Reflexionen über Ming Men – das Lebenstor:

von Udo Lorenzen

 

Allgemeines:

Das Konzept von Ming Men= das Lebenstor ist im Klassiker der Schwierigkeiten, dem Nanjing (ca. um die Jahrhundertwende) erstmals entwickelt und ausführlicher dargestellt worden. Im 36. Kapitel heißt es:

"Jedes der Zang-Organe ist einzeln vorhanden, nur die Nieren sind doppelt. Wie kommt das?

Es ist folgendermaßen: Die zwei Nieren sind nicht beides Nieren, sondern nur die auf der linken Seite ist die Niere, das Organ auf der rechten Seite heißt Ming Men, das Lebenstor. Ming Men ist der Ort, an dem das Jing Shen zuhause ist. Es ist der Ort, an dem das Yuan Qi verankert ist. Beim Mann ist hier der Samen gespeichert, bei der Frau der Uterus. Also weiß man, daß es nur eine Niere gibt!"

In diesem kurzen Kapitel werden verschiedene Konzepte vom Verfasser des Nanjing eingeführt, die den dogmatischen Verfechtern des originalen Medizin-Klassikers Neijing bis heute viel Kopfzerbrechen bereitet haben.

Weder im Lingshu noch im Suwen sind Hinweise auf eine Zweiheit der Nieren zu finden. Hier ist Ming Men nur ein anderer Ausdruck für den Punkt Bl 1 Jing Ming: "Das Qi der Blasen-Leitbahn hat seinen Ursprung am Punkt Bl 67 Zhi Yin und endet am Punkt Ming Men Bl 1" (Ling Shu, Kap.5).

Basierend auf der Tatsache, daß das Qi aller Zang Fu-Organe sich über das Leitbahnsystem in die Augen ergiessen, kann man durchaus die spätere Verlagerung von Ming Men zur rechten Niere nachvollziehen.

Das Yi Xue Ru Men lokalisiert das Ming Men noch klarer:

"Zwischen den Nieren und innerhalb der weißen Membran (der Faszien) gibt es einen kleinen Punkt mobiler Energie; es hat nur die Größe einer Sehnenspitze und regt doch die Qi-Umwandlung im ganzen Körper an! Es erhitzt den San Jiao, verdampft und wandelt Wasser und Getreide um, wehrt nach außen hin die 6 äußeren pathogenen Faktoren ab und reguliert im Inneren alle Angelegenheiten."

 

Im Laufe der Jahrhunderte hat sich sogar noch eine dritte Theorie gebildet, welche die linke Niere als Wasser-Niere, die rechte als Feuer- Niere definiert und Ming Men, das Lebenstor, in der Mitte beider Nieren lokalisiert.

Das Buch der Wandlungen Yijing verbindet dasTrigramm Kan, das Abgründige, mit dem Wasser.

"Kan das im Norden steht, hat als Symbol die Talschlucht. Wie das Wasser keine Mühe scheut, sondern sich immer der tiefsten Stelle zuwendet, weshalb ihm alles zufließt, so ist der Winter im Jahresablauf und die Mitternacht im Tagesablauf die Zeit der Sammlung. Kan hat als Bild das Wasser, das von oben kommt (aus einer Gebirgsquelle) und auf der Erde in Bewegung ist in Flüssen und Strömen und alles Leben auf Erden veranlaßt."

In Verbindung mit der klassischen chinesischen Medizin ist das Trigramm Kan auch ein Symbol für die Lebenspforte Ming Men:

 






 

Die kurzen Linien oben und unten verkörpern die beiden Nieren, der lange Yang-Strich in der Mitte symbolisiert das Lebensfeuer des Ming Men (Zhang Zhong Jing)

Basierend auf dem Trigramm Kan entstand die Theorie, Ming Men sei zu vergleichen mit Tai Ji, dem höchsten Einen. Von hier stamme das ursprüngliche Yang und das ursprüngliche Yin im Makrokosmos. Ming Men liege zwischen den Nieren und stelle so das Tai Ji des Mikrokosmos dar (Leijing).

