier klassischen, daoistischen Texte "Über das Zusammenströmen des Yin" und die "Inschrift der Hundert Zeichen" möchte ich versuchen, dem Ling ein wenig auf die Spur zu kommen. Die Kommentare stammen von Liu Yiming, ich habe ihn bereits erwähnt.

 

 

Das ganze, riesige Universum ist eins, ein Wesen. Die Erde ist ein Wesen. Der Mensch ist ein Wesen. Jeder für sich ist unteilbar. Ein Mensch ist ein Teil der Menschheit. Die Menschheit ist ein Teil der Erde. Die Erde ist ein Teil des Universums Nur, das Universum ist unteilbar. Was heisst das?: Jeder Mensch, jede Zelle seines Körpers, jedes Sandkorn der Erde ist unteilbar eins mit dem Universum. Das Universum ist vollständig in jeder Zelle, in jedem Sandkorn enthalten.

Alles dieses ist geboren aus dem ursprünglichen Geist, dem wir verschiedene Namen gegeben haben: Dao, Shen, Dharma, Gott, Brahman, Grosser Geist Belebender Geist, cosmic order, .........; und alles dieses stirbt auch wieder in den ursprünglichen Geist. Dieser ursprüngliche Geist ist ohne Anfang und Ende. "Das grosse Dao ist formlos, und doch bringt es Himmel und Erde hervor und lässt sie gedeihen. Das grosse Dao ist namenlos, und doch nährt es die zahllosen Wesen und lässt sie reifen. Es ist das formlose, namenlose, natürliche vollkommen stille Dao. Aber diese Stille ist die Grundlage jeder Aktivität. Erreicht die Stille ihren Höhepunkt, geht sie über in Aktion, und dann werden Himmel und Erde und alle Wesen geboren. ... Bewegung und Aktivität sind Yang, Stille und Ruhe sind Yin. Bewegung mündet in Stille, Stille mündet in Bewegung." (Drei Schätze des Dao, S. 275)

Im Chan - Buddhismus (japanisch: Zen, dieser Begriff ist im Westen bekannter) gibt es ein Sutra (einfach übersetzt: Lehrsatz, der immer wieder aufgesagt, rezitiert wird), das "Hannya Shingyo" - das "Sutra von der Weisheit, die darüber hinausgeht". In diesem Sutra gibt es eine Zeile: "Shiki soku ze ku - ku soku ze shiki", was bedeutet: "Die Erscheinungsformen sind die Essenz (Leerheit) und die Essenz (Leerheit) ist nichts anderes als die Erscheinungsformen. Da also 'shiki' zu 'ku' wird und 'ku' zu 'shiki' , kann keines der beiden bevorzugt werden. Sich an die Erscheinungswelt zu binden, an das materielle Universum, führt zur Täuschung, und nur der Essenz, der Leerheit zu begegnen, ist nicht die wahre Erweckung." (aus einem Kommentar von Taisen Deshimaru Roshi zum Sandokai, einem Zen - Sutra von Sekito Kisen Roshi, der von 700 - 790 n. Chr. lebte). Taisen Deshimaru Roshi war ein japanischer Zen - Meister (Roshi), der in den sechziger Jahren nach Europa kam. Viele Menschen gingen zu ihm, wurden seine Schüler und praktizierten mit ihm Zazen (die Praxis des Zen). Er starb 1982. .

Schauen wir uns das soeben dargestellte mal etwas genauer an:

Leerheit wird Form --- Form wird Leerheit

Stille (Leerheit) wird Bewegung (Form) ---Bewegung (Form) wird Stille (Leerheit)

Yin (Stille) wird Yang (Bewegung) --- Yang (Bewegung) wird Yin (Stille)

Stille mündet in Bewegung --- Bewegung mündet in Stille

Hier ist die Sichtweise: Leerheit ist Yin

Form ist Yang

Sagen wir dagegen:

Leerheit ist Form --- Form ist Leerheit

wobei wir Leerheit (Stille) als das feinere, geistige als Yang

und Form (Bewegung) als das gröbere, materialisierte als Yin

annehmen, so ist die Sichtweise: Leerheit ist Yang

Form ist Yin.

Das hört sich sehr kompliziert an. Leerheit kann also Yin oder Yang sein; und Form kann ebenso Yin oder Yang sein. Yin und Yang durchdringen sich gegenseitig. Nur unser menschlicher, unterscheidender Geist schafft eine Trennung, wo es keine Trennung gibt. Das macht es so kompliziert.

