Diplomarbeit

 

 

 

Ausbildungszentrum Nord

 

für klassische Akupunktur

und Traditionelle Chinesische Medizin

 

 

 

 

 

 

 

Die Auswirkungen der modernen westlichen Gesellschaft auf die Niere aus der Sicht der chinesischen Medizin

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

eingereicht von Eric Meyer

am 10. Mai 2007

 

Inhaltsverzeichnis

 

1. Einführung. 3

2. Definition/Aufgaben der Niere aus Sicht der chinesischen Medizin. 5

2.1 Die Nieren speichern Jing. 7

2.2 Die Nieren produzieren das Mark. 11

2.3 Die Nieren beherrschen das Wasser 11

2.4 Die Nieren empfangen das Qi 12

2.5 Die Nieren öffnen sich in den Ohren. 15

2.6 Die Nieren manifestieren sich im Haar 15

2.7 Die Nieren kontrollieren die unteren beiden Yin (Anus und Urethra) 16

2.8 Die Nieren beherbergen Zhi, den Willen. 17

2.9 Die Emotionen der Niere. 18

2.9.1 Angst 18

2.9.2 Schock. 19

3. Optimales Verhalten zum Erhalt der Niere. 19

3.1. Lebensführung. 22

3.2. Ernährung. 26

4. Exemplarische Darstellung von Stressfaktoren. 28

4.1. Stress im Alltag. 29

4.2. Übersteigerte Libido. 31

4.3. Perspektivlosigkeit und Existenzängste. 32

5. Ausdrucksformen der Nierenerkrankungen. 35

5.1. Burnout-Syndrom.. 36

5.1.1 Fallbeispiel 38

5.2. Impotenz. 40

5.2.1 Fallbeispiel 42

6. Ausblick. 44

7. Literaturverzeichnis. 44

 


1. Einführung 

 

Ich möchte mit dieser Arbeit den Zusammenhang zwischen der Lebensweise der modernen westlichen Gesellschaft und deren Auswirkungen auf unser Speicherorgan Niere unter beispielhafter Berücksichtigung von verschiedenen typischen Lebenssituationen erläutern. Ich werde an den entsprechenden Stellen die theoretischen Grundlagen der chinesischen Medizin knapp anreißen, damit sich auch interessierte Leser ohne fundierte Sachkenntnis mit dieser Arbeit auseinandersetzen können. Um diesen Text leichter lesbar zu machen, werde ich in allgemeinen Aussagen ausschließlich die männliche Form verwenden. Gemeint sind aber, sofern nicht anders vermerkt, immer beide Geschlechter.

 

Heutzutage gibt es viele Faktoren, die sich negativ auf den Menschen und seine Umgebung auswirken. Durch den multifaktoriellen Wandel in unserer Gesellschaft bieten sich den Menschen nicht nur immer mehr Chancen, sondern es besteht auch eine ständig wachsende Gefahr, in dieser Vielfältigkeit die Orientierung und letztendlich sich selbst zu verlieren. Der Soziologe Ulrich Beck spricht in diesem Zusammenhang von der „Risiko-Gesellschaft“ (vgl. Beck 1986). Während es noch im 19. Jahrhundert als selbstverständlich angesehen wurde, dass der Bäckersohn das Geschäft des Vaters übernehmen würde und der Sohn eines Akademikers die Gelehrtenschule besuchen sollte, steht es heute, zumindest dem ersten Anschein nach, allen Menschen offen, alle Wege und Richtungen einzuschlagen. Diese meiner Meinung nach erfreuliche Weiterentwicklung bringt aber auch hohe Anforderungen an die eigene Persönlichkeit mit sich. So muss sich Frau überlegen, ob sie sich mit der traditionellen Rolle als Mutter und Hausfrau identifizieren kann, oder ob sie aus ideellen oder wirtschaftlichen Gründen eine Berufstätigkeit ausüben möchte oder muss. Im Falle der Berufstätigkeit muss sie sich eventuell mit dem Rabenmutter-Image auseinandersetzen, das selbst in unserer fortschrittlichen Gesellschaft diesem Lebensweg immer noch anhängt. Im anderen Fall wird sie vielleicht als Hausfrau belächelt und leidet unter mangelnder Anerkennung und finanzieller Not.

 

So gehören Zukunftsängste in der deutschen Bevölkerung, wie die Furcht vor Arbeitslosigkeit oder einer nicht zu bewältigenden Konkurrenzsituation in vielen Lebensbereichen, ebenso zum Alltag wie die Sorge um Preissteigerungen in Zusammenhang mit Nullrunden in Tarifverhandlungen und Rentenerhöhungen.

 

Gleichzeitig steigt jedoch unsere Anspruchshaltung, getrieben von Medien und Umfeld. Wir mutieren immer mehr zu einer Wegwerfgesellschaft. Die Anschaffung eines neuen Druckers ist beispielsweise fast preiswerter als der Austausch der passenden Tintenpatronen. So kostet beispielsweise ein Lexmark Z 645 Tintenstrahldrucker ca. 35€ inklusiv einer Erstausstattung an zwei Druckerpatronen, während die einzelne Druckerpatrone im Handel mit ca. 19€ zu Buche schlägt. Eine solche Preispolitik verleitet dazu, Kaputtes zu ersetzen, anstatt es zu reparieren. Selbst eine anstehende Grundreinigung lässt so manchen lieber etwas Neues kaufen. Dementsprechend sind viele Waren auch von minderer Qualität.

 

Diese Situation lässt sich auch auf den familiären Bereich übertragen. So wurden in Hamburg im Jahr 2004 6793 Ehen geschlossen, welches die niedrigste Zahl seit 1950 ist (Statistikamt Nord, Statistik informiert… Nr. 81/2005). Demgegenüber stehen 4892 geschiedene Ehen (Statistikamt Nord, Statistik informiert… Nr. 51/2005). Diese Zahlen zeigen, dass in Ballungsgebieten die schnelllebige Gesellschaft ihre Opfer fordert. Dies alles bringt Unruhe in das Leben der Menschen. So fehlen oft konstante Größen, die uns Sicherheit geben können, aus Sicht der chinesischen Medizin eine ausnehmend wichtige Bedingung für unser Wohlbefinden und somit letztendlich auch für unsere Gesundheit.

 

Es ist nur logisch anzunehmen, dass man nicht sein ganzes Leben am äußersten Limit seiner Leistungsfähigkeit verbringen kann, ohne die Konsequenzen für das eigene Handeln tragen zu müssen. Wer kennt ihn nicht, den Topmanager, der 14 Stunden am Tag arbeitet, Kettenraucher ist und Schlafen für reine Zeitverschwendung hält? Niemand aus seinem Umfeld wundert sich, wenn er mit Ende vierzig einen Herzinfarkt bekommt, aber kaum einer zieht daraus die Konsequenz, sein eigenes Handeln zu überdenken. Oder zum Beispiel die schon eingangs erwähnte allein erziehende Mutter, die zwischen Job, Geldsorgen und Kindern einfach erdrückt wird. Irgendwann ist selbst die stärkste Batterie geleert, und es kommt zum so genannten Burn-Out-Syndrom. Als ein weiteres Beispiel könnte auch der Frauenheld gelten, der meint, fünf Mal am Tag mit einer Frau schlafen zu müssen, da es ihm seine Männlichkeit gebiete. Er wird auch der letzte sein, der zugibt, dass ohne Viagra nichts mehr läuft. Schließlich hat er einen Ruf zu verlieren. Letztendlich wäre da noch der treue Arbeiter, der sein Leben der Firma verschrieben hat, zu Hause Frau und Kinder ernähren muss und sich nach dreißig Jahren Betriebszugehörigkeit von seinem Chef anhören darf, dass der Betrieb sich verjüngen will. Gefangen in der Niedergeschlagenheit der ausweglosen Situation und nicht wissend, ob er und seine Familie mit der Stütze überleben können, wird er zunehmend von Existenzängsten und Panikattacken geplagt.

 

All diesen Situationen und den daraus entstehenden Erkrankungen liegt häufig ein Nieren-Mangelsyndrom zugrunde. Dem Stress ihres Alltags sind die Betroffenen vielfach nicht gewachsen, und es fällt ohne Hilfe schwer, Auswege zu finden oder wenigstens für den notwendigen Ausgleich zu sorgen.

 

Auch wenn ich mich mit dem Großteil dieser Arbeit auf das Zang Niere beziehe, steht es dennoch außer Frage, dass auch andere organische Strukturen durch den modernen Lebenswandel in ihrer Funktionalität beeinträchtigt werden. Zudem ist die Niere die Wurzel aller anderen Organe. Das Nieren-Yin ist die Grundlage für Leber- und Herz-Yin, während das Nieren-Yang die Quelle vom Milz- und Lungen-Yang ist. So ist es auch naheliegend, dass viele chronische Erkrankungen, die nicht vom Funktionskreislauf Niere/Blase ausgehen, sich doch irgendwann auf ihn auswirken und ihn ebenfalls aus der Balance bringen.

 

2. Definition/Aufgaben der Niere aus Sicht der chinesischen Medizin 

 

Die Niere (Shen) wird als die „Wurzel des Lebens“ bezeichnet, da sie die Essenz (Jing) speichert. Nieren-Yin und -Yang bilden die Grundlage für Yin und Yang im Menschen. An dieser Stelle zunächst einige kurze Erläuterungen zum Konzept des Yin und Yang, um auch dem Leser, dem dieses Thema nicht allzu vertraut ist, einen Einstieg in den Text zu ermöglichen.

Das Konzept von Yin und Yang stellt eine der wichtigsten Grundlagen in der chinesischen Medizin und Philosophie dar. Sie sind die Gegensätze, die sowohl Makro- als auch Mikrokosmos zusammenhalten, das Universum sowie molekulare Verbindungen. Yin und Yang treten als Polaritäten auf, die sich gegenseitig anziehen und abstoßen. Dieses Phänomen ist in der Natur zu beobachten. Sich gegenseitig anziehende Planeten umkreisen sich, ohne sich jemals zu treffen, Elektronen und Atomkern ziehen sich an, ohne sich vollständig zu vereinigen. Ohne dieses Gesetz der dynamischen Polarität würden gegensätzliche Dinge unweigerlich aneinander hängen bleiben, und es würde Stillstand im Universum eintreten. Es würde keine Energie mehr entstehen, ein Zustand, der mit dem Tod gleichzusetzen wäre. Die östliche Philosophie hat, um Phänomene wie diese zu erklären, das Konzept von Yin und Yang entworfen. Yin stellt den substanziellen Part einer Verbindung dar, während Yang den energetischen Part darstellt. Substanz kann nicht ohne Energie existieren und Energie nicht ohne Substanz. Yin und Yang bedingen einander.

 

Des Weiteren bieten Yin und Yang eine Möglichkeit der Unterscheidung der tausend Dinge. So stellt das Blatt eines Baumes Yang dar, da es jedes Jahr neu austreibt und wieder eingeht. Dies zeigt eine eindeutig höhere Bereitschaft zur Wandlung an als im Falle des Astes, der in diesem Beispiel Yin darstellt. Außerdem nährt er das Blatt, was eine weitere wichtige Eigenschaft von Yang ist. Betrachtet man allerdings jetzt den Zusammenhang von Ast und Stamm, so wird der Ast zu Yang, da er aus dem Stamm austreibt und von ihm ernährt wird. Der Stamm stellt in diesem Beispiel natürlich Yin dar. So kann man sehen, dass in allen Dingen sowohl Yin- als auch Yang-Anteile zu finden sind.

 

Westliches Denken und westliche Wissenschaft wurden seit mehr als 2000 Jahren von Aristoteles geprägt, der postulierte, dass Gegensätze nicht das Gleiche sein können. Daher ist das Konzept von Yin und Yang für uns westlich denkende Menschen so unverständlich. Die Vorstellung, ein Kreis könnte rund und auch gleichzeitig eckig sein, ist für uns so abwegig, dass wir unseren Geist für das Unbekannte verschließen. Viele Menschen handeln nach der Redensart „Was der Bauer nicht kennt, das frisst er nicht“. Schaffen wir es trotzdem, unseren Geist zu öffnen und zu akzeptieren, dass eins das andere nicht unbedingt ausschließt, eröffnet sich ein völlig neues Verständnis unserer Umwelt.

 

Die Differenzierung zwischen Yin und Yang ist für die chinesische Medizin von größter Wichtigkeit. So ist Yin der substanzielle, ernährende und speichernde Teil, während Yang Energie, Wärme und Bewegung ist. Ohne Energie kann nichts aus den Speichern mobilisiert werden, und sind die Speicher leer, wird keine Energie mehr bereitgestellt. Auch hier sind Yin und Yang überlebenswichtig füreinander. Trennen sie sich, stirbt man. Sind sie harmonisch ausgeglichen, ist man gesund. Da die chinesische Medizin den Yin-Organen wie Niere, Leber, Herz, Milz und Lunge eine wichtigere Rolle als den Yang-Organen Dickdarm, Dünndarm, Gallenblase, Blase und Magen zuspricht, sind diese auch in ihrer Pathologie wesentlich ausdifferenzierter. Die Yin-Organe bilden die Grundlage für den energetischen Haushalt des Körpers und dienen vor allem der Lagerung und Ausscheidung von Nahrung und Flüssigkeiten. Da sich in der chinesischen Medizin fast alles gegenseitig beeinflusst und aufeinander aufbaut, ist hier wirklich von einem ganzheitlichen Therapieansatz zu sprechen.