Wasser und Feuer entstehen hier, sie sind die Quelle von Yin und Yang. Yin-Essenz von Ming Men ist dann das Wasser im Yin, Yang-Qi von Ming Men ist das Feuer im Wasser.

 

Schließlich hat Ming Men noch einen direkten Einfluß auf alle Zang Fu-Organe:

"Das Herz empfängt Ming Men und ist in der Lage, seinen richtungsweisenden Einfluß auszuüben;

die Leber empfängt Ming Men und kann strategisch planen;

die Gallenblase empfängt Ming Men und kann Entscheidungen treffen;

der Magen empfängt Ming Men und kann aufnehmen und verdauen;

die Milz empfängt Ming Men und kann umwandeln und weiterleiten;

die Lunge empfängt Ming Men und findet ihren natürlichen Rhythmus;

der Dickdarm empfängt Ming Men und schafft freien Durchgang und Führung;

der Dünndarm empfängt Ming Men und klärt das Reine vom Unreinen;

der San Jiao empfängt Ming Men und öffnet die Wasserwege;

die Blase empfängt Ming Men und speichert die Körperflüssigkeiten."

 

(Sui Xuan Mi Lu)

Es scheint, als ob ein flexibles Verständnis für die chinesische Medizin diese Vielfalt von Theorien und Konzepte akzeptieren kann. Im Laufe ihrer Geschichte hat es immer sich widersprechende und ergänzende Denkmodelle gegeben, die nebeneinander existierten und praktikabel waren. Für den Schüler der chinesischen Medizin sind sie oft verwirrend, für den geläuterten Praktiker dann aber eine unerschöpfliche Quelle an Möglichkeiten für Diagnose und Therapie.

Wir sollten deshalb heute nicht die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) als klassisch betrachten, sondern eher den Konzepten Aufmerksamkeit widmen, die durch die Maschen der eher analytisch orientierten TCM gefallen sind.

 

Bedeutung:

Was bedeutet nun Ming Men ?

Ming: ist der Wille des Himmels, eine Verfügung, Schicksal, Bestimmung und bezeichnet die festgelegte Lebensspanne. Ein Herrscher spricht und gibt seinem Untergebenen einem Befehl; er bekräftigt dies mit einem Siegel: ein durchgebrochenes Jadestück, von dem er die andere Hälfte zur späteren Einforderung der Schuld zurückhält. So diktiert der Wille des Himmels dem Menschen sein Schicksal zwischen Himmel und Erde (Wieger, L. 14 l)

Men: Tor, Tür, Eingang, Öffnung, Ventil; auch: Familie, Klasse, Kategorie; das Bild: eine zweiflügelige Schwingtür, die nach beiden Seiten geöffnet werden kann; das 169. Radikalzeichen; in kaum einem anderen Schriftzeichen ist das Bildhafte der chinesischen Zeichen so klar erkennbar wie in Men, das Tor. Men = das Tor kommt in vielen Punktenamen vor und bezeichnet immer einen ungehinderten Ein- und Ausgang für etwas.

Das Schicksal ruft den Menschen ins Leben, legt seine Lebensspanne fest und bestimmt seinen Todeszeitpunkt. Man könnte Ming Men als den natürlichen Eingang zum Leben und den Ausgang in den Tod bezeichnen, den Lebensspender und den Todesboten. Am Anfang, bevor sich ein Körper manifestiert, zu der Zeit, wo Vater und Mutter sich gerade vereinigen, verläßt der männliche Same dieses Tor (beim Mann) und empfängt die weibliche Eizelle durch dieses Tor (bei der Frau). Wenn der Fetus vollständig ist, wird er ebenfalls durch Ming Men geboren.

Ming Men ist der Ort, an dem die ursprüngliche Vitalität des Menschen verankert ist. Jing Shen, das Zusammenwirken von Essenz und Geist, Möglichkeit und tatsächliche Präsenz, ist hier zu Hause.