Ich möchte einen kleinen Abstecher in die westliche Naturwissenschaft, in die Physik, wagen: "Die offensichtlichen Ähnlichkeiten zwischen der Struktur der Materie und der Struktur des Geistes sollten uns nicht allzusehr überraschen, da das menschliche Bewusstsein beim Vorgang des Beobachtens eine ganz entscheidende Rolle spielt und in der Atomphysik in beträchtlichem Masse die Eigenschaften der beobachteten Erscheinungen bestimmt. Dies ist eine andere bedeutende Erkenntnis der Quantentheorie mit wahrscheinlich weitreichenden Konsequenzen. In der Atomphysik kann man das beobachtete Phänomen nur als Korrelation (Wechselbeziehung) zwischen verschiedenen Vorgängen der Beobachtung und Messung verstehen, wobei das Ende dieser Kette von Vorgängen stets im Bewusstsein des menschlichen Beobachters liegt. Das entscheidende Kennzeichen der Quantentheorie ist, dass der Beobachter nicht nur notwendig ist, um die Eigenschaften eines atomaren Geschehens zu beobachten, sondern sogar notwendig, um die Eigenschaften hervorzurufen. Meine bewusste Entscheidung, wie ich beispielsweise ein Elektron beobachten will, wird bis zu einem gewissen Masse die Eigenschaften des Elektrons bestimmen. Stelle ich ihm eine Teilchen - Frage, wird es mir eine Teilchen - Antwort geben, stelle ich ihm eine Wellen - Frage, wird es mir eine Wellen - Antwort geben. (Ein Elektron ist weder ein Teilchen noch eine Welle, aber es kann in einigen Situationen teilchenähnliche Aspekte haben und in anderen wellenähnliche. Während es sich wie ein Teilchen verhält, kann es seine Wellennatur auf Kosten seiner Teilchennatur entwickeln, und umgekehrt. Auf diese Weise kommt es zu einer fortgesetzten Umwandlung von Teilchen zu Welle und von Welle zu Teilchen. Das bedeutet, dass weder das Elektron noch irgendein anderes atomares 'Objekt' innerliche Eigenschaften besitzt, die von seiner Umwelt unabhängig sind. Seine Eigenschaften - teilchenähnlich oder wellenähnlich - hängen von der experimentellen Situation ab, das heisst von der Apparatur, zu der es in Wechselbeziehung treten muss). Das Elektron besitzt keine von meinem Bewusstsein unabhängigen Eigenschaften. In der Atomphysik kann die scharfe kartesianische Unterscheidung zwischen Geist und Materie, zwischen dem Beobachter und dem Beobachteten, nicht länger aufrechterhalten werden. Wir können niemals von der Natur sprechen, ohne gleichzeitig von uns zu sprechen." (Fritjof Capra: Wendezeit, S. 90/91; eingeschoben S. 81)

Oft wird das Bild benutzt: Yin und Yang sind wie die zwei Seiten einer Medaille. Stellen wir uns diese Medaille vor, wie sie sich in unendlicher Geschwindigkeit dreht. Will ich die Yin-Seite sehen, so halte ich die Medaille genau an der Yin-Seite an und sehe diese; will ich die Yang-Seite sehen, so halte ich die Medaille an der Yang-Seite an und sehe diese. Nur, jeder noch so kurze Augenblick des Anhaltens, um bewusst das Yin oder Yang zu erfassen, ist immer sofort Vergangenheit; niemals absolute Gegenwart, niemals objektive Wirklichkeit. Die absolute Gegenwart ist durch den menschlichen, unterscheidenden Geist nicht zu erfassen.

 

Und weiter: Will mein Bewusstsein die Yin-Seite sehen, so zeigt sich mir die Yin-Seite, niemals die Yang-Seite, und umgekehrt. Wie ich in den Wald hineinrufe, so schallt es heraus, ist ein allgemein bekannter Weisheitsspruch. Diese Wechselbeziehung zwischen Geist und Materie haben sich schon in früherer Zeit die Menschen zunutze gemacht: So wird z.B. im Qi Gong mit Visualisierungen gearbeitet, es gibt Meditationsarten, die innere Bilder von Dingen, Formen, Farben oder Worten (Mantras) benutzen; in unserer heutigen westlichen Welt sehr bekannt und in Mode ist das Reiki, das mit Symbolen arbeitet. Und diese Visualisierungen können zum Heilen des Körpers genutzt werden. Es ist leicht einsehbar, dass ein Mensch, der in erster Linie in Sorgen, Kummer, schlechten Gedanken dem Leben über, lebt, schwer körperlich erkranken kann und dann schnell stirbt; der Lebenswille fehlt. Die körperliche Krankheit ist Ausdruck des Geistes, wie es auch die westliche Psychosomatik sieht. - Auf der anderen Seite kann ein Mensch, der schwere körperliche Leiden hat, dazu aber eine 'Lebenslust' in sich trägt, lange leben.

Der menschliche Geist trägt also eine Kraft in sich. Diese Kraft kann gesteigert werden. Dazu gibt es Übungen, spezielle Techniken, z. B. die Konzentration auf eine Sache, auf ein Ding. Ist diese Kraft sehr stark entwickelt, kann dieser Geist die so bezeichneten magischen Kräfte entfalten und sie durch den Körper ausdrücken. Unsere sogenannten Geisteskranken können z.B. sehr grosse körperliche Kräfte entfalten, nur sind ihnen diese nicht bewusst, sie können sie nicht bewusst einsetzen. Anders ist es in der Magie, es gibt die weisse und die schwarze, also die Gute und die Böse. Hierbei hat es der Mensch gelernt, die grosse Kraft des menschlichen Geistes auf die eine oder andere Art bewusst einzusetzen. Aber alles dieses ist menschlicher Geist, nicht ursprünglicher Geist, nicht Shen oder die Wirkkraft des Shen, die Lebenskraft Ling.