 

Nieren-Yin hat primär Einfluss auf Leber-, Herz- und Lungen-Yin, während Nieren-Yang die Grundlage für Milz-, Lungen- und Herz-Yang bildet. Nieren-Yin ist entscheidend für Geburt, Wachstum und Fortpflanzung. Nieren-Yang ist durch die Möglichkeit der Her- und Bereitstellung von Yuan Qi der Katalysator oder Zündfunke für alle körperlichen und geistigen Prozesse, welche Energie benötigen. Nieren-Yin und Nieren-Yang hängen voneinander ab, sodass sie sich erst in ihrer Polarität zueinander richtig entfalten können. Hier verhält es ähnlich wie bei einem Lagerfeuer: Ist genügend gutes Holz vorhanden, kann das Feuer gut und ausdauernd brennen. Aus diesem Bild lassen sich auch Nieren-Pathologien ableiten. Ist das Holz feucht oder brennt es nicht gut, wird man nicht warm (Nieren-Yang-Mangel). Legt man zuviel auf, wird das Feuer es verzehren und man hat nicht mehr genug für den Winter (Nieren-Yin-Mangel). Weil es allerdings meistens so ist, dass die Flamme zu klein ist, weil kein Brennholz mehr da ist, kann man in der Praxis häufig davon ausgehen, dass Yin- und Yang-Mangel miteinander einhergehen und sich gegenseitig bedingen.

 

 

2.1 Die Nieren speichern Jing

 

Da Jing üblicherweise mit „Essenz“ übersetzt wird, ist an dieser Stelle noch eine Differenzierung vorzunehmen, um die unterschiedlichen Teile der Essenz zu erläutern.

Der ererbte Teil von Jing wird auch die Vorhimmels-Essenz genannt. Diese Essenz wird vor der Geburt von Vater und Mutter an das Kind weitergegeben. Sie ernährt den Fötus und lässt ihn im Mutterleib reifen. Hierdurch wird auch ein starker Bezug der gesundheitlichen Verfassung zur Reifung des Fötus und des späteren Menschen deutlich. Sind die Eltern bei der Zeugung krank, zu alt oder betrunken, hat dies negativen Einfluss auf die Menge des vorgeburtlichen Jing, die dem Kind für seinen Lebensweg zur Verfügung stehen. Da das vorgeburtliche Jing grundlegend für unsere Konstitution verantwortlich ist, kann man hier einen Mangel besonders deutlich erkennen. Dieser Teil der Essenz wird bei der Vereinigung der sexuellen Energien von Mann und Frau und der Befruchtung der Eizelle mit dem männlichen Samen festgelegt. Sie lässt sich im späteren Leben nicht mehren und kann höchstens durch einen gesunden Lebensweg im Einklang mit dem Dao erhalten werden.

Während des Lebens wird ständig nur ein kleiner Teil des vorgeburtlichen Jing verbraucht. Der größte Teil, mit dem wir unseren Alltag bestreiten ist die Nachhimmels-Essenz. Sie wird von Magen und Milz aus Speisen und Getränken destilliert, um letztendlich in Form von Qi dem Menschen zur Verfügung zu stehen.

 

Die dritte Form des Jing ist die Nieren-Essenz. Sie bildet die Einheit aus vor- und nachgeburtlichem Jing und ist für den menschlichen Entwicklungsprozess, seine Vitalität und Fruchtbarkeit ausschlaggebend.

 

In der chinesischen Medizin stellt man sich die Nieren-Essenz als Flüssigkeit vor, weshalb sie auch einen starken Bezug zum Nieren-Yin hat. Dies lässt sich besonders gut anhand des Kessels über dem Feuer darstellen. Die Essenz wird mit Hilfe des Nieren-Yang „verdampft“, um in Form von Nieren-Qi seine Aufgaben zu erfüllen.

 

 

 

 

(Maciocia, Die Grundlagen der Chinesischen Medizin 1994, S.44)

 

Das Jing selbst baut sich, im Gegensatz zu Qi, in sehr langen Zyklen auf und ab. Die Essenz der Frau verändert sich in Siebenjahreszyklen, während die des Mannes einem Zyklus von acht Jahren folgt. Schon im Huang Di Nei Jing Suwen (ca. 475-221 v. Chr.), in dem der Gelbe Kaiser Huang Di mit seinem Leibarzt Qi Bo über das Leben und dessen Pflege diskutiert, wird ein Lebensablauf in diesen Zyklen beschrieben.

 

Huang Di fragt:

Wenn man das Greisenalter erreicht, dann darf man keine Kinder mehr zeugen. Ist das auf die Erschöpfung des Jing zurückzuführen oder auf die „himmlischen Ziffern“?

 

 

Qi Bo antwortet:

Bei den jungen Mädchen im Alter von sieben Jahren ist die Energie der Nieren im Übermaß vorhanden, die Milchzähne fallen aus, die Haare werden länger.

 

Im Alter von 2 x 7 (14) Jahren tritt das „himmlische Gui“ auf, die Energie des Ren Mai und Chong Mai ist mächtig, die Menstruation ist regelmäßig, das junge Mädchen kann gebären.

 

Im Alter von 3 x 7 (21) Jahren ist die Energie der Nieren in Fülle und die Weisheitszähne stellen ihr Wachstum ein.

 

Im Alter von 4 x 7 (28) Jahren sind die Sehnen und Knochen stark, das Haar wird am längsten und der Körper ist stark und blühend.

 

Im Alter von 5 x 7 (35) Jahren nimmt die Energie des Yang Ming langsam ab, das Gesicht wird welk und die Haare beginnen auszufallen.

 

Im Alter von 6 x 7 (42) Jahren schwächt sich die Energie der drei Yang im oberen Teil des Körpers ab, das Gesicht trocknet aus, die Haare werden weiß.

 

Im Alter von 7 x 7 (49) Jahren ist der Ren Mai leer, der Chong Mai wird schwächer, das „himmlische Gui“ verschwindet, die „Kanäle der Erde“ sind versperrt. Daher ist der Körper ohne Kraft und die Frau nicht mehr fruchtbar.

 

Bei den Knaben festigt sich im Alter von acht Jahren die Energie der Nieren, die Haare werden länger, die Milchzähne wechseln.

 

Im Alter von 2 x 8 (16) Jahren ist die Energie der Nieren mächtig, das „himmlische Gui“ tritt auf, das Jing fließt über, das Yin tritt in Beziehung zum Yang, der Knabe kann Kinder zeugen.

 

Im Alter von 3 x 8 (24) Jahren steht die Energie der Nieren in Fülle, die Muskeln und Knochen werden fest und kernig, die Weisheitszähne stellen ihr Wachstum ein.

 

Im Alter von 4 x 8 (32) Jahren ist der Mann stark, die Haut und Subkutis stehen in voller Blüte.

Im Alter von 5 x 8 (40) Jahren schwächt sich die Energie der Nieren langsam ab, die Haare gehen aus, die Zähne verlieren langsam ihren Glanz.

 

Im Alter von 6 x 8 (48) Jahren schwächt sich die Energie des Yang im oberen Teil des Körpers ab, das Gesicht wird welk und die Schläfen werden grau.

 

Im Alter von 7 x 8 (56) Jahren ist die Energie der Leber leer, die Muskeln und Sehnen werden schwach, das „himmlische Gui“ verschwindet, das Jing nimmt ab, die Nieren arbeiten schlecht, der Körper ist schwer und müde.

 

Im Alter von 8 x 8 (64) Jahren sind die Zähne und Haare ausgefallen.

 

Die Nieren entsprechen dem Wasser. Sie erhalten und bewahren das Jing der fünf Organe und der sechs Hohlorgane. Daher breitet sich das Jing der Nieren aus, wenn diese Organe und Hohlorgane in Blüte stehen. Sind sie geschwächt, so werden die Muskeln und Knochen schlaff und das „himmlische Gui“ verschwindet. Daher werden die Haare und der Bart weiß, der Körper wird schwer, das Gehen wird mühsam und der Mann kann keine Kinder mehr zeugen.

 

(Suwen Kap. 1)

 

 

Jing ist die Grundlage für Nieren Yin und Yang, die ein natürliches Gleichgewicht erhalten, indem sie zwei gegensätzliche (und optimalerweise gleich starke) Pole bilden. Durch dieses natürliche Spannungsverhältnis erhalten sich Yin und Yang am Leben. Ist die Essenz stark, ist auch die Niere stark und der Mensch verfügt über Vitalität, Kraft und Fruchtbarkeit. Ist die Essenz schwach, kommt es zu Mangelsymptomen wie Wachstumsstörungen oder geistige Retardierung bei Kindern, da das Jing das Mark hervorbringt. Bei Erwachsenen könnte sich ein Essenzmangel beispielsweise als Gedächtnisschwäche, Störung der Sexualfunktion oder frühzeitigem Ergrauen der Haare/Haarausfall  zeigen.

 

 

2.2 Die Nieren produzieren das Mark

 

Das Mark der chinesischen Medizin kann nicht mit einem Konstrukt der westlichen Medizin wie zum Beispiel Blut- oder Lymphgefäßen gleichgesetzt werden. Das in der chinesischen Medizin beschriebene Mark ist eine Synthese aus Knochen und Knochenmark.

 

Ein weiterer Bestandteil ist das Rückenmark, welches das Gehirn anfüllt und somit auch für seine reibungslose Funktion verantwortlich ist. Durch ihre Fähigkeit, Jing zu speichern und zu „verwalten“, besitzt die Niere eine physiologische Verbindung zum Gehirn. Eine gute Essenz schärft Denken und Sehen, außerdem werden Konzentration und Gedächtnis gestärkt. Tritt ein Mangel an Essenz auf, kann somit auch Konzentrationsschwäche, Gedächtnisstörungen (z.B. M. Alzheimer) aber auch eine Schwächung der Sehkraft die Folge sein, auch wenn die Augen dem Funktionskreis Leber zugeordnet sind.

 

Auch die Knochen stehen in enger Beziehung zur Niere. So ist ein guter Skelettaufbau Zeichen für eine starke Nierenenergie, während weiche Knochen und lockere Zähne bei einem Nieren-Mangel-Syndrom anzutreffen ist, wie zum Beispiel Osteoporose, welche vorwiegend als Symptom eines Mangels an Nieren-Essenz oder durch Yin-Leere entsteht.

 

 

2.3 Die Nieren beherrschen das Wasser

 

Die Nieren sind dem Element Wasser zugeordnet und maßgeblich an der Weiterleitung und Umwandlung der Körperflüssigkeiten beteiligt. Ebenso ist die Niere für die Trennung von trüben und klaren Flüssigkeiten verantwortlich und unterstützt diese Funktion auch bei Dünn- und Dickdarm, indem sie ihnen das benötigte Yang zur Verfügung stellt. Die Flüssigkeit, die ausgeschieden werden soll, wird in dem Fu Blase gespeichert. Zur Erfüllung dieser Aufgabe erhält sie das benötigte Qi von der Niere. Die auszuscheidenden substanziellen Anteile werden über den Dickdarm entsorgt. Die Niere reguliert mit Hilfe eines ausgeglichenen Nieren-Yin und -Yangs die Abgabe der Flüssigkeit (Urin) und der festen Anteile (Kot). Besteht ein Ungleichgewicht oder ist ein pathogener Faktor eingedrungen, dann kann es zu Miktionsstörungen oder Inkontinenz kommen.

 

Die Nieren versorgen die Blase mit Qi. Die Blase ist letztendlich dafür verantwortlich, die letzten trüben Flüssigkeiten, die ihr von Dünn- und Dickdarm zufließen, zu trennen und Urin herzustellen. In der Blase wird der Urin mit Hilfe des Nieren Qi gespeichert, um dann, wenn sich eine angemessene Menge gesammelt hat, abgegeben zu werden. 

 

Außerdem empfängt die Niere die Flüssigkeit von der Lunge, die von ihr in die trüben und klaren Bestandteile getrennt wird. Der klare Anteil wird daraufhin mit Hilfe von Nieren-Qi wieder verdampft und zur Lunge zurückgeschickt, um diese zu befeuchten.

 

Auch die Milz wird in ihrer Tätigkeit, Körperflüssigkeiten zu trennen, von der Niere unterstützt, indem sie ihr das benötigte Yang zur Verfügung stellt. Ohne die wärmende Funktion des Yang könnte die Milz ihrer Aufgabe nicht nachkommen.

 

 

2.4 Die Nieren empfangen das Qi

 

An dieser Stelle ist es sinnvoll, auf die Qi-Produktion allgemein einzugehen und deutlich zu machen, welche Rolle die Niere in diesem lebensnotwendigen Prozess spielt.

 

Wenn wir das Da Qi, also das himmlische Qi, das wir aus der Atemluft gewinnen, für uns nutzbar machen wollen, müssen Lunge und Niere zusammenarbeiten. Durch die absenkende Funktion der Lunge und die Fähigkeit der Niere, das Qi festzuhalten und zu speichern, ist es uns möglich, das Da Qi in den Nieren aufzunehmen. Von hier aus wird es, sobald es vom Organismus benötigt wird, zurück zum Thorax geschickt, wo es sich mit dem Gu Qi, dem Qi der Nahrung, vereinigt.

 

Ist das Nieren-Yin zu schwach, kann die Niere ihre Aufgabe, das Qi festzuhalten, nicht erfüllen. Dadurch steigt das Qi seiner Yang-Eigenart entsprechend unkontrolliert nach oben. Das Qi sammelt sich im Brustkorb, was im weiteren Verlauf zu einem Obstruktionsgefühl im Thorax, chronischer Bronchitis oder Asthma führen kann.