 

Ming Men in der embryonalen Entwicklung:

Jing Shen wohnt im Lebenstor Ming Men. Ming Men ist somit die erste Struktur, die sich im Keim entwickelt, es ist das Tor, durch das unser Yuan Qi ein- und ausgehen kann, um die embryonale Entwicklung zu organisieren.

Ming Men ist das Tor der Vollmacht des Himmels und die Empfangsstelle für den himmlischen Auftrag der Fortpflanzung. Durch dieses Tor wird der Mensch ins Leben gerufen. Diese Vollmacht für die irdische Existenz enthält alle Einzelheiten des Lebensloses oder des Karma, wie die Buddhisten sagen.

Ist der Anfang gesetzt, folgen als Koordinatoren die acht außerordentliche Gefäße Qi Jing Ba Mai. Man nennt sie auch "wundersame Gefäße," weil sie die Ursprünge der Embryonalentwicklung fundieren. Als große Straßen für das Yuan Qi bilden sie die treibene Kraft für die Gestaltung des Embryos. Neben der Formation der Ur-Strukturen werden über sie die Impulse für die Differenzierung der Feinstrukturen des Embryos gesetzt. Es sind acht Gefäße, weil die Zahl Acht (8) die magische Zahl für die Inkarnation des Geistes in den materiellen Körper darstellt. Sie bedeutet die Verewigung der Geburten und Wiedergeburten, sie ist das Emblem für die Organisation der Essenzen in der Tiefe des Mikrokosmos ebenso wie für die Zerstreuung der 8 Winde im Makrokosmos. Die liegende Acht ¥ ist das mathematische Zeichen für die Unendlichkeit, die 8 Trigramme des Yijing stellen die Zeichen des ewigen Wandels dar.

Zwischen Konzeption und Geburt vollzieht sich die embryonale Entwicklung als Übergang zweier Daseinsformen; nämlich die des Vorhimmels als Möglichkeiten der angeborenen Energien und die des späteren Himmels als tatsächliche Manifestation einer polaren Wirklichkeit, nach der Geburt. Das Bindeglied beider Daseinsformen sind eben diese acht Gefäße. Während der Schwangerschaft sind die Bai Mai die Agenten des Vorhimmels, sie verbreiten das Yuan Qi überall hin und legen das Fundament für alle weiteren Differenzierungen; nach der Geburt bilden sie als Speicherseen Reservoire von Qi und Blut = Energieformen des Nachhimmels.

Es gibt über den zeitlichen Ablauf des Auftretens und Wirkens der einzelnen Wundergefäße verschiedene Theorien in den chinesischen Medizinklassikern. Alle basieren jedoch auf der Anordnung der vorhimmlischen Ordnung der 8 Trigramme nach Fu Xi, wie sie ursprünglich im Buch der Wandlungen Yi Jing formuliert wurde:

 

Die embryonale Entwicklung gestaltet sich nun folgendermaßen:

"Von den acht Trigrammen her läßt sich der Prozess der Qi-Umwandlung des Embryos erkennen. In der Anfangsphase der Entwicklung ist der Fötus im 1. Monat nur ein bißchen Yang Qi, dies ist der Ursprung des Lebensprozesses Qian, der dem Chong Mai entspricht;

im 2. Monat wandelt sich das Qi in Flüssigkeit um, was Dui und dem Du Mai entspricht; im 3. Monat vermischen sich Qi und Flüssigkeiten und bilden Hitze, was Li und dem Ren Mai entspricht; im 4. Monat beginnt der Fötus sich zu bewegen im Einklang mit Zhen dem Donner und Dai Mai dem Gürtelgefäß; im 5. Monat beginnt der Fötus seine eigene embryonale Atmung zusammen mit der mütterlichen Atmung; dies kommt zusammen mit Sun und dem Yang Wei Mai; im 6. Monat wird das Fruchtwasser ausreichend; dies entspricht Kan und dem Yang Qiao Mai; im 7. Monat entwickeln sich Magen und Eingeweide entsprechend Genund dem Yin Wei Mai; im 8. Monat werden Muskeln, Fleisch und Bindegewebe geformt, dies entspricht Kun und dem Yin Qiao Mai./P>