"Menschen, die die wahre Bedeutung der Übertragung nicht erfasst haben, wissen nicht, was die ursprüngliche Energie ist, und halten fälschlicherweise die Energie in ihrer erworbenen Form für die ursprüngliche Energie. Die ursprüngliche Energie löst sich nie auf, während die erworbene Energie nur in Abhängigkeit von einem illusorischen physischen Körper existieren kann. Manche sagen, die ursprüngliche Energie sei im Meer des Atems, andere sagen, sie befände sich im Feld des Elixiers, wieder andere meinen, sie wäre im Gelben Hof, und andere sagen, sie fliesse in den aktiven und passiven Kanälen. Manche glauben, sie liege zwischen den Nieren und Genitalien, andere regulieren den Atem, um die Energie ins Gleichgewicht zu bringen, manche halten den Atem an und üben sich in der Embryonalatmung, um Energie zu speichern, ander schicken die Energie entlang der Wirbelsäule hinauf bis in den Kopf und dann wieder hinunter in ihre Mitte, um Energie anzusammeln." (Drei Schätze des Dao, S. 278)

Alle diese Praktiken haben einen gewissen Wert auf der Ebene des menschlichen Geistes (s. o.). Ling jedoch ist die himmlische, ursprüngliche Kraft auf der Ebene des ursprünglichen Geistes und nur unser unterscheidender Geist trennt ursprünglichen Geist und Ling. Letztendlich ist da keine Trennung von Ling und ursprünglichem Geist. (Diese Sichtweise anhand der Lingpunkte des Leitbahnsystems zu betrachten ist sehr interessant, dazu siehe später.)

In dem obigen Zitat benennt Liu Yiming die unterschiedlichen Sichtweisen, Konzepte. Wäre jede einzelne für sich wahr, so würden sie sich gegenseitig ausschliessen. Es ist jeweils die Wahrheit dieses menschlichen Geistes, das Knzept des erworbenen Geistes. Verhält es sich in der TCM nicht genauso? Es gibt unterschiedliche Konzepte (Vier Schichten, Sechs Schichten, Fünf Wandlungsphasen, usw.). Jede für sich funktioniert und kann gute Behandlungserfolge aufweisen. Wichtig dabei ist zu wissen, welches Konzept ich benutze, in welcher Theorie ich mich bewege. Wenn ein Problem durch ein Konzept nicht erklärbar wird, schaue ich mir dieses Problem innerhalb eines anderen Konzeptes an. Das Wirkungsvollste erweist sich durch die Praxis. Hierbei wird sichtbar, dass Erfahrung und/oder Intuition ein wichtiger Faktor ist. Auch hier darf ich nicht verwechseln: TCM findet auf der Ebene des menschlichen Geistes statt, nicht auf der des ursprünglichen Geistes, Ling.

"Irrige Vorstellungen, die zu Begierde führen, nennt der 'Klassiker über das Zusammenströmen des Yin' die 'Quelle der Profitsucht'. Wenn es gelingt, diese Quelle abzuschneiden, dann ist alles leer, und alles Grübeln hat ein Ende; das ist zehnmal besser als alle Übungen (körperliche und geistige)." (Drei Schätze des Dao, S. 270) Begierde ist dabei nur ein Beispiel, wozu irrige Vorstellungen führen können. Gemeint ist, die Quelle dieser irrigen Vorstellungen hinter sich zu lassen, ALLES hinter sich zu lassen. Meister Deshimaru sagte hierzu: "Einmal im Leben seinen Sarg betreten".

"Die Methode des Sitzens und Vergessens (der äusseren Welt), bei der man seinen Blick nach innen wendet und Bilder aufrechterhält, wurde von manchen Weisen angewandt, von anderen wiederum nicht. Da jedoch der Geist und die Gedanken ununterbrochen umherstreifen und von einem zum anderen springen, fürchteten die alten Weisen, der Wille könne sich an äussere Objekte verlieren.Deshalb errichteten sie Bilder inmitten des Nicht-Dinglichen, um zu verhindern, dass die Ohren hören, die Augen sehen, der Geist ungezügelt wandert und die Gedanken umherstreifen.

Wo dies geschieht, ist es unerlässlich, den Blick nach innen zu wenden und Objekte zu visualisieren, während man in Vergessenheit sitzt. Unglücklicherweise glauben unkundige Menschen, deren Wissen beschränkt ist und die den Prozess nicht verstehen, das Visualisieren allein könne das Werk vollenden. Sie bilden das Elixier in ihrem Geist und sammeln das Heilmittel in ihren Vorstellungen. Aus diesem Grund geben herausragende Adepten (Schüler) das Sitzen in Vergessenheit und das Nach-innen-Wenden des Blickes ab einem gewissen Punkt auf. Wie sie sagen, können Materialien, die aus Träumen stammen, im tatsächlichen Leben nicht benutzt werden, genausowenig wie das Bild eines Kuchens Hunger stillen kann." (aus Urahn Lü befragt seinen Lehrer Zhangli über das Prinzip des "Nach-innen-Schauen" in Drei Schätze des Dao, S. 19/20) Wir dürfen also nicht der Täuschung anheimfallen und den menschlichen Geist für den ursprünglichen Geist halten. (Es sei erwähnt, dass die Philosophie des Yoga genau dieses auch enthält.)

Deshimaru Roshi im Kommentar zu Sandokai: "Die Buddhalehre geht über die Dualität von Essenz und Existenz, - wie über jegliche Dualität - hinaus. Geist und Materie sind eins." ( s. o. S. 29)

 

So auch in der Lehre des Dao: Shang Yangzi (ein Meister des Dao) sagte:"Der Weg von Boddhidharma ist identisch mit dem Weg der Alchimie (des Dao)." Boddhidharma war ein Zen-Meister in der ununterbrochenen Folge nach Buddha Shakyamuni, der das Zazen, die Praxis des Zen, von Indien nach China brachte.