 

Das Nahrungs-Qi entsteht mit Hilfe von Magen und Milz. Der Magen ist dafür zuständig, Nahrung aufzunehmen und einem Fermentierungs- und Reifungsprozess zu unterziehen. Das so entstandene Shui Gu, was nichts anderes bedeutet als „Wasser mit Nahrung“, gelangt nun in den Einflussbereich der Milz. Sie entzieht dem Nahrungsbrei die feinstofflichen Anteile und sendet diese mit Hilfe ihrer hebenden Funktion zur Lunge. Dort vereinen sich dann Gu Qi und Da Qi zum Zong Qi, welches auch Sammel-Qi genannt wird.

 

Das Sammel-Qi ist die erste Energieform dieses Prozesses, die wichtige Aufgaben in der Körperphysiologie übernimmt:

 

 

Ferner unterstützen sich Sammel-Qi und Ursprungs- oder auch Yuan Qi genannt, indem das Sammel-Qi zur Niere absteigt und diese unterstützt. Das Ursprungs-Qi steigt hoch in den Thorax, wo es die Lunge zusammen mit den Zong Qi bei der Atmung unterstützt. Im Thorax dient das Yuan Qi außerdem als Katalysator für die Umwandlung des Sammel-Qi hin zum Wahren Qi, dem Zhen Qi. Das Wahre Qi ist das Endstadium des Qi-Transformationsprozesses. Sein Teilaspekt, das Nähr- oder auch Ying Qi zirkuliert in den Meridianen und nährt die inneren Organe (Zang Fu). Da das Wahre Qi der Lunge entspringt, wird der Lunge auch die Funktion zugesprochen, das Qi im Allgemeinen zu kontrollieren.

 

Das Zhen Qi besteht aus zwei Teilaspekten, zum einen das Nähr-Qi (Ying Qi), das in den Leitbahnen fließt; und das Abwehr- oder Wei Qi, das sich unter der Haut ausbreitet und zirkuliert.

 

Das Ying Qi beginnt seinen Zyklus bei dem Punkt Zhong Fu, Palast der Mitte oder Lunge 1, wo es in die äußeren Leitbahnen eintritt und dort im Verlauf der Organuhr zu allen Zang Fu fließt. Daher steht die Lunge auch am Beginn der Organuhr, da der Zyklus in diesem Zang beginnt. Das Nähr-Qi hat außerdem eine enge Beziehung zum Blut, da es dafür zuständig ist, das Blut zu bewegen. Im Gegenzug nährt das Blut das Qi. Ist wenig Qi vorhanden, stagniert das Blut, und ist zu wenig Blut vorhanden, kann das Qi nicht richtig ernährt werden. Somit würde ein Blutmangel einen Qi-Mangel zur Folge haben. Das Ying Qi ist das Qi, das wir stimulieren, wenn wir einen Akupunkturpunkt nadeln.

Das Wei- oder Abwehr-Qi ist eine gröbere Form der Energie als das Ying Qi und fließt in den äußeren Körperschichten, wo es den Körper vor dem Einfluss pathogener Faktoren schützt. Diese pathogenen klimatischen Faktoren können zum Beispiel Kälte, Wind, Hitze oder Nässe sein. Außerdem wärmt es Haut und Muskeln. Ist es dazu nicht in der Lage, fühlt sich der Mensch unterkühlt und fröstelt leicht. Eine weitere Funktion ist das Öffnen und Schließen der Poren, womit die Schweißsekretion kontrolliert wird. Kommt es nun zu einer Blockade des Wei-Qi durch Wind oder Kälte, hat man die Symptome einer Erkältung, allerdings ohne zu schwitzen. Daher rührt auch der therapeutische Ansatz des Schweißtreibens, um den pathogenen Faktor auszuleiten. Da die Lunge für die Zirkulation des Wei Qi verantwortlich ist, wird häufig eine Infektanfälligkeit, sprich ein häufiges Eindringen pathogener Faktoren, mit einer Lungen-Qi-Schwäche assoziiert.

 

Des Nachts sammelt sich das Wie Qi in den inneren Organen und erwärmt sie. Es beginnt seinen Zyklus mit dem Wärmen der Niere, danach folgen nacheinander Herz, Lunge, Leber und Milz.

 

Insgesamt zirkuliert das Wei Qi in vierundzwanzig Stunden fünzigmal durch den Körper, fünfundzwanzigmal in der Nacht wie oben beschrieben und fünfundzwanzigmal am Tag. Dabei zirkuliert es in den Yang-Leitbahnen vom Tai Yang ausgehend hin zum Shao Yang und anschließend zum Yang Ming.

 

(Maciocia, Giovanni: Die Grundlagen der chin. Medizin, 1997, S. 49)

 

 


2.5 Die Nieren öffnen sich in den Ohren

 

Wie alle Zang hat auch die Niere einen direkten Bezug zu einem der fünf Sinnesorgane. Während Herz für die Zunge (sprechen), die Milz für den Mund (schmecken), die Lunge für die Nase (riechen) und die Leber für die Augen (sehen) zuständig sind, stehen die Ohren in einer physiologischen Beziehung zur Niere und werden von der Nieren-Essenz ernährt. Über den Zustand und die Form der Ohren lassen sich Rückschlüsse über den Zustand der Niere ziehen.

 

Wenn das Ohr klein und schwarz ist, ist die Niere klein. Wenn das Ohr groß ist, ist die Niere groß. Wenn das Ohr hoch angesetzt ist, ist die Niere hoch, wenn der hintere Teil des Ohres nach unten geneigt ist, ist die Niere niedrig. Wenn das Ohr fest ist, ist die Niere fest, wenn das Ohr dünn ist, ist die Niere schwach. Wenn die Niere klein ist, ist sie sicher und kann schwer verletzt werden. Wenn sie fest ist, wird sie nicht krank. Wenn die Niere groß ist, bedeutet es, dass sie leer ist, und eine leere Niere verursacht Taubheit oder Tinnitus.

Ling Shu Kapitel 10

 

Da die Ohren offensichtlich zum Hören geschaffen wurden, lassen sich über diese Wahrnehmungsart auch Aussagen bezüglich der energetischen Situation der Nieren machen.

 

Die Niere öffnet sich in die Ohren; wenn die Niere gesund ist, vermögen die Ohren die fünf Töne zu hören.

Ling Shu Kapitel 17

 

 

2.6 Die Nieren manifestieren sich im Haar

 

Alle Haare – ob Kopf- oder Körperbehaarung – sind ein Ausdruck von aus den Poren ausgetretenem Xue (Blut). Es ist sozusagen die äußere physiologische Manifestation des Blutes. Daher kann man aufgrund der Beschaffenheit der Haare eine Aussage über die Blutversorgung in einem Körperareal, die Qualität des Blutes oder die Durchlässigkeit der Poren treffen.

 

Die Niere versorgt das Blut mit dem benötigten Jing und ausreichend Flüssigkeit. Wird beides in ausreichender Menge bereitgestellt, ist das Haar fest, wirkt vital, hat seine ursprüngliche Farbe und zeigt keine grauen Strähnen. In China ging man verständlicherweise davon aus, dass schwarzes Haar ein Zeichen für eine starke Nieren-Essenz sei. In unseren Breitengraden müsste man diese These bezüglich der Haarfarbe relativieren.

 

Herrscht ein Mangel an Essenz in der Niere, ergraut das Haar vorzeitig, wird stumpf und brüchig, was allerdings auch an einer mangelhaften Beschaffenheit des Blutes, z.B. durch Trockenheit herbeigeführt, liegen könnte.

 

Wenn die Nieren-Essenz abnimmt, fällt das Haar aus.

Suwen Kapitel 1

 

 

2.7 Die Nieren kontrollieren die unteren beiden Yin (Anus und Urethra)

 

Durch ein ausgeglichenes Yin und Yang hat die Niere die Möglichkeit, die Abgabe von Flüssigkeiten (Urin) und festen Bestandteilen (Kot) zu kontrollieren. Besteht ein Ungleichgewicht oder ist ein pathogener Faktor eingedrungen, kann sich die Qualität und Quantität des Urins verändern. Zum Beispiel würde es bei einem Yang-Mangel eher zu einer großen Menge hellen Urins kommen, während bei einem Yin-Mangel eher spärlicher, dunkler Harn zu beobachten wäre.

 

Das Qi der Blase wird von der Niere bereitgestellt. Qi hat die Fähigkeit, Dinge an ihrem Platz zu halten, und ist an der Kontrolle der unteren Yin beteiligt, sodass es bei einem Nieren-Qi-Mangel sowohl zu einer Harn- oder Stuhlinkontinenz als auch zu einer spontanen Ejakulation kommen kann. Auch könnte die adäquate Zeit der Urinabgabe negativ beeinflusst werden und es könnte beispielsweise zu einer Nykturie kommen.

 

 

2.8 Die Nieren beherbergen Zhi, den Willen

 

Jedes der fünf Zang unseres Körpers beherbergt eine oder mehrere Seelen. Shen, der gute Geist, unser Bewusstsein, residiert im Herzen. Po, die sieben Körperseelen, haben ihren Platz in der Lunge, während die drei Wanderseelen Hun, welche die Körperseelen kontrollieren, in der Leber angesiedelt sind. Die Milz wird als Mutter der Gedanken bezeichnet, da sie Yi, das Denken beherbergt.

 

Der Niere fällt nun die Aufgabe zu, Zhi, unserem Willen, ein Heim zu geben. Zhi ermöglicht es uns, zielgerichtet zu denken, unsere Ziele zu verfolgen und auch schwierige Pfade nicht zu scheuen. Außerdem versetzt er uns in die Lage, unsere Ängste zu überwinden und uns trotz widriger Situationen nicht zu fürchten. Ist unser Wille schwach, können irrationale Ängste uns übermannen.

Ein starker Wille bedeutet nicht, keine Angst zu kennen. Bestimmte Phänomene der „Furchtlosigkeit“ wie etwa das Ausreizen lebensgefährlicher Situationen um des Adrenalins willen (S-Bahn-Surfen, Autobahnrasen etc.) sind ebenfalls auf eine Störung des Zhi zurückzuführen. Das zusätzlich ausgeschüttete Jing führt zu einem Gefühl gesteigerter Lebendigkeit, wird dabei aber gewissermaßen „verschleudert“. Ein solches Verhalten kann derart ins Extreme gesteigert werden, dass ich von einem Suchtverhalten sprechen würde.

 

Bei der Bezwingung der Angst geht es darum, sich nicht von einer normalen Hausspinne oder Maus zu fürchten, nicht in einem kleineren Raum in Panik auszubrechen oder auch in größeren Menschenmengen Gelassenheit zu bewahren. Ist die Niere im Mangel, nehmen die Ängste überhand und machen es schwer oder sogar unmöglich, den ursprünglich gewählten Weg fortzusetzen. Der Ausdruck einer Angststörung hängt davon ab, was sich primär im Mangel befindet. So würde beispielsweise eine von Yin-Mangel geprägte Persönlichkeit in ihrer Panik nicht mehr zu halten sein, während ein Yang-Mangel dazu führt, dass die betroffene Person wie das sprichwörtliche Kaninchen vor der Schlange erstarren würde.

 

Ein Mangel an Willenskraft und Motivation sind häufig auch bei einer Depression zu beobachten, welche im Allgemeinen als Antriebslosigkeit bezeichnet wird. Hier kann nicht mehr der Wille aufgebracht werden, sich aus der vermeintlich ausweglosen Situation zu befreien. Dies ist häufig auch der Grund, warum auch ein Suizid, so einfach dieser Ausweg auch erscheinen mag, nicht gewählt wird. Es fehlt an Willenskraft, diesen letzten Schritt zu gehen. Hier bergen auch die trizyklischen Antidepressiva eine Gefahr. Vor einer Stimmungsaufhellung, welche dem Leben wieder einen Sinn geben würde, kommt es zu einer Antriebssteigerung. Letztendlich hat der Mensch jetzt den Willen und notwendigen Antrieb, seinem traurigen Dasein ein Ende zu setzen.

 

 

2.9 Die Emotionen der Niere    

 

Allen Yin-Organen der einzelnen Wandlungsphasen werden Emotionen zugeordnet, die sie in einem physiologischen Gleichgewicht produzieren und beherrschen. So beherrscht das Herz die Freude, die Leber die Wut, die Milz die Sorge und die Lunge die Trauer. Die Niere ist für die Emotion Angst zuständig, welche sie mit Zhi, dem Willen, kontrollieren kann. Ein dauerhaftes Empfinden von Angst erschöpft, laut Ling Shu Kapitel 39, die Essenz der Nieren.

 

 

2.9.1 Angst

 

Angst ist unter normalen Umständen ein Schutzfaktor, der unser Überleben sichert und uns vor größerem Schaden bewahrt. Ist die Niere ausgeglichen, kann diese Emotion adäquat wirken, ohne unser Leben zu behindern. Sollte es aber zu einer Schwächung der Niere kommen, kann die Kontrolle über die Angst nicht mehr aufrecht erhalten werden, und es kommt zu einer Angststörung. Diese kann sich, je nach Art der Nierenstörung (Yin oder Yang) unterschiedlich ausdrücken. Symptomatisch ist dabei, dass diese Angst nicht konkret begründet werden kann – der Angstauslöser ist entweder nicht gefährlich oder wird auch in Zusammenhängen gefürchtet, in denen er keine Gefahr bedeutet. Beispiele für solche Störungen sind etwa die Angst vor der Dunkelheit, Phobien, Angst vor dem anderen Geschlecht, ausgeprägte und ständige Angst vor Krankheiten oder vor dem Tod. Viele Menschen leiden auch unter Existenzängsten, wobei hier im Einzelfall genau nachzuprüfen wäre, inwieweit diese Angst tatsächlich gerechtfertigt ist. Aber selbst wenn sie real ist, würde doch das ständige Empfinden der Emotion die Niere schwächen, sodass andere Ängste hinzukommen könnten. Diese Ängste könnten aus ganz anderen Bereichen entstehen und sich in Panikattacken, Angstschweiß, Herzrasen und Ohnmachtsanfällen zeigen. Bei Kindern kommt es häufig auch zu nächtlichem Einnässen.