(aus: Yi Yi Xiang Jie, Ming-Dynastie)

Das ursprüngliche Qi der Essenzen (Yuan Qi) verläßt durch das Ming Men die höchste Einheit (Tai Yi) und manifestiert sich als Chong Mai individuell und doch All-umfassend im Kopfe als ursprünglicher Geist (Yuan Shen). Das höchste Eine polarisiert sich in Zwei, Du Mai für das Ur-Yang, Ren Mai für das Ur-Yin. Beide entfachen den himmlischen Kreislauf, und lassen Feuer und Wasser, Kan und Li im Embryo zirkulieren. Damit sich die Polarität von Oben und Unten vollenden kann, braucht es den Dai Mai, der den noch eiförmigen Corpus in der Mitte wie ein Gürtel einschnürt und teilt. Die erste und wichtigste Differenzierung ist nun vollzogen, der Raum ist aufgeteilt für weitere, feinere Ausbildungen des Körpers. Chong, Du, Ren und Dai Mai formen in dieser Reihenfolge die grundlegende Gestalt des Embryos und werden deshalb als "Wundergefäße der 1. Generation bezeichnet. Um ihre Aktivitäten im begrenzten Raum überallhin ausüben zu können, brauchen sie zusätzliche Bahnen, deren Verzweigungen sich in die Peripherie und ins tiefste Innere erstrecken.

So entstehen die "Wundergefäße der 2. Generation, die Wei- und Qiao Mai-Gefäße. Das Yang will sich nach oben und außen bewegen, Yang Qiao Mai setzt es in Bewegung; das Yang muß seine Grenzen finden, Yang Wei Mai setzt sie in Form eines flexiblen energetischen Netzes. Das Yin will nach Unten und Innen gehen, Strukturen bilden und nähren; Yin Qiao Mai gibt ihm die Führung; das Yin muß sich sammeln, ernähren und die Formen erhalten; Yin Wei Mai hält es in Form eines dichten struktiven Netzes im Inneren fest.

Was hier auf der embryonalen Ebene stattfindet ist die Fundierung des Menschens in seiner Entwicklung des Vorhimmels (Xian Tian). Nach der Geburt treten die Wundergefäße in ihrer Aktivität zurück und überlassen es dem Nachhimmel (Hou Tian), für das Wohl des Individuums zu sorgen.

In der Tiefe wachen die Qi Jing Ba Mai jedoch weiterhin über die Gesundheit und treten immer dann in Aktion, wenn das Leben ernsthaft gefährdet ist. Durch das Öffnen ihrer Schlüsselpunkte können wir dann ein gewaltiges Potential an Qi, Blut, Yin oder Yang freisetzen, um grundlegende Schwächen und Leerezustände zu beheben. Die abschließende Nadelung der Kopplungspunkte bewirkt, das dieser Prozess sich maßvoll vollzieht und einen Abschluß findet.

 

  1. Paar: Dü 3 öffnet den Du Mai als Yang-Reservoir, Bl 62 hilft, das Yang optimal zu verteilen;
  2. Paar: Lu 7 öffnet den Ren Mai als Yin-Resevoir, Ni 6 hilft, das Yin optimal zu verteilen;
  3. Paar: Mi 4 öffnet den Chong Mai als Blut-Reservoir, P 6 hilft, das Blut im Inneren optimal zu vernetzen;
  4. Paar: Gbl 41 öffnet den Dai Mai als Qi-Regulator, SJ 5 hilft, das Qi an der Außenseite optimal zu vernetzen.
P ALIGN="JUSTIFY">Als ob geheime Schleusen geöffnet werden, kann auf die Weise ein grundlegender Mangel behoben werden. Die Veränderung ist für den Therapeuten besonders am Puls erkennbar, der sich qualitativ verbessert. Der Patient empfindet eine Behandlung über die Wundergefäße oft wie ein "Wunder" und beschreibt seine Veränderungen als gravierend!