Liu Yiming sagt: "Der Geist ist wie der Herr des Hauses, die Augen sind wie die Tore. Der ursprüngliche, wahre Geist ist offen und klar, in ihm gibt es kein Selbst, keine Person, kein Ding. Er ist eins mit der grossen Leere. Wie könnte er Tod und Geburt unterworfen sein? Das, was Geburt und Tod kennt, ist nur der mit dem Physischen verbundene Geist. Der Geist ist nur durch die Dinge zu sehen; siehst du Dnge, dann siehst du den Geist. Ist nichts da, erscheint der Geist nicht." (Drei Schätze des Dao, S. 270/271)

Aus der grossen Leere, aus dem Dao kommt alles Leben, kommen alle Erscheinungsformen. Die zehntausend Dinge nehmen ihren Anfang im Himmel, im Dao. Die Erde bringt die zehntausend Erscheinungsformen hervor. Sie verleiht ihnen Leben und tötet sie. Es ist ein nicht endender, ewiger Prozess der Umwandlung, Veränderung. Durch unsere Augen (die Augen sind wie die Tore,s.o.), durch unsere Sinne nehmen wir die Dinge wahr und deshalb existieren sie.

"In den Menschen kommen Gefühle auf, wenn sie Gegenstände sehen, und wenn sie ihren Gefühlen und Wünschen freien Lauf lassen, brauchen sie ihren Belebenden Geist und ihre Energie auf." (Drei Schätze des Dao, S. 265) Mit Belebender Geist ist hier der menschliche Geist gemeint. Er ist ein wahrer Energiefresser. Jeder kennt dies: Angestrengtes Nachdenken, Grübeln, Sich-Sorgen-machen erschöpft den Körper; in der TCM: Grübeln schädigt die Milz, behindert also die Bildung von nachgeburtlichem Qi. Menschen, die den ganzen Tag denkend arbeiten, sind danach erschöpft.

"Zu allen Zeiten haben Suchende das leuchtende Gewahrsein des unterscheidenden Geistes für den grundlegenden, ursprünglichen Belebenden Geist gehalten. Deshalb halten sie an der Leere fest, oder sind den Formen verhaftet (s. o. die Betrachtung von Form - Leere), sind von Wundern aller Art derart fasziniert und altern, ohne etwas zu verwirklichen, so dass sie sich nur noch auf den Tod freuen können. Sie erkennen nicht, dass der denkende Geist ein erworbener Geist und nicht der ursprüngliche Belebende Geist ist." (Drei Schätze des Dao, S 267)

 

 

Die "Inschrift der HUNDERT Zeichen"

 

Willst du die Energie nähren, dann vergiss die Worte und wahre das Eine.

Beherrsche den Geist, tu das Nichttun.

In Aktivität und Stille

wisse um die ursprüngliche Quelle.

Es gibt kein Ding; wen sonst suchst du?

Wahre Beständigkeit sollte den Menschen antworten;

wer den Menschen antwortet, muss sich vor Wirrnis hüten.

Gerätst du nicht in Verwirrung, so ist deine Natur von selbst gefestigt;

ist deine Natur gefestigt, so kehrt die Energie von selbst zurück.

Kehrt die Energie zurück, bildet sich spontan das Elixier

im Tiegel, in dem du Wasser und Feuer paarst.

Yin und Yang steigen auf

und folgen aufeinander in ununterbrochenem Wandel;

überall lassen sie den Donnerschlag erschallen.

Weisse Wolken sammeln sich auf dem Gipfel,

süsser Tau benetzt den Polberg.

Du hast selbst vom Wein des Langen Lebens getrunken

und streifst frei umher; wer könnte dich erkennen?

Du sitzt und lauschst der Musik der saitenlosen Zither

und verstehst klar das Wirken des schöpferischen Wandels.

Die Gesamtheit dieser zwanzig Zeilen

ist eine Leiter, die geradewegs in den Himmel führt.

(Drei Schätze des Dao, S. 96)

 

 

 

Der Bär und Herr C

Ich möchte mal wieder eine kleine Geschichte aus der Literatur einflechten, die das Handeln aus denkendem Geist und das Handeln aus ursprünglichem Geist, schön darstellt: Herr C befindet sich auf einer Reise durch Russland, trifft dort auf den Sohn eines Edelmanns, der sich im Fechten übt. Herr C gewinnt einen Kampf gegen den Sohn. Herr C erzählt in der Ich-Form: "Halb scherzend, halb empfindlich, sagte er, indem er das Rapier aufhob, dass er seinen Meister gefunden habe: doch alles auf der Welt finde den seinen, und fortan wolle er mich zu dem meinigen führen. Die Brüder lachten laut auf, und riefen: Fort! fort! In den Holzstall herab! und damit nahmen sie mich bei der Hand und führten mich zu einem Bären, den Herr v. G. .., ihr Vater, auf dem Hofe auferziehen liess.