 

Angst senkt außerdem das Qi ab und bringt es aus dem oberen in den unteren Erwärmer. Durch diese rapide Absenkung ist das Nieren-Qi nicht mehr in der Lage, den Urin und eventuell auch Stuhl zu halten. So kommt es zum sprichwörtlichen „in die Hose machen“.

 

 

2.9.2 Schock

 

Ein plötzlicher großer Schreck/Schock hat Einfluss auf Herz und Nieren. In erster Linie hat der Schreck eine Wirkung auf das Herz-Qi, das sofort geleert wird. Es entstehen Palpitationen und Schweißausbrüche. Da das Herz eine enge Verbindung zum Zong Qi hat und dieses wiederum zur Lunge gehört, können auf diesem Wege auch Symptome wie Hyperventilation entstehen. Das Zong Qi ist die Instanz im Thorax, die den gleichmäßigen Rhythmus des Pulsschlages und der Atmung bestimmt.

 

Da dieses plötzlich geleerte Qi wieder aufgefüllt werden muss, um das Überleben zu sichern, wird Essenz aus der Niere mobilisiert, um den Qi-Verlust auszugleichen. Durch diesen übermäßigen Verbrauch an Essenz können Symptome wie Nachtschweiß, Schwindel und Tinnitus verursacht werden.

 

 

3. Optimales Verhalten zum Erhalt der Niere

 

Wir alle streben einen Zustand an, den wir als „gesund“ bezeichnen. In der chinesischen Medizin beschreibt Gesundheit einen Zustand völliger Ausgeglichenheit, sowohl des Körpers als auch des Geistes. Sich selbst in einem so ausgeglichenen Zustand von Yin und Yang zu halten, ist eine Lebensaufgabe, der man nicht ohne weiteres gewachsen ist. In der Tat scheitern die meisten bei dem bloßen Versuch. Immer wieder treten Situationen auf, die uns mit unserer eigenen Unzulänglichkeit konfrontieren und uns aus unserem emotionalen Gleichgewicht werfen. In der heutigen Arbeitspolitik, um nur ein Beispiel zu nennen, kann sich niemand mehr seiner Arbeitsstelle wirklich sicher sein und die Zukunft darauf aufbauen. Dies führt zu einer unterschwelligen Existenzangst, die über einen längeren Zeitraum zu einem Ungleichgewicht im Funktionskreislauf Niere/Blase mündet.

Dieser Vorgang kann folgendermaßen von Statten gehen: In der chinesischen Medizin gibt es das Phänomen der San Bao, der drei Kostbarkeiten. Diese bilden im Yi Lun, der natürlichen Ordnung, die Feuer-Wasser-Achse, auf der unsere Existenz beruht. Die Kühle des Wassers wird mit Hilfe des Qi der Erde nach oben geführt, um das Feuer des Herzens zu kühlen. Das nun erwärmte Wasser wird mittels des Qi der Erde wieder zu herabgeführt, um die Nieren zu wärmen. Die drei unmittelbar beteiligten Substanzen sind Shen, Qi und Jing. Die drei Kostbarkeiten funktionieren in einem engen Bezug zueinander und streben nach einem idealen Gleichgewicht. Der Umkehrschluss daraus ist, dass ein übermäßiger Verbrauch oder Mangel des einen durch die anderen beiden ausgeglichen wird. So ist es meistens auch nicht der Fall, dass eine Erkrankung, die vornehmlich auf einem Stressfaktor beruht, als erstes die Niere über das Jing angreift. Vielmehr wäre eine Leber-Qi-Stagnation oder aber ein Qi-Mangel durch eine über den Cheng-Zyklus unterdrückte Milz denkbar. Auch eine lange, belastende Phase der Überarbeitung/Überbelastung, an deren Ende das so genannte Burnout-Syndrom steht, ist möglich. Der geschädigte Shen wird so lange ausgeglichen, bis Jing und Qi völlig erschöpft sind.

Da am Anfang ein entstandenes Ungleichgewicht von dem vorhandenen Yin und Yang der anderen Organe oder den San Bao ausgeglichen wird und keine offensichtlichen Probleme entstehen, besteht für einen Großteil der Bevölkerung auch kein dringender Handlungsbedarf. Folglich betreiben die wenigsten Menschen eine ausreichende Prävention zum Erhalt ihrer Gesundheit. Die Prioritäten des Alltags sind schlichtweg so gesetzt, dass der Mehraufwand, der zur Gesunderhaltung nötig wäre, nicht mehr zu integrieren ist. Erst wenn das sprichwörtliche Kind in den Brunnen gefallen ist, erkennt man, dass sich etwas ändern muss. 

 

Auch die ererbte Konstitution spielt eine erhebliche Rolle in der Krankheitsgeschichte eines Menschen. In der chinesischen Medizin wird sehr viel Wert auf den Zustand der elterlichen Essenzen während der Zeugung gelegt. Aus der Vereinigung der Nieren-Essenzen von Mutter und Vater, also Eizelle und Sperma, wird im heranwachsenden Fötus das Vor-Himmels-Qi gebildet. Sollte die Nieren-Essenz von Mutter oder Vater durch eine chronische Erkrankung, hohes Alter, permanente Überarbeitung oder eine eigene, ererbte schwache Konstitution beeinträchtigt sein, wird dieser Mangel an das Kind weitergegeben. Auf diese Weise lassen sich auch Erkrankungen erklären, die familiär gehäuft auftreten. Da der Zustand der Eltern zum Zeitpunkt der Zeugung ausschlaggebend ist, ist es auch einleuchtend, dass erhebliche Unterschiede zwischen Geschwistern auftreten können. Außerdem spielt Alkohol eine erhebliche Rolle. Sollten die Eltern zum Zeitpunkt der Zeugung betrunken gewesen sein, hat dies erhebliche negative Auswirkungen auf die Qualität und Quantität der Essenzen des Kindes, was nach der Geburt zu Entwicklungsstörungen führt, wie es bei einem Jing-Mangel beschrieben ist. Es kann beispielsweise zu Missbildungen im knöchernen Bewegungsapparat, einer verzögerten geistigen Entwicklung, Einnässen, lockeren Zähnen oder dünnem Haar kommen. Auch das frühzeitige Ergrauen spricht für eine schwache Nieren-Essenz.

 

Um Defizite in anderen Bereichen des Körpers auszugleichen, bedient sich der Organismus direkt an der ursprünglichen Quelle. Daher beeinflussen chronische Erkrankungen, auch wenn sie von anderen Organen wie Herz, Lunge oder Leber ausgehen, über kurz oder lang das Nieren-Yin und -Yang. Die daraus entstehende neue Symptomatik ist nun eine Mischung aus der vorangegangenen chronischen Erkrankung und einem Nieren-Mangel-Syndrom.

 

Auch das Alter hat einen erheblichen Einfluss auf die Nieren-Essenz, Yin und Yang. Da die Nieren in der chinesischen Medizin als unsere Lebensbatterien betrachtet werden, ist es nur natürlich, dass diese mit steigendem Alter an Kraft verlieren. Dies zeigt sich beispielsweise im Ergrauen der Haare, einem allgemeinen Verlust an Vitalität und eine Reduktion der Knochendichte. Außerdem lässt die Sexualfähigkeit nach, und auch Hörschäden wie Schwerhörigkeit oder Tinnitus können entstehen.

 

Es gibt also viele Möglichkeiten einer Nierenerkrankung, von denen wir viele auch nicht beeinflussen können. Wir werden alle älter, ob wir wollen oder nicht. Auch haben wir auf den Zustand unserer Eltern zum Zeitpunkt unserer Zeugung keinen Einfluss. Wir müssen also mit dem, was uns gegeben ist, unser Leben bestreiten und können nur das Beste daraus machen. Um aus dem (eventuell wenigen) was uns mitgegeben wurde, das Optimum herauszuholen, ist es unerlässlich, sorgfältig auf die eigene Lebensführung zu achten.

 

 

 

 

3.1. Lebensführung

 

Um unsere Essenzen zu bewahren, müssen wir unser Leben an den Prinzipien des Dao ausrichten und den Gesetzmäßigkeiten von Himmel und Erde unterwerfen. Demnach ist das ständige Streben nach mehr, ob es nun Macht, Geld oder Unabhängigkeit ist, wider der natürlichen Ordnung. Das willentliche Streben fixiert den Geist auf ein Ziel, schottet ihn gegenüber anderen Eindrücken ab und lässt Unzufriedenheit entstehen. So sind wir nicht in der Lage, intuitiv zu handeln und uns vom Universum leiten zu lassen. Unser rastloses Streben und haltloses Hin und Her verhindert unsere Vereinigung mit dem Dao und verursacht Stress.

 

Leider ist Stress in unserem Leben ein wesentlicher Bestandteil und lässt sich auch nicht ohne weiteres vermeiden. Trotzdem müssen wir uns bemühen, aus diesem Kreislauf auszubrechen, um unserer Leber die Chance zu geben, ihre Stagnation aufzulösen. Wie schon erwähnt ist nicht die Niere, sondern die Leber unser primäres und zuerst betroffenes Stressorgan. Es ist die Eigenschaft des Holzes, sich frei in alle Richtungen auszubreiten. Wird das Holz in der freien Entfaltung durch exogene oder endogene Faktoren behindert, kommt es unweigerlich zur Leber-Qi-Stagnation. Erst wenn die Leber wieder in der Lage ist, Qi und Emotionen frei fließen zu lassen, können wir unsere innere Ausgewogenheit wider aufbauen. In diesem Zustand wird auch wieder die Niere zur Ruhe kommen, da sie nicht mehr den von der Leber erhöhten Energiebedarf kompensieren muss. Sie kann wieder die normale Rolle der Mutter einnehmen, ohne von dem Kind ausgenutzt zu werden, so wie es im Sheng-Zyklus vorgesehen ist.

 

Auch ein geregeltes Sexualverhalten ist zum Erhalt der Niere wichtig. In der westlichen Medizin wird die „übermäßige sexuelle Aktivität“ selten bis nie als mögliche Ursache einer Erkrankung angesehen, von einigen Infektionskrankheiten einmal abgesehen. Der Verlust von Nieren-Essenz kann nicht in Betracht gezogen werden, da ein Begriff wie Jing nicht existiert.

Nicht jede sexuelle Aktivität zieht unbedingt einen Jing-Verlust nach sich. Notwendig hierfür ist die Ejakulation des Mannes oder der Orgasmus der Frau. Es wird hier so deutlich zwischen Ejakulation und Orgasmus unterschieden, da ein „trockener“ Orgasmus des Mannes nicht als essenzschädigend angesehen wird. Nur das Ejakulat wird als materialisiertes Jing bezeichnet.

Der Orgasmus der Frau schwächt kurzzeitig den Uterus, der einen direkten Bezug zum Nieren-Yin hat. Der Essenzverlust ist hier im Gegensatz zu dem des Mannes sehr gering. Allerdings führen die aus der Sexualität entstehenden Schwangerschaften zu einem Jing-Verlust bei Frauen. Nicht umsonst sagt man, dass jedes Kind einen Zahn kostet.

Es ist außerdem notwendig, auf den Menstruationszyklus zu achten. Sollte es während der Regelblutung zu häufig zu sexuellem Kontakt kommen, kann dies zu einer Stagnation im Chong Mai führen, was zu Regelproblemen wie Dysmenorrhoe oder Amenorrhoe führen kann. Außerdem stellt der Chong Mai die energetische Verbindung zwischen vor- und nachhimmlischer Essenz, also zwischen Nieren und Milz her. Somit hat er eine wichtige Rolle, was die Unterstützung der Nieren-Essenz angeht.

Entspricht das sexuelle Verhalten den geforderten Richtlinien und der eigenen Konstitution, wird der entstandene Jing-Verlust vom Körper problemlos kompensiert. Der „Klassiker des einfachen Mädchens“ aus der Sui-Dynastie gibt den Menschen (in diesem Fall Männern) Ratschläge, wie häufig sie, ihrer Konstitution entsprechend, ejakulieren dürfen, ohne fürchten zu müssen, Schaden davon zu tragen.

 

Anhand der folgenden Tabelle ist dies dargestellt:

 

Alter

guter Gesundheits-zustand

durchschnittlicher Gesundheitszustand

15

2x / Tag

1x / Tag

20

2x / Tag

1x / Tag

30

1x / Tag

jeden 2. Tag

40

alle 3 Tage

alle 4 Tage

50

alle 5 Tage

alle 10 Tage

60

alle 10 Tage

alle 20 Tage

70

alle 30 Tage

keine Ejakulation zu empfehlen

 

(Maciocia, Giovanni: Die Grundlagen der chin. Medizin, 1997, S. 146)

 

Diese Empfehlungen sind als grobe Richtlinie anzusehen. Sollte bereits eine Nierenschwäche vorhanden oder Qi und Blut geschädigt sein, ist das Ausmaß der sexuellen Aktivität weiter einzuschränken. Ist das Yang geschädigt, kommt es in den meisten Fällen zu einer selbständigen Reduzierung, da die nötige Energie nicht vorhanden ist. Bei einer Yin-Schädigung kommt es zu einem ausgeprägten Sexualtrieb, der bei vielen Patienten nur dank großer Überzeugungsarbeit unbefriedigt gelassen wird.