Das Jing der Erde reagiert mit dem Shen des Himmels und erzeugt ein Drittes, Qi, eine richtungsweisende Kraft. Diese ursprüngliche Polarität von Himmel und Erde ist es, die im Lebenstor wohnt und unser Leben konstituiert! Sie ist die Grundlage für alle energetischen Konstellationen im Makrokosmos wie auch im Mikrokosmos. Sie ist die Voraussetzung für die Zeugung, Geburt, Leben und Tod des Menschen, sie ist die Mutter aller Wesen

Ausdruck eines gesunden Jing Shen ist die spontane, fließende Bewegung, die mühelos wirkt und Vitalität ausdrückt. Sie geschieht ohne Absicht und kommt der Idee des Dao, Wu Wei, sehr nahe. Wenn wir in ein Konzert gehen und der Interpret ist voller Jing Shen, so wird er uns mit seiner Musik verzaubern und unser Innerstes berühren. Dasselbe passiert bei dem Bild eines Malers, der sich selbst verwirklicht hat und dessen Kunst uns dadurch inspiriert. Ebenso wie bei einem Redner, dessen Worte uns ergreifen und mitreißen. Wo immer wir das Jing Shen des Anderen spüren, fühlen wir mühelose Leichtigkeit, Lebendigkeit und feurige Präsenz.

 

Therapeutische Überlegungen:

Ming Men ist der Ort, an dem die ursprüngliche Energie, das Yuan Qi, verankert ist. Wie schon oben erwähnt, ist das Yuan Qi der aktive Aspekt des angeborenen Vermögens Xian Tian Zhi Jing, also aktivierte Erbenergie.

Das 66. Kapitel des Nan Jing diskutiert Verteilung und Konzentration der ursprünglichen Energie. Dort heißt es:

"Warum werden die Shu-Punkte, in denen das Qi des San Jiao anhält, Ursprung genannt?

Es ist folgendermaßen: Das Qi, das unterhalb des Nabels und zwischen den Nieren aktiv ist, macht des Menschen Lebensspanne aus. Es ist die Quelle und die Grundlage der zwölf Leitbahnen. Deshalb nennt man diese Qi Yuan (ursprüngliches) Qi. Der San Jiao ist ein besonderer Bote, der das Yuan Qi vermittelt. Er ist verantwortlich für den Durchgang der drei Qi durch die Zang Fu-Organe.

Ursprung ist eine besonders noble Bezeichnung für den San Jiao. Deshalb nennt man die Orte, an denen sein Qi anhält, den Ursprung. Wann immer die 5 Zang oder die 6 Fu des Menschen erkranken, wählt man für die Behandlung deren Yuan-Punkte.

Das Yuan Qi ist die Quelle, der Zündfunken gewissermaßen, für das Qi aller zwölf Hauptleitbahnen. Die Verteilung der impulsgebenden Kraft des Yuan Qi obliegt dem San Jiao, der deshalb ein besonderer Bote für die Qi-Verteilung genannt wird.

Auf seinem Weg durch die zwölf Leitbahnen pausiert der Bote an den Shu-Punkten, die dem dritten antiken Punkt entsprechen; einer Stromschnelle vergleichbar, in der schon ein großes Potential vorhanden ist. Sie werden deshalb auch Ursprungs-Punkte genannt, weil hier die Energie wie aus einer Quelle unerschöpflich zu sprudeln scheint.

In den Yin-Leitbahnen finden wir außerdem in diesen Punkten auch konzentrierte Erde und damit erworbenes Vermögen vor. Deshalb empfiehlt das Nanjing die Nadelung dieser Punkte bei allen Erkrankungen der Zang Fu-Organe, das Lingshu hingegen nur bei den Störungen der Zang (vergl. Ling Shu, Kap. 1). So erklärt sich auch das breite Wirkspektrum der Yuan-Punkte in den klassischen Indikationen dieser Punkte.