Der Bär stand, als ich erstaunt vor ihn trat, auf den Hinterfüssen, mit dem Rücken an einem Pfahl gelehnt, an welchem er angeschlossen war, die rechte Tatze schlagfertig erhoben, und sah mir ins Auge: das war seine Fechterpositur. Ich wusste nicht, ob ich träumte, da ich mich einem solchen Gegner gegenüber sah; doch: stossen Sie! stossen Sie! sagte Herr v. G. ...., und versuchen Sie, ob Sie ihm eins beibringen können! Ich fiel, da ich mich ein wenig von meinem Staunen erholt hatte, mit dem Rapier auf ihn aus; der Bär machte eine ganz kurze Bewegung mit der Tatze und parierte den Stoss. Ich versuchte ihn durch Finten zu verführen; der Bär rührte sich nicht. Ich fiel wieder, mit einer augenblicklichen Gewandtheit, auf ihn aus, eines Menschen Brust würde ich ohnfehlbar getroffen haben: der Bär machte eine ganz kurze Bewegung mit der Tatze und parierte den Stoss. Jetzt war ich fast in dem Fall des jungen Herrn v. G. ... Der Ernst des Bären kam hinzu, mir die Fassung zu rauben, Stösse und Finten wechselten sich, mir triefte der Schweiss: umsonst! Nicht bloss, das der Bär, wie der erste Fechter der Welt, alle meine Stösse parierte; auf Finten (was ihm kein Fechter der Welt nachmacht) ging er gar nicht einmal ein: Aug in Auge, als ob er meine Seele darin lesen könnte, stand er, die Tatze schlagfertig erhoben, und wenn meine Stösse nicht ernsthaft gemeint waren, so rührte er sich nicht."

(Heinrich von Kleist: Über das Marionettentheater, S. 91)

Das Agieren des Bärs ist das, was das Handeln aus dem Grunde des Nicht-Handelns (Wu Wei) genannt wird. Im Deutsch-Chinesischen Wörterbuch ist der Begriff Ling Xing zu finden. Ling Xing bedeutet soviel wie: Klugheit der Tiere, Intelligenz der Tiere. Das Handeln des Bärs ist keinem zwischengeschaltetem Denken unterworfen. Er handelt direkt, unbewusst, natürlich. An diesem Punkt wäre es interessant, die Kampfkünste in ihrer ursprünglichen Tiefe zu betrachten. Die Kampfkünste als Weg (Bushido). Dieses Bushido hat nichts gemein mit den Kampfkünsten, wie sie im Westen so oft betrieben werden, als Sport.

Aber das sprengt den Rahmen dieser Arbeit.

 

 

 

 

 

 

Sitzen und Vergessen

Die Methode des Sitzens und Vergessens, die Praxis des Daoismus und des Chan (Zen) Buddhismus kurz skizziert: Man sitzt auf einer Unterlage, auf einem Kissen, so dass das Becken angehoben ist und sich leicht nach vorne kippt. Die Beine sind vorne übereinandergeschlagen, die Knie sind fest am Boden. Die Wirbelsäule wird von unten her aufgerichtet. Die Augen ruhen vorne am Boden, ohne etwas besonderes anzuschauen. Die Hände liegen in einer bestimmten Haltung in der Nähe des Unterbauchs. Das Denken kommt und geht, zieht vorbei wie Wolken am Himmel; es ist auf nichts gerichtet. Die Atmung ist frei fliessend, mit einer leichten Betonung auf der Ausatmung in den Bauch. Der 'geistige Blick' ist nach innen gerichtet.

 

 

 

 

 

Die Ling-Punkte und die sitzende Haltung

Die Ling-Punkte: Herz 2 - Qing Ling

Herz 4 - Ling Dao

Du Mai 10 - Ling Tai

Niere 24 - Ling Xu

Gallenblase 18 - Cheng Ling

Begriffe wie Ling, Dao, Shen sind letztendlich eins. Es ist die Benennung einer unmittelbaren Erfahrung der Praxis (Sitzen und Vergessen). Diese ist durch den menschlichen Geist in ihrer Tiefe nicht zu beschreiben. In Übersetzungen wird immer wieder der Versuch gemacht, diese Erfahrung als Philosophie zu sehen und zu umschreiben. Das grosse Problem unseres rationalen Verstandes, der alles erklären will, und speziell unseres westlichen, naturwissenschaftlich forschenden Geistes ist es zu sehen und zu akzeptieren, dass da etwas ist, was über ihn selbst hinausgeht. Für Dao gibt es unterschiedliche Versuche der Übertragung in die deutsche Sprache: Weg, Vernunft, Wort, Sinn, Wahrheit, und dgl. mehr. Ich benutze ursprünglicher Geist (wie bereits ausgeführt), bzw. cosmic order (ein Begriff, den Taisen Deshimaru Roshi geprägt hat). So werde ich nicht die einzelnen Ling-Punkte auf mögliche Deutungen hin kommentieren, sondern sie in einem Zusammenhang betrachten: Die Ling- und Shen-Punkte in der zuvor beschriebenen Haltung des Sitzens.

Beim Sitzen kommt die Kraft zum Aufrichten der Wirbelsäule aus dem unteren Teil der Wirbelsäule, aus Mingmen (Du Mai 4), dem Tor der Vitalität, dem Lebenstor. Ein Tor ist immer offen. Es ist an dem Menschen selbst, hindurchzugehen, die ursprüngliche Energie (Yuan Qi) fliessen zu lassen - ins Leben treten. An diesem Punkt beginnt der Weg zur Menschwerdung, zur Verwirklichung der menschlichen Natur. Das trifft auf die körperliche Entwicklung zu: "Ming Men ist die erste Struktur, die sich im Keim entwickelt, es ist das Tor, durch das unser Yuan Qi ein- und ausgehen kann, um die embryonale Entwicklung zu organisieren." (Udo Lorenzen:Reflexionen über Ming Men in: Der Heilpraktiker und Volksheilkunde 3/2000, S. 72) Und ebenso trifft es auf die geistige Entwicklung zu, Körper und Geist sind nicht getrennt, sind eins: In der aufrechten Haltung! Das, was aufrecht ist, verbindet Himmel und Erde (Sitzen: Stütze den Himmel mit dem Kopf und verankere Sitzbein und Knie in der Erde).