Wie bereits erwähnt, ist der Zusammenhang zwischen übermäßiger sexueller betätigung und daraus resultierenden Erkrankungen im westlichen Raum weitgehend unbekannt beziehungsweise wird in der Schulmedizin nicht oder nur wenig beachtet.

Auch der Mangel an sexueller Betätigung kann Ursache einer Störung des Systems sein. So gibt auch hier der „Klassiker des einfachen Mädchens“ Aufschluss über die Mindestzahl von Orgasmen beziehungsweise Ejakulationen, die Mann oder Frau in einem bestimmten Alter erreichen sollte.

 

Alter

Ejakulationshäufigkeit

20

alle 4 Tage

30

alle 8 Tage

40

alle 16 Tage

50

alle 21 Tage

60

alle 30 Tage

 

(Maciocia, Giovanni: Die Grundlagen der chin. Medizin, 1997, S. 147)

 

Weitere Punkte, die Beachtung finden sollten, sind sowohl die Qualität als auch die Quantität des Schlafes. Schlaf ist eins der wichtigsten Mittel der körperlichen Regeneration. Die nächtliche Ruhezeit dient unserem Körper dazu, über den Tag verbrauchtes Yin zu regenerieren. Dazu ist der so genannte Yin-Schlaf notwendig (in moderner Terminologie die „Tiefschlafphase“). In diesem Zustand wendet sich der Körper ganz seinem Inneren zu und bereitet sich auf den kommenden Tag vor.

Sollte es nun zu Schlafstörungen kommen, kann das mehrere Ursachen haben. Die häufigsten gehen mit einem Yin- oder Blutmangel einher. Sollte es im Verlauf der Nacht zu Durchschlafstörungen kommen, so ist meistens das Nieren- oder Herz-Yin beeinträchtigt. Häufig ist für Einschlafstörungen auch das Herz-Blut verantwortlich, das dem Shen seine Ruhestätte bereitet. Traumgestörter Schlaf deutet eher auf einen Leber-Blutmangel hin, wobei sich Blutmangel-Symptome der verschiedenen Organe meist vermischen, da ein Blutmangel meist allgemeiner Natur ist und sich auf alle Organe entsprechend auswirkt. Auch der Begriff des Traumgestörten Schlafs ist relativ zu sehen. Träumen ist eine natürliche Art des Geistes, das Erlebte zu verarbeiten, um Qi und Emotionen weiterhin in freiem Fluss zu halten. Traumgestört wird der Schlaf erst, wenn die Wanderseele Hun nicht durch das Leber-Blut verankert wird und uns somit von der Yin-Schlafphase abhält. Sollten diese Träume sexueller Natur sein, ist außerdem ein Nieren-Yin-Mangel zu vermuten, da diese Art von Träumen Anzeichen für eine Leere-Feuer-Symptomatik sind. Auch sind nächtliche Samenergüsse beim Mann oder Orgasmen der Frau ein Hinweis darauf. Hier muss eine Konsolidierung des Nieren-Yin erfolgen, einhergehend mit einer Einschränkung der sexuellen Aktivität und Einhaltung der Wach- und Ruhezeiten.

 

Auch Qi Gong kann ein Ausgleich zum stressigen Alltag sein. Es dient dazu, Qi wieder frei zirkulieren zu lassen und somit der Leber ihre Arbeit zu erleichtern. Außerdem hat der starke Bezug auf das Dantian einen fördernden Effekt auf die Nieren-Essenz.

Im Wesentlichen unterscheidet man folgende Anwendungsbereiche des Qi Gong:

 

 

Neben übermäßiger sexueller Betätigung kann auch übermäßige sportliche Aktivität schädlich sein. Besonders Menschen, die unter großem Druck stehen und bei denen das Leber-Qi nicht mehr frei fließen kann, suchen diese Möglichkeit der Entspannung. Sport ist eine sehr effektive Art des Stressabbaus. Aber genau hier liegen auch die Risiken. Zum einen kann der Sport zur Droge werden, ohne die der Betroffene sich nicht mehr entspannen kann. So muss der Körper ständig eine erhöhte Belastung kompensieren, nur um einen reibungslosen Qi-Fluss zu gewährleisten. Da der Körper nicht über längere Zeit eine solche Menge an Yang zur Verfügung stellen kann, muss Yin zum Ausgleich mobilisiert werden. Meiner Beobachtung nach sehen Menschen, die sehr viel Sport treiben, älter aus als „Normalsportler“. Dies ist besonders auffällig, wenn die Nierenenergie im fünften Lebenszyklus langsam beginnt, abzunehmen.

Ein besonderes Augenmerk im Bezug auf die Niere ist auf das Gewichtheben zu legen. Die Wirbelsäule, ganz besonders die Lumbalregion, ist der Wandlungsphase Wasser zugeordnet. Sie wird bei dieser Sportart besonders beansprucht und dadurch auf lange Sicht geschädigt. Im Umkehrschluss werden Schmerzen in dieser Region für diagnostische Zwecke im Bezug auf ein Nierensyndrom genutzt. Beispielsweise spricht ein dumpfer Schmerz mit kaltem Rücken und Flanken eher für einen Nieren-Yang-Mangel während das Gefühl des Durchbrechens eher auf einen Nieren-Essenz-Mangel hinweist.

 

 

3.2. Ernährung

 

Nahrung ist für den Menschen überlebenswichtig. Um eine reibungslose Nahrungsaufnahme und -verarbeitung zu gewährleisten, ist es unerlässlich, dass Milz und Magen ihre Aufgaben erfüllen. Sie bilden sowohl die Grundlage von Qi als auch des Yin der einzelnen Organe. Die Milz destilliert aus der vom Magen vorbereiteten und gespeicherten Nahrung die fünf Geschmäcker heraus und sendet diese an die dafür vorgesehenen Organe. So nährt das Saure die Leber, das Bittere das Herz, das Süße die Milz, das Scharfe die Lunge und das Salzige die Nieren. Es ist allerdings auf ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen den Geschmäckern zu achten, da sonst das Zielorgan geschädigt wird. Die richtige Ernährung garantiert für unseren Körper die Möglichkeit, nachgeburtliche Nieren-Essenz zu generieren, die wir für sämtliche Prozesse in unserem Körper benötigen. Sollte nicht genügend nachgeburtliches Jing zur Verfügung stehen, muss sich der Körper an dem Vorrat der vorgeburtlichen Essenz bedienen.

Besonders auffällig ist bei den meisten Menschen der übermäßige Genuss von Süßem zu beobachten. Die Milz kann ihrer Aufgabe der Transformation nicht mehr ausreichend nachkommen und beginnt, Feuchtigkeit und Schleim nicht mehr genügend umzuwandeln. Außerdem haben viele süße Nahrungsmittel selbst eine verschleimende Wirkung auf den Organismus. Das Resultat dieser Störung ist dann in einem ständig wachsenden Bauchumfang zu begutachten.

 

Immer wieder kommt es zu Ernährungsfehlern, die sich negativ auf das körpereigene System auswirken. Gerade im heutigen Alltag und Geschäftsleben nimmt die Nahrungsaufnahme nicht mehr den Stellenwert ein, der ihr eigentlich zusteht.

Häufige Diätfehler können sein:

 

 

Obwohl das Hauptaugenmerk in Sachen Ernährung auf Milz und Magen liegt, ist es trotzdem unerlässlich, auch im Sinne der anderen Organe auf die Nahrungsaufnahme zu achten. Wie schon erwähnt, tonisieren die fünf verschiedenen Geschmäcker jeweils ein anderes Zang – in unserem Fall ist das Salzige von Interesse, da es die Nieren stimuliert. Außerdem stärkt es die Knochen, die einen direkten Bezug zur Niere haben.

Salzig ist der einzige Geschmack, der eine eigene Struktur in Form eines Kristalls aufweist. Daher wird ihm die Charakterisierung Yin im Yin zugewiesen, was wieder ein Hinweis auf die Niere ist. Diese ist unter den Zang Fu auch das Yin im Yin. Sollte allerdings ein Nieren-Yang-Mangel bestehen, ist das Salzige aufgrund seiner kalten Energetik zu meiden, da sonst Ödeme entstehen können.

 

 

4. Exemplarische Darstellung von Stressfaktoren

 

Angst ist ein häufiger Grund für Menschen, sich immer unsicherer zu fühlen. Viele Menschen unserer Zeit leiden unter verschiedensten Angststörungen, aber die Welt und die Gesellschaft, in der wir leben, fordert, dass man keine Angst haben darf. Man muss stark sein, man muss Erfolg haben. Diese Menschen versuchen dann, ihre Angst zu verstecken, und das stresst sie noch mehr!

 

Sie haben Angst, nicht gut genug zu sein, nicht genug Erfolg zu haben, den Anforderungen nicht zu genügen, den Chef nicht zufrieden stellen zu können, den Partner oder die Kinder.

Sie haben immer das Gefühl, noch besser sein zu müssen, und so setzen sie sich selbst immer mehr unter Druck. Sie fordern sich selbst ständig zu sehr, bis sie daran zerbrechen. Sie zeigen nicht, dass sie Angst haben. Deshalb ist das Wort STRESS bei uns so populär.

Hierzulande wird die Ursache für ein derartiges Verhalten fast immer im psychischen Bereich gesucht.

4.1. Stress im Alltag

 

1936 prägte der Wiener Zoologe Hans Selye, der „Vater der Stressforschung“, den Begriff „Stress“. Mit dem Begriff Stress ist ursprünglich die Reaktion eines Tieres auf eine akute Gefahrensituation gemeint. Eine bedrohliche Situation löst eine Reihe von Reaktionen im Körper aus, um sich der Gefahr stellen zu können. So werden Stresshormone wie Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol in großen Mengen ausgeschüttet, um Blutdruck, Herzfrequenz und Muskeltonus zu erhöhen und es dem zentralen Nervensystem zu ermöglichen, blitzschnell zu reagieren. Auch die Sinnesorgane werden geschärft, um zu hören, ob sich ein Feind von hinten anschleicht oder sich in der Dämmerung hinter einem Gebüsch versteckt.

 

Wie man hier sehen kann, hat die Reaktion eines Körpers mit Stress einen überlebenswichtigen Charakter. Beim Menschen läuft dieser Prozess sehr ähnlich ab. Auch bei ihm wird durch die Ausschüttung von Hormonen eine Gefahrenbereitschaft hergestellt, die sein Überleben sichern soll. Hierbei ist zu beachten, dass Adrenalin und Noradrenalin eine kurze Halbwertzeit von zehn bis dreißig Sekunden haben und relativ schnell wieder abgebaut werden. In der chinesischen Medizin wird dieser Vorgang mit der Freisetzung von Jing gleichgesetzt, das dadurch in einem erhöhten Maß verbraucht wird.

Jing wird nach Auffassung der chinesischen Medizin in den Nieren gespeichert und auch von dort aus freigesetzt. Interessant ist, dass Adrenalin, wie es der Name schon sagt (lat.: ad = nahe bei, renes = Niere), in der Niere, genauer dem Nebennierenmark, synthetisiert und abgegeben wird. Hier lassen sich Parallelen herausarbeiten, die darauf hinweisen, dass die chinesische Medizin in diesem Punkt durch die Schulmedizin Bestätigung erfährt – auch die Symptome von freigesetztem Jing/ausgeschüttetem Adrenalin wie etwa erhöhter Blutdruck und Herzfrequenz sowie geschärfter Sinne sind vergleichbar.

 

Um den Aufbau einer Stressrektion zu verstehen, muss man allerdings auch Gan, die Leber, in die Betrachtung miteinbeziehen. Sie ist der „General“, der in bedrohlichen Situationen die Kräfte mobilisiert und mit seinem „Adjutanten“, der Gallenblase, die strategisch wichtigen Schritte einleitet. Leber-Blut wird mobilisiert, um Muskeln und Sehnen leistungsfähig zu machen, das Leber-Qi ist bis zum Zerreißen gespannt, um in alle sich ergebenden Richtungen reagieren zu können. Durch die Affinität der Leber zu Feuer und Yang kann sie auf die gegebenen Situationen explosiv und mit der nötigen Aggressivität reagieren. Für all diese Prozesse wird extrem viel Energie benötigt, da der Körper hier an seine Leistungsgrenzen geht. Dafür werden Energiereserven mobilisiert, die uns unter normalen Umständen nicht oder nur in sehr begrenztem Maße zugänglich sind. An dieser Stelle tritt das Jing wieder auf den Plan. Diese zusätzlichen Reserven ermöglichen es der Leber, noch effizienter auf eine Gefahrensituation zu reagieren. Hier ist noch einmal hervorzuheben, dass Stress eine physiologische Reaktion auf einen bedrohlichen Reiz ist, der unser Überleben sichern soll. Ähnliche physiologische Reaktionen spielen sich jedoch nicht nur bei tatsächlich überlebensrelevanten Situationen ab wie etwa einem ernstgemeinten körperlichen Angriff oder einem Unfall – auch simulierte Gefahrensituationen oder solche, die eher eine geistige als eine körperliche große Herausforderung darstellen, können unseren Körper veranlassen, diese zusätzlichen Energiequellen zu mobilisieren. So kann etwa ein Sprinter während eines Wettkampfes weit über seine persönlichen Grenzen hinauswachsen, um einen Hundertmeterlauf zu gewinnen..