So gesehen wäre die Akupunktur eigentlich eine einfache und sichere Therapie. Man bräuchte nur die Yuan-Punkte zu nadeln und der Organismus käme ins Gleichgewicht. Nach den Klassikern erscheint es so. Wir müssen uns aber auch darüber im klaren sein, daß wir aus dem Ursprung schöpfen, d.h. Erbenergie aktivieren, wenn wir die Yuan-Punkte nadeln.

Wie schon erwähnt, ist das angeborene Vermögen nicht wieder auffüllbar. Es ist ein Grundkapital, mit dem man wuchern, aber auch sparsam umgehen kann. Das alleinige Akupunktieren der Yuan-Punkte geht an die Reserven und kann sie vorzeitig erschöpfen. Im schlimmsten Fall verkürzen wir damit die Lebenserwartung des Patienten!

Deshalb sind die Yuan-Punkte keine Allheilpunkte und schon gar nicht in jeder Behandlung (womöglich 3 x die Woche) zu nehmen!

Bei chronischen Krankheiten können die Yuan-Punkte einen Impuls setzen, der den erschöpften Mechanismus eines Organs wieder ankurbeln kann; vorher unkontrollierte Schwäche und sich vergeudende Kraft wird nun gebündelt und zielgerichtet eingesetzt. So macht es Sinn, die Yuan-Punkte als Katalysatoren einzusetzen. Wenn die "Maschine dann wieder besser arbeitet, folgen andere Punkte, die mehr auf das erworbene Vermögen abzielen. Die Methoden der Mutter-Kind-Regel, der Mu-Shu-Methode oder auch der Xi-Spalt-Punkte stimulieren nachhimmlisches Qi, um ein Gleichgewicht herzustellen.

Die massive und häufige Nadelung der Yuan-Punkte kann den Zustand des Patienten nach anfänglicher Besserung wieder verschlimmern. So kann die durchaus gutgemeinte Wiederholung von Lu 9 Tai Yuan die Lunge zu heiß werden lassen und das Yin konsumieren: è Leere-Hitzezeichen wären die Folge. Eben solches kann beim Herzen, in der Leber und in der Niere passieren, besonders, wenn wir die Funktionen auf dem Boden einer schwachen Yin-Substanz anheizen wollen. Diese Möglichkeit einer Verschlimmerungsreaktion ist vermeidbar und sollte nicht mit der Aktivierung von Prozessen verwechselt werden, die von innen nach außen, den Gesetzen des Shang Han Lun folgend, passieren!

Dem armen Patienten dies als Heilungsprozess zu verkaufen, ist zynisch und unlauter.

 

Resumee:

Ming Men beschreibt eine grundlegende Funktion in der chinesischen Medizin. Sie ist nicht nur ein Aspekt der Feuer-Niere, auch nicht nur das Bindeglied der zwei Nieren und schon gar nicht nur der Punkt Du Mai 4 vom Wundergefäß Du Mai .

Ming Men stellt eine grundlegende energetische Struktur dar, die, einem himmlischen Auftrag vergleichbar, unser ganzes Leben begleitet und auch unseren Tod festlegt. Schicksalshaft werden wir durch Ming Men geboren, gnadenlos sterben wir, wenn das letzte Quentchen Essenz verausgabt ist. Es liegt nun an uns, ob wir unsere Lebensspanne vollständig erfüllen oder frühzeitig sterben durch exzessive Verhaltensweisen, die das Jing vorzeitig verbrauchen.

Es ist nicht Zufall, daß in einem der ältesten chinesischen Klassikern, dem Buch der Riten Li Ji, unter dem Glück, das dem Menschen verheißen ist, auch das steht, daß er einen Tod findet, der das Leben krönt, seinen Tod.

Und daß unter dem Unglück, das den Menschen bedroht, das schlimmste ein unzeitiger Tod ist, ein Tod, der das Leben zerreißt, statt es zu vollenden.

Auszug aus: Lorenzen/Noll: "Die Wandlungsphase Wasser", aus der Reihe: Die Wandlungsphasen der traditionellen chinesischen Medizin, Band 5