Als höchsten Punkt (das Schädeldach) des aufgerichteten Menschen kennen wir Du Mai 20, Bai Hui. Hier fliessen alle Yang-Leitbahnen zusammen. Verbinde die Ohrspitzen in einer Linie über dem Schädel, im Schnittpunkt mit der Schädelmittellinie liegt Bai Hui. Auf der Hälfte zwischen Ohrspitze und Mittellinie liegt Gallenblase 18, Cheng Ling. Cheng hat Bedeutungen wie tragen, auffangen, übernehmen. Das Dach des Menschen trägt den Himmel und ist dadurch mit ihm verbunden, er nimmt die himmlischen Einflüsse auf; sie sind in ihm, durch gemeinsames Sein. In der aufgerichteten Haltung lebt der Mensch automatisch, natürlich aus dem Dao; das Shen, das Ling sind in ihm, die Verbindung Erde-Mensch-Himmel ist natürlich gegeben.

Auf dem Rücken, zwischen den Schulterblättern, unterhalb des dritten Brustwirbelkörpers, gibt es den Punkt Du Mai 12, Shen Zhu (Körperpfeiler, Körpersäule, Säule des Menschen). Du Mai 12 ist wie ein Pfeiler, an dem der ganze Brustkorb nebst Armen und Schultern aufgehängt ist. Ist eine aufgerichtete Bewusstheit in diesem Punkt, so ist der Brustkorb offen, die Atmung ist nicht blockiert und der Oberkörper kann frei schwingen.

Zwei Wirbelkörper unter Du Mai 12 liegt Du Mai 11, darunter Du Mai 10, darunter Du Mai 9. Eine Konzentration von ursprünglichem Geist: Du Mai 11, Shen Dao; Du Mai 10, Ling Tai; Du Mai 9, Zhi Yang.

Shen Dao ist die Natur des Shen an sich.

Ling Tai: Tai wird übersetzt mit Terrasse, gehobener Platz. Es ist der Ort, an dem das Sitzen stattfindet, der aus der Welt gelöste Ort, der gehobene Platz. Sitzen in aufrechter Haltung.

Zhi Yang: Äusserstes Yang, Erreichen des Yang, Aufgerichtetes Yang.

Diese drei Punkte sind in ihrer natürlichen Kraft wie der Sockel eines Pfeilers, einer Säule. Schaut man sich die natürlich aufgerichtete Wirbelsäule an, ist dieses die Stelle des Übergangs von oben nach unten. Alles von 'oben' fällt hier hinein und wird hier gehalten.

Ich möchte eine Reise ins I Ging machen. Setzen wir für Shen Dao einen Yang-Strich, als das geistigste (!?) von diesen dreien; für Ling Tai einen Yin-Strich als Yin-Aspekt zu Shen und für Zhi Yang ebenfalls einen Yin-Strich, weil noch mehr materialisiert als Ling, so bekommen wir das Trigramm Gen, das Stillehalten, der Berg. In der Übersetzung des I Ging von Richard Wilhelm steht dazu:

"Es ist Ruhe vorhanden, da die Bewegung ihr normales Ende erreicht hat. ... Die wahre Ruhe ist die, dass man stillehält, wenn die Zeit gekommen ist, stillezuhalten, und dass man vorangeht, wenn die Zeit gekommen ist, voranzugehen. Das Zeichen ist Ende und Anfang aller Bewegung. Wenn man die Bewegung zum Stillstand bringt, so verschwindet sozusagen das Ich in seiner Unruhe." (I Ging, S. 192,193) ---

Spielen wir ein bisschen weiter und setzen für Shen Dao einen Yang-Strich, für Ling Tai einen Yang-Strich, als Yang-Aspekt, weil mehr geistig als Zhi Yang, und für Zhi Yang einen Yin-Strich, so erhalten wir das Trigramm Sun, das Sanfte, der Wind, das Holz:

"In der Natur ist es der Wind, der die angehäuften Wolken auseinandertreibt und heitre Himmelsklarheit schafft. ....Eindringlichkeit erzeugt allmähliche und unscheinbare Wirkungen. Es soll nicht durch Vergewaltigung gewirkt werden, sondern durch ununterbrochene Beeinflussung." (I Ging S. 209)

Zum 'Sitzen und Vergessen' wird gesagt, es ist wie durch einen ganz leichten Nieselregen gehen, der nicht spürbar ist, und irgendwann (nach 9 Jahren mit dem Gesicht zur Wand, s. u.) spürst du, du bist nass. --- Und als drittes setzen wir für Shen Dao einen Yang-Strich, für Ling Tai einen Yang-Strich und für Zhi Yang einen Yang-Strich und bekommen das Trigramm Qian, das Schöpferische, der Himmel:

"Die ungeteilten Striche entsprechen der lichten, starken, geistigen, tätigen Urkraft. Das Zeichen ist ganz einheitlich stark in seiner Natur. Da ihm keinerlei Schwäche anhaftet, ist es seiner Eigenschaft nach die Kraft. Sein Bild ist der Himmel." (I Ging S. 25/26)

Das Schöpferische, der Himmel, ist da; diese Perle ist in jedem Menschen, in allem Sein. Richte die Wirbelsäule auf, so wird die himmlische Kraft, wenn die Zeit reif ist, durchdringen. Es ist schon interessant zu sehen, wie in diesen drei Punkten eine Entwicklung beschrieben ist und dass das 'Ziel' bereits im 'Beginnen', d. h. sich nur in diese Haltung begeben, enthalten ist.