 

Meiner Meinung nach ist die Leber auch ein „Mittelsmann“, der zwar die eigenen Substanzen wie Blut und Yin einsetzt und auch über einen längeren Zeitraum verbraucht, bei lang anhaltenden Stresssituationen aber auf die Reservetruppen in unserer Batterie, der Niere, zurückgreift. Schließlich braucht jeder General, wenn seine eigenen Truppen zur Neige gehen, eine Reservetruppe, auf die er zurückgreifen kann.

 

Hier kommt das Cortisol ins Spiel. Es ist unser Langzeitstresshormon, das mit einer Halbwertzeit von ca. anderthalb bis zwei Stunden wesentlich länger vorhält als das Adrenalin. Diese Tatsache erklärt auch die immer noch erhöhte Leistungsbereitschaft, auch wenn die auslösende Situation schon längst vergangen ist. In unserer heutigen Gesellschaft sorgt die hohe Stressdichte unseres Alltags für einen ständig erhöhten Cortisol-Spiegel. Dadurch werden wir auf einem künstlich hohen Stresslevel gehalten, obwohl keine unmittelbar lebensbedrohlichen Situationen bestehen. Es werden ständig Energien und Substanzen aus Leber und Niere freigesetzt, um der vermeintlichen Gefahr zu begegnen. Sollten einmal nicht mehr genug Qi und Yang vorhanden sein, beginnt der Körper auf Kosten der Substanzen Jing, Yin und Blut Raubbau zu betreiben. Hier beginnt ein Teufelskreis (siehe Kapitel 4.3: Perspektivlosigkeit und Existenzängste).

 

An dieser Stelle ist noch zwischen inneren und äußeren Stressoren zu differenzieren, wobei die äußeren Faktoren eher im Umfeld zu suchen sind und den Menschen künstlich auf ein erhöhtes Stresslevel setzen, da er dauernd mit dieser Situation konfrontiert wird. Als Beispiele hierfür können Mobbing, erhöhter Leistungsdruck oder Bedrohungen von Leben und Besitz dienen. Innere Stressfaktoren entstehen eher aus der Angst heraus, den eigenen Ansprüchen nicht zu genügen und die selbst gesetzten Ziele nicht erreichen zu können. Diese Stressoren lassen sich meist nicht ohne weiteres eliminieren. Besonders tückisch ist es, dass der Beginn einer Stresssituation meist schleichend ist und vom Körper gut kompensiert wird. Wenn der Stressor später als Lebenseinschränkung wahrgenommen wird, erweist es sich meist als sehr schwierig, aus diesem Kreislauf auszusteigen. Es ist auch nicht immer so, dass der Stress an sich mehr wird, lediglich die Kompensationsmöglichkeit des Körpers nimmt ab. Man möchte allerdings immer noch den Anforderungen genügen und setzt sich letztendlich selber zusätzlich unter Stress. Irgendwann fehlt einem Menschen förmlich die Energie, um selbst noch etwas an der eigenen Situation zu ändern und es kommt zum so genannten Burnout- Syndrom.

 

 

4.2. Übersteigerte Libido

 

Wir leben in einer Gesellschaft, in der jeder immer „können“ will und muss. Sex ist allgegenwärtig – in Zeitschriften, auf Plakaten, im Fernsehen und als häufiges Gesprächsthema. Ich vermute, dass die heutige Form der übersteigerten Libido beispielsweise weniger auf ein bestehendes Herz-Feuer zurückzuführen ist als vielmehr auf ein von der Gesellschaft auferlegtes Bild. Die heutige Devise lautet „allzeit bereit“, und so versuchen die Menschen sich zu verhalten. Fällt jemand aus diesem Schema heraus, wird er als schwach betrachtet – von anderen und auch sich selbst. Wer ist schon den ständigen Vergleichen mit den Erfolgreichen und Schönen dieser Welt gewachsen? Ich behaupte nicht, dass diese Menschen unter einem geringeren Druck stehen, um ihren Standard zu halten und auch weiterhin die Elite zu bilden. Sex wird immer mehr zum Machtwerkzeug, um andere zu unterdrücken oder seine eigene Herrschaft zu festigen. Als Beispiel möge hier die Musik-Branche dienen, in der es nur noch in den seltensten Fällen darum geht, dass die „Künstler“ gut singen können. Sie sollen vielmehr puren Sex vermitteln, da sich dieser bekanntlich am besten verkauft – „Sex sells“. Des Weiteren ist, dank der modernen Chirurgie und diversen Fitness-Zeitschriften, eine neue Ära des Körperkults angebrochen. Dem Alter wurde förmlich der Kampf angesagt. Zum natürlichen Alterungsprozess zählen nicht nur eine faltenfreie Haut, ein jugendlicher Teint und straffe Brüste, sondern auch die Fähigkeit, mit anderen zu schlafen. Leider sehen die meisten nicht in der Qualität, sondern vielmehr in der Quantität ihre sexuelle Bestätigung. Alter und das physiologisch natürliche Abnehmen sexueller Aktivität spielen hier keine Rolle. Sollten diese Faktoren dennoch zu einem Problem werden, gibt es Präparate wie Viagra oder Calis, um die es zur Zeit der Jahrtausendwende einen ziemlichen Wirbel gab. Neben schweren Nebenwirkungen wurde auch über 500 Todesfälle weltweit berichtet, wovon 18 in Deutschland gemeldet wurde (Egidi , Günther : Sildenafil ( Viagra ) : Risiken verharmlost Deutsches Ärzteblatt 97 , Ausgabe 36 von dem 08.09.2000 , Seite A - 2325 / B - 1986 / C - 1869). Da dieses Thema zum Politikum geworden ist, haben sich hier natürlich verschiedene Lager gebildet, die um jeden Toten feilschen, so perfide das auch klingen mag. Nicht immer ist der letztendliche Zündfunke für das vorzeitige Dahinscheiden klar definierbar. Dazu kommt außerdem noch, dass die Menschen, die zu solchen Mitteln greifen, in den seltensten Fällen die jungen, gesunden Männer aus der Studie des Herstellers sind, sondern Menschen, die schon eine gewisse Vorschädigung aufweisen, weswegen sie ein Potenzmittel überhaupt erst benötigen. Die freie Verfügbarkeit über das Internet bedeutet zudem, dass die Einnahme häufig nicht unter der Aufsicht eines Arztes stattfindet. Allerdings muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass die Erfindung von Potenzmitteln nicht neu ist, wie die Geschichte „Ein ernster Fall von Jing-Verlust“ (Lorenzen/Noll: Die Wandlungsphasen der traditionellen chinesischen Medizin, Band 5, München 2000, S. 51ff; entnommen aus einem erotischen Roman aus der Ming-Dynastie, dem Jin Ping Me oder: Die abenteuerliche Geschichte von Xi Men und seinen sechs Frauen  Insel-Verlag, ohne Jahresangabe, aus dem Chinesischen übertragen von Franz Kuhn) zeigt. Hier wird beschrieben, wie ein Mann letztendlich seiner Manneskraft erliegt. In dem umgangssprachlichen Begriff „Manneskraft“ wird wieder unmissverständlich deutlich, wie eng Potenz und Männlichkeit miteinander verknüpft sind.

 

 

4.3. Perspektivlosigkeit und Existenzängste

 

Obwohl der größte  Teil der Bevölkerung in Deutschland nicht wirklich ums Überleben bangen muss, ist der Bereich der Existenz- und Zukunftsängste wohl für die wenigsten von uns ein völlig abstraktes Thema.

Wir erleben fortlaufend in unserem Familien- und Bekanntenkreis, dass selbst eine langjährige Firmenzugehörigkeit nicht mehr vor der Kündigung des Arbeitsplatzes schützt. In den Medien häufen sich die Meldungen über steigende Aktienkurse der millionenschweren Konzerne, die oft mit großen Entlassungswellen oder Standortverlagerungen einhergehen.

Wir fürchten um unseren zum Teil über viele Jahre angesammelten Wohlstandsspeck, der in Zeiten von Hartz IV von uns zum Erhalt unseres Lebensunterhaltes verkupfert werden muss. Fast niemand muss wirklich um sein Leben fürchten, aber unsere Ansprüche sind hoch, sie wurden Zeit unseres Lebens durch geschickte Marketingstrategien entfacht und genährt. Wir definieren unseren Selbstwert zu einem großen Teil über die materiellen Dinge, die uns gehören.

Die soziale Schere klafft immer weiter auseinander, und so sind diese Existenzängste schon lange ein generationsübergreifendes Problem geworden. Leider schweißt uns dies nicht zusammen, sondern zerteilt unsere Gesellschaft noch weiter. Böse Begrifflichkeiten wie „Rentnerschwemme“ etablieren sich im allgemeinen Sprachgebrauch. Viele alte Menschen leben unter der Armutsgrenze.

Aber auch die Anzahl der Kinder und Jugendlichen, deren Familien nur durch staatliche Unterstützungen überleben können, steigt stetig an. Soziale Ausgrenzung fängt so für viele Menschen schon im Kindergartenalter an und zieht sich nicht selten als roter Faden durchs Leben.

Kinder sozial schwacher Herkunft beenden ihre Schulzeit häufig mit niedrigeren Bildungsabschlüssen als Kinder aus wohlsituierten Familien.

 

Ich habe mit einer Schulsozialarbeiterin gesprochen, die zu diesem Zeitpunkt eine zehnte Klasse einer Gesamtschule in einem besseren Mittelschichtsstadtteil (Hamburg-Niendorf) betreute.

Ihrer Aussage nach ist ein großes Problem der Schüler, welche die Schule voraussichtlich (nur) mit einem Hauptschulabschluss verlassen, das Gefühl der Wertlosigkeit. Es ist nicht nur die Angst vor Absagen bei der Lehrstellensuche, sondern eine tiefer gehende allgemeine Resignation, die die Jugendlichen in Lethargie versetzt, die sie nahezu handlungsunfähig macht. Hier ist auch wieder ein Zusammenhang mit dem Nieren-Yang zu sehen, da die lähmende Angst, die sie wie ein Kaninchen vor der sprichwörtlichen Schlange erstarren lässt, ein typisches Symptom eines Mangels an Yang ist. Härter trifft es noch diejenigen, die aus den verschiedensten Gründen keinen Abschluss erreichen können. Sie bezeichnen sich zum Teil selbst als Sozialschmarotzer und Abfallprodukt des Bildungssystems. Leider flüchten sich manche von ihnen in Aggressionen, andere betäuben diese unangenehmen Gefühle mit Alkohol oder Drogen.

 

Die anfangs schon erwähnte Individualisierung der Gesellschaft macht viele von uns zu Einzelkämpfern. Immer weniger Menschen sind bereit, sich für die Allgemeinheit oder höhere Ziele zu engagieren. Es fehlen Ideale und Werte im Leben.

Sportvereine klagen über Übungsleitermangel, Gemeindegruppen suchen dringend Anleiter für ihre Bingopartys und die Kirchen stöhnen über die nicht enden wollenden Austrittswellen ihrer Schäfchen. Auch die alternativen Szenen haben mit dieser Symptomatik zu kämpfen. So werden in Ermangelung von Mitstreitern nur noch vereinzelt Atommülltransporte aufgehalten und die alten Genossen bekommen einen verträumten Blick, wenn sie von den Menschenmassen auf den Friedensdemonstrationen und den Ostermärschen der 80er Jahre berichten. Der Wunsch, irgendwo dazuzugehören, treibt stattdessen manche Menschen in Sekten oder extremistische Gruppen.

Letztendlich ist die grassierende Perspektivlosigkeit ein Produkt der Resignation den Lebensumständen gegenüber. Um diese Situation zu ändern, bräuchte man den Willen, selbstverantwortlich zu handeln und auch große Mühen nicht zu scheuen. Wenn man allerdings sein Leben lang von seiner direkten Umgebung die Rückmeldung erhalten hat, ein gesellschaftlicher Versager zu sein, und auch sonst keine Bestätigung erfährt, geht das an die sprichwörtlichen Nieren. Da der Wille Zhi der geistige Aspekt der Niere ist, kann eine lang anhaltende Demütigung zu einer Verunsicherung führen, die sich nachhaltig schädigend auf das Selbstwertgefühl auswirkt.

Diese Resignation und die daraus folgenden Existenzängste zerstören nicht nur das Selbstwertgefühl, sondern setzen die Menschen auch unter Stress. Dieser Stress setzt einen Kreislauf in Gang, der im folgenden Schaubild aufgeführt ist.