Auf der Körpervorderseite, direkt am Herzen, liegen die Punkte Niere 23, Shen Feng; Niere 24, Ling Xu; Niere 25, Shen Cang.

Shen Feng: Siegel des Shen, das Shen ist versiegelt, geschützt. Ein Siegel trägt etwas Besonderes, schützenswertes in sich. Siegel, das Pericard, der Beschützer des Herzens.

Ling Xu: Xu ist Leerheit, der Urgrund, die Quelle aller Erscheinungsformen. Leerheit wird Form, Form wird Leerheit. Leerheit ist Form, Form ist Leerheit. (s.o.)

Shen Cang: Speicher des Shen; der Ort, wo Shen gehortet wird; eine Fülle an Shen.

Diese drei Pinkte liegen direkt am Herzen: Speicher, Urgrund, Siegel. Auch hier setzen wir drei Yang-Striche und kommen wieder zu dem Trigramm Qian, das Schöpferische, der Himmel. So erhalten wir vor dem Herzen Qian und auf der Rückseite Qian, hinter dem Herzen. Das Herz ist von Shenpunkten umgeben; es ist in die Shenpunkte eingebettet.

Zusammenfassend wird sichtbar, dass der Mensch in der aufgerichteten Haltung seine geistige Natur verwirklicht. "Mit 'Sitzen' ist nicht das körperliche Sitzen gemeint; es bedeutet vielmehr, dass der Geist ruhig ist und der Intellekt seine Aktivität eingestellt hat. Es ist ein Sitzen in unbewegter Unerschütterlichkeit." .... "Der Weg, die Essenz zu vervollkommnen, ist das Werk der '9 Jahre mit dem Gesicht zur Wand'. Wenn wir von 9 Jahren sprechen, so meinen wir nicht wirklich eine Periode von 9 Jahren. Die 9 ist die Zahl des reinen Yang. Es ist damit die neunfache Wiederherstellung der goldenen Flüssigkeit gemeint, wodurch das Weltliche sich erschöpft und das Himmlische vollkommene Reinheit erlangt." (Drei Schätze des Dao, S. 289)

Interessant ist auch folgende Sichtweise: Ling als Yin-Aspekt zu Shen; Ling, die Wirkkraft des Shen. Daraus ergibt sich dann das Trigramm , Li, das Haftende, das Feuer. Feuer ist dem Herzen als Wandlungsphase zugeordnet. I Ging:

"Das Feuer hat keine bestimmte Gestalt, sondern haftet an den brennenden Dingen und ist dadurch hell. ... Alles Leuchtende in der Welt ist abhängig von etwas, an dem es haftet, damit es dauernd leuchten kann. ... So haftet die Klarheit des berufenen Menschen am Rechten (am Dao) und vermag dadurch die Welt zu gestalten. (Sich selbst gestalten zu lassen.)..... Indem der Mensch, der bedingt und nicht unabhängig dasteht in der Welt, diese Bedingtheit anerkennt, sich abhängig macht von den harmonischen und guten Kräften des Weltzusammenhangs, hat er Gelingen. Die Kuh ist das Symbol der äussersten Fügsamkeit. Indem der Mensch diese Fügsamkeit und freiwillige Abhängigkeit in sich pflegt, erlangt er Klarheit ohne Schärfe und findet seinen Platz in der Welt." (I Ging, S.122)

Zurück zu den Punkten in der sitzenden Haltung. Die Atmung fliesst frei in den Unterbauch, ins Hara, in den Punkt Ren Mai 6, Qi Hai, das Meer des Qi. In Ren Mai 6 findet eine grosse Ansammlung von Qi statt. Es gibt die Geschichte, dass in früherer Zeit Zen-Meister eine derart starke Konzentration von Qi im Hara hatten, dass ein Schrei, der aus dem Hara kam, einen Menschen töten konnte. In den Kampfkünsten wird der entscheidende Schlag oder Stoss am Ende der Ausatmung geführt, wenn die Qi-Konzentration am grössten ist. In der sitzenden Haltung werden die Hände vor dem Unterbauch in einer bestimmten Art und Weise gehalten. Die Punkte Herz 4, Ling Dao, und Herz 7, Shen Men, das Tor des Shen, und Ren Mai 6, Qi Hai, liegen dabei dicht beieinander. Die Pericard 8, Lao Gong, Punkte der rechten und linken Hand sind auf den Unterbauch, Ren Mai 6, gerichtet. In der Haltung mit übereinandergeschlagenen Beinen (Lotussitz), zeigen auch die Niere 1-Punkte, Yang Quan, Sprudelnde Quelle, in Richtung Unterbauch..

Herz 2: Qing Ling. Qing wird übersetzt mit blau, grün, jung, Jugend "In der daoistischen Alchimie ist Qing häufig ein Synonym für Shen." (Noll, Lorenzen: Feuer S. 248), also auch hier ursprünglicher Geist.

Betrachten wir die sitzende Haltung einmal als Raum, so sieht man das Bild eines Ei, wobei die Ling-Punkte ganz wesentliche 'Eckpunkte' bilden: Oben (Gb 18: Cheng Ling), Unten (Herz 4: Ling Dao); Vorne (Ni 24: Ling Xu); Hinten (Du Mai 10: Ling Tai); Seiten (Herz 2: Qing Ling). Eine in sich harmonisch geschlossene Haltung.

 

Ling, Behandler und Nadel

Was hat das nun alles mit Akupunktur, mit den Nadeln zu tun?