Zur Erklärung des Schaubildes möge folgendes Beispiel dienen:

 

Bob, ein fünfzigjähriger Mann, hat sein Leben lang in einer großen Firma gearbeitet und betrachtet seinen Status innerhalb dieser Hierarchie als Lebenswerk und Lebenssinn. Im Zuge einer personellen Umstrukturierung, einer Verjüngung des Teams und Beruhigung der Aktionäre in Zeiten wirtschaftlicher Krisen beschließt der Vorstand, eine große Anzahl an Mitarbeitern in den nächsten drei Jahren zu entlassen. Diese Nachricht trifft Bob schwer, da er weiß, dass er nicht mehr der jüngste ist und im Falle einer Kündigung seine Chancen auf dem Arbeitsmarkt sehr schlecht stehen. Die Situation setzt ihn eindeutig unter Stress, da er seinen Lebenssinn bedroht sieht. Die primäre Emotion, die diesen Stress begleitet, ist Angst, womit wir auch einen direkten Bezug zum Wasser, also der Niere herstellen können. Zunächst einmal versetzt diese Situation seiner Energie einen herben Schlag. Er fühlt sich nicht nur sehr verunsichert, sondern merkt auch, wie sein Qi und Yang verbraucht wird und er immer erschöpfter wird. Diese Form der Erschöpfung der Energien versucht der Körper zu kompensieren, um seine Existenzfähigkeit zu erhalten. Um das fehlende Qi zu ersetzen, mobilisiert der Körper Yin und Blut, aus denen die zusätzliche Energie gewonnen werden kann. Leider geht diese Art der Energiegewinnung an die sprichwörtliche Substanz, wodurch auf längere Sicht gesehen ein Yin- und Blutmangel entsteht. Bob fühlt sich nun leer und ausgebrannt, da er mit der Situation an sich nicht mehr klarkommt und sich überfordert fühlt. Ihn plagt innere Unruhe, er kann nicht mehr richtig schlafen, und seit neuestem hat er außerdem einen Tinnitus bekommen, der besonders gegen Nachmittag stärker wird und ihm ziemlich auf die Nerven geht. Das Auftreten dieser Symptome setzt Bob noch weiter unter Stress, womit er sich noch weiter in diesem Kreislauf nach unten bewegt und immer erschöpfter und antriebsloser wird, allerdings in seinem Inneren keinen Frieden findet.

 

5. Ausdrucksformen der Nierenerkrankungen

 

Im Folgenden werde ich einige Erkrankungen der westlichen Krankheitslehre erläutern und diese in einen Bezug mit dem Zang Niere setzen. Westliche Diagnosen geben dem Therapeuten der chinesischen Medizin meist leider wenig Auskunft über die Ursache einer Erkrankung, sondern stellen lediglich eine Beobachtung eines oder mehrerer Symptome unter vielen dar. Diese Symptome können durch Störungen verschiedener Zang Fu auftreten und werden meist nicht weiter differenziert. Hier ist meiner Meinung auch der Haken von Studien zur Behandlung von westlichen Diagnosen wie Impotenz mithilfe von Akupunktur. Man kann schließlich keine Leber-Qi-Stagnation wie einen Nieren-Yin-Mangel behandeln. Auch placebokontrollierte Doppelblindstudien sind insofern fragwürdig, als der Therapeut die Diagnose kennt. Außerdem sollte er oder sie über ein gewisses Maß an Erfahrung verfügen, um Nadeln richtig und wirkungsvoll zu setzen. Bei Akupunktur handelt es sich nicht um wahlloses Herumstochern im Patienten oder die Anwendung von „Kochrezepten“ für bestimmte westliche Diagnosen, sondern um eine Kunst, die für jeden Patienten eine individuelle Lösung hat. Der geübte Behandler weiß außerdem auch, wann eine Nadel richtig gesetzt wurde und wann nicht.

 

Für Therapeuten der chinesischen Medizin ist es unerlässlich, sich nicht nur auf eine vom Arzt mitgebrachte Diagnose zu verlassen, sondern sie als Teil des Patienten verstehen und weitere Diagnostik zu Rate ziehen. Erst die so gewonnenen Erkenntnisse erlauben es ihm, wirklich effektiv zu therapieren.

 

 

5.1. Burnout-Syndrom

 

Das sogenannte Burnout-Syndrom beschreibt ein in unserer Gesellschaft immer häufiger auftretendes Bild von Symptomen zunächst psychischer, im Verlauf zunehmend auch physischer Natur. Betroffen sind Menschen, die ein ungewöhnlich hohes Stresspensum haben und es nicht mehr schaffen, dieses adäquat abzubauen. Sie befinden sich ständig auf einem Anspannungslevel, auf dem die Stresshormone Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol erhöht sind. In der chinesischen Medizin würde man dieses Phänomen als permanent erhöhten Verbrauch von Jing, Yin und Blut ansehen (siehe 4.1 Stress im Alltag). Dabei ist außerdem noch zu beachten, dass Yang-Mangel-Persönlichkeiten generell seltener zum Burnout neigen, da ihnen die Energie von vorne herein fehlt, über den Punkt der totalen Erschöpfung hinaus zu arbeiten. Dazu neigen eher Yin-Mangel-Persönlichkeiten, die durch ihre Leere-Hitze zu einer Rastlosigkeit neigen, die das verbliebene Yin im wahrsten Sinne des Wortes herausbrennt.

 

Allgemein lässt sich die Erkrankung in drei Phasen einteilen (vgl. Noll/ Kirschbaum: Stresskrankheiten, S. 311):

 

Erste Phase

In dieser Phase wird die gesamte zur Verfügung stehende Energie einem oder mehreren Zielen geopfert, um diese unter allen Umständen zu erreichen. Freizeit wird abgeschafft, Ferien haben ihre Bedeutung verloren und Regeneration ist etwas, das man sich nicht mehr leisten kann. Es ist dem Betroffenen nicht möglich, sich auf ein normales Stresslevel herabsinken zu lassen.

 

Zweite Phase

Hier kommt es zu einer so genannten Entpersonalisierung und Kontaktvermeidung. Man verliert den Bezug zu seinen eigenen Gefühlen und stumpft ab. Hier besteht die erhöhte Gefahr, in eine Depression abzugleiten, wenn man zu dem Schluss kommt, dass Freude sowieso nicht von Dauer sei und „erfahrungsgemäß“ zwangsläufig in Enttäuschung umschlüge. Der typische Fall eines halbvollen Glases, das als halb leer angesehen wird.

Auch die sozialen Bindungen werden immer mehr als Last empfunden, bis sie schließlich nur noch „nervig“ sind. Telefonieren wird zu mühsam und abends Ausgehen schlichtweg zu anstrengend. Das eigene Privatleben rückt immer mehr in den Hintergrund. Was nun folgt, ist eine selbst herbeigeführte Ausgliederung der eigenen Person aus dem Leben anderer.

 

Dritte Phase

In dieser letzten Phase kommt es nun zur massiven Leistungseinschränkung und zu körperlichen Symptomen wie Infektanfälligkeit, Chronic Fatigue Syndrome (CFS), Herzrhythmusstörungen, Schwindel und Tinnitus. Erst hier erfolgt meist die Erkenntnis, dass akuter Handlungsbedarf besteht. Nun sind Yin, Yang, Qi und Blut stark geschädigt, die San Bao sind erschöpft. Der ausgebliebene Erfolg kratzt noch zusätzlich am Selbstbewusstsein des Betroffenen. Es wird meist verkannt, dass Ziele wie Reichtum, Karriere oder Macht ein reiner Selbstzweck sind und nicht wirklich erreicht werden können, da es immer noch etwas mehr gibt. Die daraus entstehende Unzufriedenheit ist Nährboden für den sich immer weiter drehenden Teufelskreis des Bedürfnisses nach „mehr“. Nach einem Projekt folgt das nächste und der ersten Million folgt die zweite. Immer weiter, bis man von seinem eigenen Körper gebremst wird.

 

5.1.1 Fallbeispiel

 

Symptomatik

 

Arne, ein fünfzigjähriger Mann, wird von seiner Frau in die Praxis gebracht. Sie sagt, er habe nicht mehr die Kraft, sich selbstständig um einen Termin zu kümmern.

Arne ist ein mittelständischer Unternehmer, dessen Geschäft vor kurzem Insolvenz anmelden musste. Dem ging eine jahrelange Auseinandersetzung mit Krankenkassen und dem Finanzamt voraus, welche letztendlich die Insolvenz erzwungen haben.

Vor zwei Jahren begann Arne einen Reizmagen zu entwickeln, welcher zusätzlich mit einem zunächst leichten Durchfall einherging. Zudem waren Schmerzen und Spannungsgefühle im Hypochondrium sehr häufig. Auch ein ständiger Spannungskopfschmerz war vorhanden, den er aber mit vielen Aspirintabletten bekämpfte. Der Zustand verschlechterte sich jedes Mal, wenn er sich zusätzlich aufregte. Und das tat er immer häufiger. Nach einiger Zeit kam noch ein Tinnitus hinzu, der plötzlich und heftig in Stresssituationen auftrat. Zu diesem Zeitpunkt glaubte Arne noch, seine Firma retten zu können, und investierte immer mehr Arbeit hinein. Er selbst war schließlich seine günstigste Arbeitskraft und außerdem der einzige, der einen kompletten Überblick über die Situation hatte.

Vor einiger Zeit begannen Hitzewallungen, welche von Nachtschweiß begleitet wurden. Der Tinnitus war nun nicht mehr stressabhängig, sondern permanent und leise im Hintergrund. Außerdem begann er körperlich immer schwächer zu werden.

Als seine Firma geschlossen wurde, kam der totale Zusammenbruch. Alles war von nun an zu schwer. Er leidet unter Schwindelattacken und einem unerträglich quälenden Hitzegefühl an Händen, Füßen und im Thorax, das zum Abend hin immer schlimmer wird und ihn am Schlafen hindert.

 

Puls: schnell, dünn und saitenförmig, besonders auch an den Chi-Taststellen oberflächlich

Zunge: roter, trockener Zungenkörper, kein Belag, geschwollene Zungenränder.

 

Analyse

 

Die lange Zeit der Unsicherheit und des permanenten Stresses haben bei Arne das Leber-Qi stagnieren lassen. Neben der Symptomatik wie Spannungsgefühle im Hypochondrium, Reizbarkeit, Spannungskopfschmerz und Zustandsverschlechterung bei Stress, gibt auch sein allgemeines Verhalten Aufschluss über den Zustand seines Leber-Qi. Der plötzliche Tinnitus ist ein Ausdruck von aufsteigendem Leber-Yang, das durch das stagnierte Leber-Qi nicht mehr vom Leber-Yin gehalten werden kann. Außerdem hat die Leber begonnen, die Erde über den Cheng-Zyklus überzukontrollieren, was an dem Reizmagen und Durchfall zu beobachten ist. Die andauernde Überarbeitung und mangelnde Regeneration schädigt das Leber- und Nieren-Yin, wodurch es zu dem permanenten Tinnitus, den Hitzewallungen und dem Nachtschweiß kommt. Auch der körperliche Abbau spricht für einen fortschreitenden Yin-Mangel, da sich die Kraft- und Kompensationsreserven langsam erschöpfen.

Sollte eine Leber-Qi-Stagnation wie in diesem Fall lange Zeit bestehen, kommt es zu einer Feuerentwicklung. Dadurch werden nun Yin, Säfte und Blut noch mehr geschädigt, was ihren Abbau nur noch mehr vorantreibt. Das ist auch an der Zunge durch den roten, trockenen Zungenkörper zu sehen. Der oberflächliche, saitenförmige Nierenpuls zeugt von einer hohen Belastung, bei der die nur noch schwache Nierenenergie nicht mehr von der Substanz gehalten werden kann. Der schnelle Puls ist ein Zeichen für die Hitze im Körper. Nach der Schließung des Betriebes gab es keinen Grund und Willen mehr, den Schein weiter aufrecht zu erhalten, und das wahre Ausmaß der Schädigung trat zutage.

 

Therapieprinzipien

 

Nieren- und Leber-Yin anreichern, Feuer kühlen

 

Punkte zur Auswahl

 

Ni 3 (Taixi) à Erde-Punkt, Yuan-Punkt; stärkt Nieren und nährt Yin

Ni 6 (Zhaohai)à nährt Yin und Säfte

Ni 7 (Fuliu) à Tonisierungspunkt; stärkt Niere

Ni 2 (Rangu)à Feuerpunkt; leitet Leere Hitze aus

Ni 10 (Yingu) à Wasserpunkt; kühlt und nährt Nieren-Yin

Bl 20 (Pishu) à Shu-Punkt; stärkt Milz und fördert Wandlung

Bl 23 (Shenshu) à Shu-Punkt; stärkt Niere

Mi 6 (Sanyinjiao) à Vereinigt die drei Yin, tonisiert Leber, Niere und Milz

Le 3 (Taichong) à Yuan-Punkt; stärkt Leber

Le 2 (Xingjian) à Feuerpunkt; leitet Leere Hitze aus

Le 8 (Ququan) à Wasserpunkt; kühlt und nährt Leber-Yin

Gb 39 (Xuanzhong) à Meer des Markes; nährt Knochen, Hirn und Jing

Bl 52 (Zhishi) à unterstützt den Willen, den momentanen Zustand zu überwinden

Ren 4 (Guanyuan) à stärkt Nieren-Yin und Jing

SJ 17 (Yifeng) à Tinnitus

 

Es ist schwer, Yin alleine mit Akupunktur aufzufüllen. Wo keine Energie mehr vorhanden ist, kann auch keine bewegt werden. Es ist sinnvoll, die Akupunktur begleitend zu einer Kräuter- oder Ernährungstherapie einzusetzen, da diese einen substantielleren Charakter haben und sich besser zum Yin Aufbau eignen. Die Akupunktur sorgt für eine optimale Aufnahme und Verarbeitung der Nahrungsmittel und leitet das Feuer ab.

Bei der Auswahl der Nahrungsmittel ist darauf zu achten, kühle und neutrale Speisen auszuwählen, die einen Bezug auf Niere und Leber haben. Auch süß neutrale Nahrungsmittel zur Unterstützung der Milz wären sinnvoll, da die Erde unbedingt in den Prozess des Aufbaus einbezogen werden muss. Kalte Lebensmittel sollten nur kurzfristig eingesetzt werden, um das Feuer zu kühlen, da ansonsten eine Schädigung der Milz riskiert wird. Ganz verzichtet werden sollte auf scharf heiße Speisen, welche die Leere Hitze nur zusätzlich anfeuern würden.

 

 

5.2. Impotenz

 

Sexualität ist in unserer Gesellschaft ein sehr wichtiges Mittel zur Kommunikation. Es ist ein Mittel, um Macht auszuüben, beherrscht zu werden oder sich in den Mittelpunkt zu stellen und Anerkennung bei anderen zu sammeln. Außerdem wird Sexualität nicht nur von kulturellen, sondern auch von religiösen und sozialen Verhältnissen geprägt, wobei diese oft eng einhergehen. So ist es beispielsweise Menschen im Mittleren Osten oder Westafrika (kultureller Aspekt), die nach dem Koran leben (religiöser Aspekt) erlaubt, Polygamie, also eine Vielehe, zu vollziehen. Dies ist ihnen allerdings nur gestattet, wenn sie in der Lage sind, für bis zu vier Ehefrauen, die jede einen eigenen Haushalt führt, finanziell zu sorgen (sozialer Aspekt). Auch war oder ist sie in einigen Ländern erlaubt, in denen durch Kriege ein „Männermangel“ herrscht. Hier spielen rein pragmatische Zwecke eine tragende Rolle. In den Gebieten, in denen die römisch-katholische Kirche lange Zeit die prägende Macht war, ist die Polygamie verboten.

Eine so gewaltige gesellschaftlich bestimmte Einwirkung auf die Sexualität des einzelnen wirkt sich besonders auf die Männer sehr verunsichernd aus. Das mag daran liegen, dass gerade bei Männern die Auswirkungen des „Nicht -könnens“ oder „Nicht-wollens“ besonders sichtbar zu Tage treten. Hinzu kommen Versagensängste, zu deren Abbau unsere Gesellschaft nicht beiträgt. Im Gegenteil, sie schafft Richtlinien, an denen sich ein Mann messen soll, um sich vor sich selbst und seiner Umwelt zu beweisen. So sammelte Zilbergeld 1994 zwölf Sexualmythen, die unsere Gesellschaft prägen (vgl. Noll/ Kirschbaum: Stresskrankheiten, S. 455).

  1. Wir sind aufgeklärte Leute und fühlen uns wohl beim Sex.
  2. Ein wirklicher Mann braucht keinen „Weiberkram“ wie Gefühle und dauernd reden.
  3. Jede Berührung ist sexuell oder sollte zu Sex führen.
  4. Männer können und wollen jederzeit.
  5. Beim Sex zeigt ein wirklicher Mann, was er kann.
  6. Beim Sex geht es um einen steifen Penis und was mit ihm gemacht wird.
  7. Sex ist gleich Geschlechtsverkehr.
  8. Ein Mann muss seine Partnerin ein Erdbeben erleben lassen.
  9. Zum guten Sex gehört ein Orgasmus.
  10. Beim Sex sollen Männer nicht auf Frauen hören.
  11. Guter Sex ist spontan, da gibt es nichts zu planen oder zu reden.
  12. Echte Männer haben keine sexuellen Probleme.

 

So ist es kaum verwunderlich, dass Sex für viele Männer zum Stress geworden ist. Leistungsdruck und die Sorge um den „guten Ruf“ tragen vielfach dazu bei, dass sich Männer an den von anderen und letztendlich auch sich selbst auferlegten Maßstäben verausgaben und schließlich impotent (lat.: nicht können) werden.

In der chinesischen Medizin ist ein Grundsatz, dass ein glückliches und erfülltes Sexualleben von vielen Faktoren abhängt wie zum Beispiel einem ausgeglichenen Zusammenspiel von allen Zang Fu. Beispielsweise bei Erektionsstörungen spielt meist die Leber die entscheidende Rolle; der Penis wird als die „Sehne“ der Leber angesehen. So zeigen sexuelle Störungen, die im Bereich des Funktionskreises Niere/Blase anzusiedeln sind, meist das Charakteristikum der Überarbeitung, auf welcher Ebene auch immer.

 

 

5.2.1 Fallbeispiel

 

Symptomatik

 

Der sechsunddreißigjährige Tim berichtet, dass es in letzter Zeit im Bett nicht mehr so klappen würde, wie er es gewohnt sei. Seine Lust habe im vergangenen halben Jahr rapide nachgelassen, was ihn und auch seine Freundin sehr stört.

Tim ist Abteilungsleiter in der Bankettabteilung eines Hotels. Seine Schichten sind nicht selten zwischen zehn und zwölf Stunden lang, er arbeitet sowohl Tag- als auch Nachtschichten, hat also keinen festen Rhythmus. Er erklärt, häufig müde und abgespannt zu sein, und dass der  Schlaf kaum ausreiche, um sich zu erholen.

Weiterhin hat er dumpfe Rückenschmerzen im Lumbalbereich, welcher sich auch immer kalt anfühlt. Auch die Knie sind immer kalt. Überhaupt sei ihm in letzter Zeit ständig kalt und nicht einmal seine wärmste Kleidung vermag das zu verhindern. Der Urin ist hell und klar und er muss häufig zur Toilette. Auch der Stuhl ist sehr weich.

Er berichtet auch, vor ca. sieben Monaten erfahren zu haben, dass das Hotel an eine große Hotelkette verkauft werden soll. Das sei zwar noch alles in der Planung, aber er geht fest davon aus, im Falle eines Verkaufs und der darauf folgenden Umstrukturierung seinen Arbeitsplatz zu verlieren.

 

Puls: leer, tief und langsam

Zunge: blasser, leicht geschwollener und feuchter Zungenkörper mit weißem Belag

 

Analyse

 

Tim muss als Abteilungsleiter des Hotels sehr viel arbeiten. Die späten und langen Schichten lassen ihn nicht genügend zur Ruhe kommen, um das notwendige Yang für den kommenden Tag zu sammeln. Dieser Zustand wurde gut kompensiert bis zu dem Zeitpunkt, als ihm mitgeteilt wurde, dass das Hotel verkauft wird. Die Angst, seinen Job zu verlieren, hat in ihm eine Perspektivlosigkeit geweckt, die zusätzlich zu einer Nierenschädigung beiträgt. Der entstandene Nieren-Yang-Mangel zeigt sich in Form einer Yin-Symptomatik wie Empfindungen von innerer Kälte, dumpfen Schmerzen im Lumbalbereich und kaltem Rücken und Knien. Knie und die Lumbalregion sind Einflussbereiche der Niere und müssen von ihrem Yang gewärmt werden. Genauso macht sich ein Nieren-Yang-Mangel durch eine innere Kälte bemerkbar, die nicht mit Kleidung zu wärmen ist. Auch der langsame Puls und der weiße Belag auf der Zunge weisen auf eine Kälte im Körper hin, wie sie bei einem Yang-Mangel typisch ist. Der klare, reichliche Urin ist ebenfalls ein Zeichen für Kälte. Die Blässe der Zunge weist auf einen Mangel an Qi und Yang hin, während Schwellung und Feuchtigkeit für eine beginnende Feuchtigkeitsproblematik sprechen. Auch eine Schwächung der Milz hat bereits begonnen, was an dem längerfristig weichen Stuhl zu sehen ist. Die Milz, welche normalerweise auch mit Nieren-Yang versorgt wird, kann nicht mehr mit der anfallenden Feuchtigkeit fertig werden und den Stuhl entsprechend formen.

Mit dem fortschreitenden Nieren-Yang-Mangel kann auch das Hauptproblem des Patienten erklärt werden. Seine Impotenz entspringt einer Lustlosigkeit, wie sie bei diesem Syndrom typisch ist. Wäre seine Freundin in der Lage, ihm im Sinne eines Vorspiels genügend Nieren-Yang zuzuführen, wäre er auch in der Lage, mit ihr zu schlafen.

 

Therapieprinzipien

 

Nieren-Yang stärken und wärmen

 

Punkte zur Auswahl

 

Ni 2 (Rangu) à Feuerpunkt; wärmt Nieren-Yang

Ni 7 (Fuliu) à Tonisierungspunkt; stärkt Niere

Ma 36 (Zusanli) à Erdepunkt; generelle Unterstützung von Qi und Yang

Bl 23 (Shenshu) à Shu-Punkt; stärkt das Nieren-Yang

Bl 52 (Zhishi) à stärkt Willen, wieder auf die Beine zu kommen

Ren 4 (Guanyuan) à tonisiert Nieren, Yuan-Qi und Jing, Lumbalgie

Ren 6 (Qihai) à Konzentration und Mobilisierung von Yang und Qi

Du 4 (Mingmen) à Mobilisiert Mingmen und schafft Bezug zum Yuan-Qi

Die Punkte können zur stärkeren Mobilisierung des Yang auch mit Moxa behandelt werden

 

Bei einer diätetischen Empfehlung sollten grundsätzlich warme Nahrungsmittel mit einem Nierenbezug den Vorzug finden. Diese stärken das Nieren-Yang und wärmen den Organismus. Außerdem sollte auch das Milz-Qi und -Yang mit der Ernährung gestärkt werden, da eine gut funktionierende Nahrungsaufnahme und Energieverarbeitung beziehungsweise -bereitstellung zur Genesung unerlässlich ist. Dazu gehören warme Speisen wie Gemüsebrühen, Huhn, Rosinen oder Walnüsse. Zu vermeiden sind sämtliche Nahrungsmittel mit kühlenden oder kalten Eigenschaften, da diese dem Körper nur noch mehr Yang nehmen. Hierzu zählen beispielsweise Rohkost, Milchprodukte, tiefgekühlte Nahrungsmittel und Zitrusfrüchte.

 

 

6. Ausblick

 

Ich habe versucht, in dieser Arbeit die Auswirkungen unseres heutigen Lebensstils auf das Zang-Fu-System unter besonderer Berücksichtigung des Zang Niere darzustellen. Die Niere stellt für uns so etwas wie unsere Akkumulatoren dar. Verbrauchen wir mehr, als wir auffüllen, werden sie schnell geleert. Die Akupunktur selbst ist eine Energie bewegende Therapie. Dort, wo Menschen zu großen Raubbau mit ihren Ressourcen betreiben, stößt auch die Akupunktur an ihre Grenzen. Wo es nur noch wenig Energie gibt, kann wenig bewegt werden. Die Akupunktur muss also in einen Zusammenhang mit den anderen Therapieformen der chinesischen Medizin eingebettet werden, um ihre vollständige Wirkung zu entfalten.

Wir befinden uns im Zeitalter des Wassermanns, das mit dem 5. Chakra charakterisiert ist. Man nennt es auch das Zeitalter der Kommunikation. Doch immer, wenn Bewegung in eine bestimmte Richtung geht, wird es auch eine Energie geben, die einen Gegenpol bildet. In Zeiten permanenter Erreichbarkeit und hohen Ansprüchen an den Einzelnen versuchen immer mehr Menschen, sich Inseln der Ruhe zu schaffen. Das Kursangebot für Yoga, Tai Chi und Qi Gong wird immer größer und findet immer regeren Zulauf. So gewinnt der Begriff der „Entschleunigung“ immer mehr an Bedeutung und zeigt den Menschen einen Weg auf, wieder zu uns selbst zu finden. Die chinesische Medizin gibt uns ein Instrument an die Hand, den Menschen auf ihrem Lebensweg zu helfen und in der hektischen Umwelt zu bestehen.

 

 

7. Literaturverzeichnis

 

Lorenzen, Udo/ Noll, Andreas: Die Wandlungsphasen der traditionellen chinesischen Medizin, Band 5, Die Wandlungsphase Wasser.          

Müller & Steinicke, München 2000

Maciocia, Giovanni: Die Grundlagen der Chinesischen Medizin.  

Verlag für ganzheitliche Medizin, Kötzting 1997

 

Noll, Andreas/ Kirschbaum, Barbara (Hrsg.): Stresskrankheiten. 

Elsevier GmbH, München 2006

 

Van Nghi, Nguyen: Hoang Ti, Nei King, So Ouenn, Bd.1  

Medizinisch Literarische Verlagsgesellschaft, Uelzen 1996

Ross, Jeremy: Akupunktur-Punktekombinationen, Der Schlüssel zum klinischen Erfolg.

2. Auflage. Medizinisch Literarische Verlagsgesellschaft, Uelzen 2000

 

Ross, Jeremy: Zang Fu, Die Organsysteme der traditionellen chinesischen Medizin.

4. Auflage. Medizinisch Literarische Verlagsgesellschaft, Uelzen 2003

 

Deadman, Peter/Al-Khafaji, Mazin/ Baker, Kevin: Großes Handbuch der Akupunktur. Das Netzwerk der Leitbahnen und Akupunkturpunkte.     

Verlag für ganzheitliche Medizin, Kötzting 2000

 

Kirschbaum, Barbara: Atlas und Lehrbuch der chinesischen Zungendiagnostik, Band 1.

2. Auflage. Verlag für ganzheitliche Medizin, Kötzting 2002

 

Kirschbaum, Barbara: Die 8 außerordentlichen Gefäße in der traditionellen chinesischen Medizin

3. Auflage. Medizinisch Literarische Verlagsgesellschaft, Uelzen 2005

 

Focks/Hillenbrand: Leitfaden Chinesische Medizin   

4. Auflage. Urban & Fischer Verlag, München/Jena 2003

 

Egidi, Günther: Sildenafil (Viagra): Risiken verharmlost 

Deutsches Ärzteblatt 97, Ausgabe 36 vom 08.09.2000, Seite A-2325 / B-1986 / C-1869

 

Statistikamt Nord, Statistik informiert… Nr. 81/2005

Statistikamt Nord, Statistik informiert… Nr. 51/2005