Dazu noch einmal Larre/Rochat de la Vallee: "We know that before being called the Ling Shu, this collection of chapters was called 'The Classic of the Needles', or 'The Needle Classic', and there are other names as well. They all revolve around this notion of the needle. ..... This seems to indicate that the name Ling Shu could also refer to the needle in that the needle can be like an intermediary or pivot which allows opening and closing and communication, and once this communication is established then the influences can pass through. They can pass either between the doctor and his patient or perhaps the doctor himself is just a pivot like the needle. At that moment the celestial influences, which are called Ling, the power of life, the power of Heaven, can return once more to the patient. This power of Heaven can penetrate the patient through this intermediary, and this is what is necessary to re-establish an equilibrium that has been disturbed, because in a human being who is endowed with reason, reflection, and who contains within himself the most subtle Spirits that exist on Earth, any disturbance will go to that which is most subtle and most refined. And the most subtle things are the Spirits, Shen.

The Spirits is a term that can be very generally used to indicate everything that is the power of life in that human being, but which is without form. Spirits barely even have the form of Breaths. With everything that has form, which can be touched or seen etc. we can see what is behind." (The HEART in Ling Shu Chapter 8, S. 5/6)

"Wir wissen, dass das Ling Shu vorher 'Klassiker der Nadeln' hiess und auch andere Namen hatte. Alles dreht sich um das Tun der Nadel. ... Das deutet darauf hin, dass der Name Ling Shu sich auch auf die Nadel beziehen lässt. Die Nadel kann ein Vermittler, so etwas wie ein Drehpunkt gleich einer Türangel sein, die Öffnen und Schliessen erlaubt, möglicherweise eine Übereinstimmung, ein Zusammenkommen von Mensch und Shen, so dass die himmlischen Einflüsse, die Lebenskraft ungehindert fliessen kann. Sie können fliessen zwischen Behandler und Patient, oder der Behandler selbst wird zur Türangel wie die Nadel. In diesem Moment können die himmlischen Einflüsse, die Ling genannt werden, die Lebenskraft, die himmlische Kraft wieder mehr zum Patienten zurückkehren. Diese himmlische Kraft kann durch den Vermittler in den Patienten eindringen, und das ist notwendig, um wieder ein Gleichgewicht im menschlichen Sein zu errichten, das gestört wurde. Das menschliche Sein ist mit Verstand und Denken ausgestattet. Es beinhaltet den feinstrukturiertesten Geist, den es auf Erden gibt und jede Störung geht dorthin, wo das verfeinertste ist. Und das verfeinertste ist der Geist, Shen.

Geist ist ein Ausdruck, der generell für alles benutzt werden kann, was darauf hinweist, welche Lebenskraft, die formlos ist, in diesem Menschen ist. Geist hat kaum die Form von Atem. Durch alles, was Form hat, was wir anfassen können, wird sichtbar, welche Lebenskraft dahinter ist."

"Was wir 'ICH' nennen,

ist nichts als eine Drehtüre,

die sich bewegt,

wenn wir ein- und ausatmen."

(Suzuki Roshi: Zen Geist - Anfänger Geist, S. 29)

 

 

Enden möchte ich mit den Worten eines westlichen, doch universellen Dichters:

Johann Wolfgang von Goethe

Eins und Alles

Im Grenzenlosen sich zu finden,

Würd gern der Einzelne verschwinden.

Da löst sich aller Überdruss;

Statt heissem Wünschen, wildem Wollen,

Statt läst'gem Fordern, strengem Sollen,

Sich aufzugeben ist Genuss.

Weltseele, komm, uns zu durchdringen!

Dann mit dem Weltgeist selbst zu ringen

Wird unsrer Kräfte Hochberuf.

Teilnehmend führen gute Geister

Gelinde leitend, höchste Meister,

Zu dem, der alles schafft und schuf.

Und umzuschaffen das Geschaffne

Damit sich's nicht zum Starren waffne,

Wirkt ewiges lebendiges Tun.

Und was nicht war, nun will es werden,

Zu reinen Sonnen, farbigen Erden,

In keinem Falle darf es ruhn.

Es soll sich regen, schaffend handeln,

Erst sich gestalten, dann verwandeln;

Nur scheinbar steht's Momente still.

Das Ewige regt sich fort in allem:

Denn alles muss in Nichts zerfallen,

Wenn es im Sein beharren will.

 

Literaturverzeichnis

Claude Larre / Elisabeth Rochat de la Vallee: The HEART in Ling Shu Chapter 8

Thomas Cleary (Herausgeber): Die drei Schätze des Dao

I Ging: übersetzt von Richard Wilhelm

Shunryu Suzuki Roshi: Zen Geist - Anfänger Geist

Erika Kretschmann, Kiel: Betrachtungen über die Philosophie des Lao Tse

(Diplomarbeit)

Swami Rama: Ein Leben mit den Meistern des Himalaya

Reshad Feild: Ich ging den Weg des Derwisch

Heinrich von Kleist: Über das Marionettentheater

Taisen Deshimaru Roshi: Fragen an einen Zen Meister

Sekito Kisen Roshi: Sandokai (Kommentar von T. Deshimaru Roshi)

Doug Boyd: Rolling Thunder

Lao Tse: Tao te king (Kommentar von Richard Wilhelm)

Antoine de Saint-Exupery: Wind, Sand und Sterne

Fritjof Capra: Wendezeit

Udo Lorenzen, Andreas Noll : Die Wandlungsphasen der traditionellen chinesischen

Medizin, Band 4: Feuer